Iulius Africanus und die Diskrepanz des Stammbaums Jesu bei Lukas und Matthäus

Natürlich ging es beiden Evangelisten darum, Jesu Abstammung von David herauszuarbeiten. Diese war notwendig, da der Messias aus dem Hause Davids stammen sollte.

Eine apologetische Absicht bedeutet aber doch nicht zwangsläufig, dass die von ihnen niedergeschriebenen Stammbäume familienhistorisch unzutreffend, also falsch, sein müssen. (Eine Aussage kann auch wahr sein, wenn sie in apologetischer Absicht getätigt wird. Wenn z. B. ein Anwalt seinen Mandanten verteidigt und dessen Unschuld behauptet, kann der Mandant trotzdem tatsächlich unschuldig sein.)

Das soll nicht heißen, dass ich die Stammbäume für authentisch halte. Gegen ihre Authentizität sprechen aber andere Gründe. Ich will den beiden Evangelisten nicht einmal unterstellen, dass sie die beiden Stammbäume selbst erfunden oder zumindest nicht an ihre Echtheit geglaubt hätten (wenngleich beides möglich ist). Es ist nicht ungewöhnlich, dass Menschen eine möglichst lange zurückverfolgbare Ahnenreihe mit ein paar prominenten Namen darin für sich beanspruchen. Vielleicht kursierten diese Stammbäume tatsächlich in Jesu Familie (und seit Jesu öffentlichem Auftreten auch unter seinen Anhängern), weil seine Vorfahren immer schon von David abstammen wollten, und die Evangelisten haben sie nur aufgegriffen und übernommen.
 
Des Africanus Erklärung ist natürlich möglich. Ebenso aber auch, dass die konkrete Abfolge der Ahnen für die Evangelisten nur symbolisch war. Beide Erklärungen sind komplex, ohne Anhaltspunkt, welche wahrscheinlicher ist.

Davon trennen möchte ich die Frage nach der tatsächlichen Verwandtschaft: Da nach Eusebius Hegesippus davon berichtet, dass die Verwandten Jesu unter Domitian die Abstammung von David den Römern gegenüber bestätigten, halte ich es für sehr wahrscheinlich, dass Jesus einer entsprechenden Sippe angehörte. Ob die Abstammungslinie der Sippe selbst fiktional war, kann niemand beurteilen.

Auch wenn die Verwandtschaft nur behauptet war, hat Africanus etwas für sich: Man hätte einen realen undurchsichtigen Stammbaum gewählt, so dass nur ganz wenige genug Informationen besaßen, dies zu durchschauen. Das wäre in meinen Augen aber die wesentlich komplexere Erklärung, da ja noch die Evangelisten den Schwindel hätten mitmachen müssen, und ja auch keiner von Jesu Verwandten protestierte.

(Die Sippenlisten werden mehrfach in den Büchern Esra und Nehemia erwähnt.)
 
Eine apologetische Absicht bedeutet aber doch nicht zwangsläufig, dass die von ihnen niedergeschriebenen Stammbäume familienhistorisch unzutreffend, also falsch, sein müssen.
Das behauptet auch niemand.

Das soll nicht heißen, dass ich die Stammbäume für authentisch halte. Gegen ihre Authentizität sprechen aber andere Gründe.
Eben.

Vielleicht kursierten diese Stammbäume tatsächlich in Jesu Familie (und seit Jesu öffentlichem Auftreten auch unter seinen Anhängern), weil seine Vorfahren immer schon von David abstammen wollten, und die Evangelisten haben sie nur aufgegriffen und übernommen.
Eher unwahrscheinlich. Warum hat sich die Familie dann nicht auf eine halbwegs widerspruchsfreie festgelegt?
Wahrscheinlicher scheint mir, dass die Stammbäume unter den Anhängern fabriziert wurden.
 
Eher unwahrscheinlich. Warum hat sich die Familie dann nicht auf eine halbwegs widerspruchsfreie festgelegt?
Wahrscheinlicher scheint mir, dass die Stammbäume unter den Anhängern fabriziert wurden.
Möglich, aber nicht zwangsläufig.

Kennst Du eine (Groß-)Familie, in der sich alle einig sind?

Dass Stammbäume uneinheitlich sind, egal wie wichtig sie sind, kommt häufig vor. Ein Beispiel: Die Römer beanspruchten bekanntermaßen, dass ihr sagenhafter Gründer Romulus vom trojanischen Helden Aeneas abstammte. Damit endete die Einigkeit aber auch schon, trotz der Bedeutung dieser Abstammung für das Selbstverständnis des Staates, denn der Stammbaum Aeneas-Romulus wurde von verschiedenen Autoren in verschiedenen abweichenden Versionen mit abweichenden Namen überliefert. Auch hier war es also nicht möglich, sich auf einen halbwegs widerspruchsfreien Stammbaum festzulegen.

Gerade wenn man des Iulius Africanus Theorie zugrundelegt, machen zwei voneinander abweichende Familientraditionen durchaus Sinn.
 
Eher unwahrscheinlich. Warum hat sich die Familie dann nicht auf eine halbwegs widerspruchsfreie festgelegt?
Wahrscheinlicher scheint mir, dass die Stammbäume unter den Anhängern fabriziert wurden.

Letzteres ist natürlich möglich, ob auch wahrscheinlicher, ist in meinen Augen wieder Einschätzungssache.
Ich persönlich unterstelle den antiken Quellen immer ungerne, dass sie Dinge so ganz willkürlich aus der Luft gegriffen haben, wenn es sich auch anders erklären lässt. Gerade die Tatsache, dass schon in der Zeit der Evangelien-Abfassung zwei Stammbäume Jesu (bzw. Josephs) unter den Christen nebeneinander stehen gelassen wurden, macht es für mich wahrscheinlich, dass sich beide Stammbäume auf irgendwelche Familienüberlieferungen berufen konnten. Einen willkürlich produzierten Widerspruch hingegen hätte man doch eher beseitigt. Von dieser Überlegung ausgehend stelle ich mal fromm, frei und frisch eine These auf:

Africanus wusste aus Familienüberlieferungen späterer "Herrenverwandter", dass Eli mit der Mutter Josephs verheiratet gewesen ist, aber kinderlos starb. Elis Bruder namens Jakob nahm die Witwe gemäß dem Gebot der Schwagerehe zur Frau. Aus dieser Ehe nun ging Joseph als Erstgeborener hervor, der gemäß dem Gesetz "den Namen des verstorbenen Bruders weiterführen" sollte (Dtn. 25, 6), also vermutl. "Joseph ben Eli" hieß. Folglich wäre der Stammbaum, der im engeren Kreis der Joseph/Maria/Jesus-Familie tradiert wurde, der des Lukas. Falls Joseph noch jüngere Brüder hatte, hießen diese XY ben Jakob (diese hatten ja mit Eli als einem gesetzl. Vater nichts mehr zu schaffen). Aus solch einem Familienzweig kann also problemlos der Stammbaum aus Matthäus herrühren. Nun ist es so, dass Hegesippus (ganz unabhängig von irgendwelchen Stammbaum-Fragen) nach Euseb.: hist. ecc. III 11 u. 32 sowie IV 22 berichtet, dass der Herrenverwandte Symeon, der die Jerusalemer Gemeinde als Nachfolger des "Herrenbruders" Jakobus leitete, der Sohn des Klopas war (zu Klopas vgl. Joh. 19, 25), Klopas wiederum der Bruder Josephs war. Damit hätte man also einen Bruder Josephs, aus dessen engerer Familie die Überlieferung stammen kann, die bei Matthäus auftaucht.

Zu konstruiert? Kann sein. Aber möglich ist es. Ich persönlich zumindest finde es nicht unwahrscheinlicher als die Möglichkeit, dass sich zwei christliche Schreiber zwei fiktive Stammbäume aus den Fingern gesogen haben, die zwar nicht zusammen passten, die aber trotzdem von den frühen Christen in ihrer Unterschiedlichkeit und Willkürlichkeit akzeptiert wurden. Wie gesagt: Ist meiner Meinung nach eine Frage der Einschätzung.
 
Möglich, aber nicht zwangsläufig.
"Zwangsläufig" habe ich nicht geschrieben. Es geht um wahrscheinlich oder unwahrscheinlich.

Kennst Du eine (Groß-)Familie, in der sich alle einig sind?
Um eine Großfamilie geht es schon mal nicht.
Schon bei Josefs Vater gehen die Stammbäume auseinander.
Dass sich Geschwister nicht einigen können, wie eigentlich der Opa heißt, ist zumindest nicht alltäglich.


Dass Stammbäume uneinheitlich sind, egal wie wichtig sie sind, kommt häufig vor. Ein Beispiel: Die Römer beanspruchten bekanntermaßen, dass ihr sagenhafter Gründer Romulus vom trojanischen Helden Aeneas abstammte. Damit endete die Einigkeit aber auch schon, trotz der Bedeutung dieser Abstammung für das Selbstverständnis des Staates, denn der Stammbaum Aeneas-Romulus wurde von verschiedenen Autoren in verschiedenen abweichenden Versionen mit abweichenden Namen überliefert. Auch hier war es also nicht möglich, sich auf einen halbwegs widerspruchsfreien Stammbaum festzulegen.

Mein Schluss daraus:
Es ist unwahrscheinlich, dass alle Aeneas-Romulus-Stammbäume historisch korrekt sind.

Gerade wenn man des Iulius Africanus Theorie zugrundelegt, machen zwei voneinander abweichende Familientraditionen durchaus Sinn.
"Grundlegend" sind erst mal die Evangelien nach Markus und Lukas.
Die waren zuerst da, oder nicht?
Die "Iulius-Africanus-Theorie" ist ein späterer Versuch, die Widersprüche auszubügeln. Die Motivation dieses Versuchs ist wohl auch klar.
 
Gerade die Tatsache, dass schon in der Zeit der Evangelien-Abfassung zwei Stammbäume Jesu (bzw. Josephs) unter den Christen nebeneinander stehen gelassen wurden, macht es für mich wahrscheinlich, dass sich beide Stammbäume auf irgendwelche Familienüberlieferungen berufen konnten.
Wieso?

Einen willkürlich produzierten Widerspruch hingegen hätte man doch eher beseitigt.
Andersrum: Einen leicht auflösbaren Widerspruch hätte man auch leicht beseitigen können.


Zu konstruiert? Kann sein. Aber möglich ist es.
Viele abenteuerliche Konstruktion sind möglich. Deswegen sind sie noch lange nicht historisch wahrscheinlich.

Ich persönlich zumindest finde es nicht unwahrscheinlicher als die Möglichkeit, dass sich zwei christliche Schreiber zwei fiktive Stammbäume aus den Fingern gesogen haben, die zwar nicht zusammen passten, die aber trotzdem von den frühen Christen in ihrer Unterschiedlichkeit und Willkürlichkeit akzeptiert wurden.
Kann es sein, dass Du Dir frühe Christenheit ein bisschen zu einheitlich vorstellst?

Matthäus und Lukas gehen ja auch in weiteren Details auseinander.
Seit wann wohnte Josef in Nazaret?
Nach Lukas schon vor Jesu Geburt.
Nach Matthäus ist er erst später dorthin gezogen, aus Furcht vor Archelaus.
Entweder war einer von beiden schlecht informiert oder alle beide.

Über viele Geschichten kursierten bei den frühen Christen ganz unterschiedliche Versionen. Das hat man wohl nicht als großes Problem angesehen. Zumindest hat man sich nicht groß bemüht, diese Versionen auszugleichen.

Erst als die vier Evangelien kanonisch wurden, wurde das Problem akut.
 

Weil das den beiden Stammbäumen ein Existenzrecht in jenen Schriften verliehen hätte, die die Christen sehr schätzten und im Gottesdienst verlasen.

Andersrum: Einen leicht auflösbaren Widerspruch hätte man auch leicht beseitigen können.
Entschuldigung, ich hab gerad einen Knoten im Kopf: Wie meinst Du das?

Viele abenteuerliche Konstruktion sind möglich. Deswegen sind sie noch lange nicht historisch wahrscheinlich.
Soooo abenteuerlich war meine Konstruktion ja auch wieder nicht. Ich habe nur mal exemplarisch die Aussagen der Quellen für voll genommen. Ist es denn wirklich weniger abenteuerlich, sie von vornherein zu verwerfen?

Kann es sein, dass Du Dir frühe Christenheit ein bisschen zu einheitlich vorstellst?

Das kann schon sein. Aber folgender Widerspruch zw. Matth. u. Luk. erscheint mir irgendwie künstlich hergestellt zu sein:

Matthäus und Lukas gehen ja auch in weiteren Details auseinander.
Seit wann wohnte Josef in Nazaret?
Nach Lukas schon vor Jesu Geburt.
Nach Matthäus ist er erst später dorthin gezogen, aus Furcht vor Archelaus.
Entweder war einer von beiden schlecht informiert oder alle beide.

Matth. und Lukas sagen beide aus, dass Jesus in Bethlehem geboren wurde. Lukas sagt darüber hinaus, dass Joseph zuvor in Nazareth gewohnt hat (wie lange? Schon immer? Oder nur ein paar Jahre? Ist auch egal ...). Matthäus hingegen äußert sich gar nicht dazu, wo Joseph vor der Geburt Jesu gewohnt hat (meinetwegen ist er halt schlecht informiert). Wo gehen die beiden Evangelisten da in diesem Punkt auseinander?

Über viele Geschichten kursierten bei den frühen Christen ganz unterschiedliche Versionen. Das hat man wohl nicht als großes Problem angesehen. Zumindest hat man sich nicht groß bemüht, diese Versionen auszugleichen.

Erst als die vier Evangelien kanonisch wurden, wurde das Problem akut.

Das ist im Allgemeinen sicher ein Hinweis, den ich mir durch den Kopf gehen lassen werde. Da ist schon was dran, was ich so bisher tatsächlich nicht bedacht habe.
 
Wahrscheinlichkeit als Argument ist so eine Sache: Das mit dem Raum unter der Sphinx galt so lange als Quatsch, bis die Ägypter ihn medienwirksam ausgruben.

War es möglich, dass es einen solchen Raum gab?
Antwort: Ja.

War es wahrscheinlich, dass er die überlieferten Ausmaße hatte?
(Wenn ich mich korrekt erinnere, übertreibt Herodot da maßlos.)
Antwort: Sicher nicht.

Wusste man vor dem Fund, ob Herodot nur seinen Eindruck wiedergab, die Größe bewusst übertrieb, komplett auf Gewährsleute hereinfiel oder selber log?
Antwort: Nein, auch jetzt noch nicht.

War es wissenschaftlich zu sagen, einen solchen Raum gibt es nicht?
Antwort: Definitiv, war es das nicht, man hätte sagen können: Einen Raum der geschilderten Größe gab es relativ sicher nicht, ein kleinerer Raum wäre möglich, erscheint aber aus diesen und jenen Gründen unwahrscheinlich. Zur Klärung der Frage müsste man so und so vorgehen. Die Frage nach Herodots Motivation zu den fraglichen Angaben wird sich mit ziemlicher Sicherheit nicht beantworten lassen.


Das mit den Stammbäumen wird nicht zu klären sein. Theologen haben es da einfacher: die Aussage bleibt ja bestehen, egal wie jene beurteilt werden. Was kann man sagen?

Glaubte die Familie Jesu an die Abstammung von David? Das ist gut möglich, aber wir können die Frage nicht entscheiden. ('gut' schreibe ich hier wegen der großen Nachkommenschaft Davids. Ob der gelebt hat, lasse ich mal unberücksichtigt. Denn wenn er nicht gelebt hat, so haben sich dennoch spätestens nach der babylonischen Gefangenschaft Sippen auf ihn berufen.)

Spiegelte eine solch mögliche Überzeugung die Tatsachen wieder? Das kann niemand wissen. (Außer Gott natürlich...)

Glaubten die Evangelisten an die davidische Abstammung Jesu? Das ist nicht zu entscheiden. Ob wir es für wahrscheinlich oder unwahrscheinlich halten, ist eine rein subjektive Entscheidung.

Wollten sie, egal ob sie daran glaubten, oder nicht, eine theologische Aussage mit ihren Stammbäumen verbinden? Sicherlich.

Kannte man Verwandte Jesu zur Zeit der Bildung der diesbezüglichen Tradition? Nach den Quellen: ja.

Haben diese sich positiv zu der Abstammungsfrage geäußert? Nach den Quellen: ja.

Ist die These des Iulius Africanus möglich? Ja.

Ist sie wahrscheinlich? Die These ist zwar komplex, aber besser als viele andere, die versuchen die Stammbäume zu retten. Sie ist aber nicht besser als die These von der Erfindung. Wir können nicht entscheiden, welche wahr ist. (u.s.w.)

Was will ich damit sagen? Gerade bei so emotionalen Themen können wir die Wahrscheinlichkeit schlecht beurteilen. Außerdem ist die historische Wahrscheinlichkeit oft nur ein anderes Wort für subjektive Privatmeinung. Ein Mommsen setzt sich damit leider oft durch, ein Eddie Müller eher nicht.
 
Zuletzt bearbeitet:
Weil das den beiden Stammbäumen ein Existenzrecht in jenen Schriften verliehen hätte, die die Christen sehr schätzten und im Gottesdienst verlasen.

Ein "Existenzrecht"? :confused:

Jetzt muss ich nochmal fragen, wie Du Dir das frühe Christentum eigentlich vorstellst.

Angenommen, es gibt da eine Gemeinde, die den Matthäus schätzt und im Gottesdienst verliest. Meinst Du, die klopfen jede Aussage darauf ab, ob sie auch quellenmäßig einwandfrei belegt ist? Und wenn nicht, spricht man dem Satz das Existenzrecht ab und streicht ihn?


Entschuldigung, ich hab gerad einen Knoten im Kopf: Wie meinst Du das?
In der Gemeinde, in der die beiden Cousins Jakobus und Symeon wirkten, müssten doch die Verwandtschaftsverhältnisse bekannt gewesen sein. Da hätte man doch leicht die Unstimmigkeit durch einen kleinen Hinweis ("Stiefvater") beseitigen können.


Soooo abenteuerlich war meine Konstruktion ja auch wieder nicht. Ich habe nur mal exemplarisch die Aussagen der Quellen für voll genommen.
Tut mir leid, aber Du nimmst die Aussagen der Quellen ziemlich selektiv "für voll".
Deine Quelle beginnt mit folgenden Worten:
Da Matthäus1 und Lukas2 uns auf verschiedene Weise in ihren Evangelien das Geschlechtsregister [S. 38] Christi überliefert haben und da die meisten glauben, daß sich dieselben widersprechen und alle Gläubigen sich in Unkenntnis der Wahrheit abmühen, eine Erklärung der Stellen ausfindig zu machen
BKV

Demnach haben sich die angeblichen Familienüberlieferungen in der Christenheit überhaupt nicht rumgesprochen. "Alle Gläubigen" kannten den Widerspruch, niemand hatte einen Plan, wie man den wegdiskutieren könnte.
Also ein generationenlang gehütetes Familiengeheimis?
Das erst Iulius Africanus gelüftet haben soll, 100 oder 150 Jahre nach Erscheinen der Evangelien?
Mir kommt das schon ein wenig abenteuerlich vor.

Matth. und Lukas sagen beide aus, dass Jesus in Bethlehem geboren wurde. Lukas sagt darüber hinaus, dass Joseph zuvor in Nazareth gewohnt hat (wie lange? Schon immer? Oder nur ein paar Jahre? Ist auch egal ...). Matthäus hingegen äußert sich gar nicht dazu, wo Joseph vor der Geburt Jesu gewohnt hat (meinetwegen ist er halt schlecht informiert). Wo gehen die beiden Evangelisten da in diesem Punkt auseinander?
Also nochmal zum Ortswechsel:
Matthäus und Lukas sind sich nur in einem Punkt einig: Jesus ist in Nazaret aufgewachsen, wurde aber in Betlehem geboren.

Um das zu erklären, erzählen Matthäus und Lukas total verschiedene Geschichten, die in allen Punkten voneinander abweichen.

Bei Lukas wohnen Maria und Josef vor Jesu Geburt in Nazaret.

Bei Matthäus kein Wort davon. Da wohnen Maria und Josef in einem Haus, wo sie Besuch von den Weisen bekommen. (Die haben zuvor den Stern beobachtet, und zwar so an die zwei Jahre vorher. Der unbefangene Leser wird also davon ausgehen, dass Josef schon länger dort wohnte...)

Bei Lukas haben Maria und Joseph in Betlehem kein Haus. Sie finden "keinen Platz in der Herberge" und müssen irgendwo beim Vieh Unterschlupf suchen. Der Grund ihres vorübergehenden Aufenthalts ist die Volkszählung. Lukas erwähnt in diesem Zusammenhang Quirinius als Statthalter von Syrien. Demnach meint er wohl den 6/7 n. Chr. erfolgten Zensus.

Matthäus datiert die Geburt in die Lebenszeit Herodes des Großen. Also rund 10 Jahre früher.
Bei Matthäus flieht Josef unmittelbar nach dem Besuch der Weisen nach Ägypten.
Dort bleibt er bis zum Tod Herodes des Großen.
Danach hat er Angst vor Herodes' Sohn Archelaus.
Aus diesem Grund traut er sich nicht, nach Betlehem zurückzugehen.
Stattdessen weicht er nach Galiläa aus.
Dort "lässt er sich in einer Stadt namens Nazaret nieder". (Diese Formulierung hätte Matthäus nicht gewählt, wenn Josef dort sowieso schon seinen ersten Wohnsitz gehabt hätte.)

Bei Lukas gibt es keine Verfolgung durch Herodes und keine Flucht nach Ägypten.
Stattdessen ziehen Maria und Josef fröhlich nach Jerusalem (Zu Herodes' Zeiten hätte dort noch Herodes residiert... :)).
Von Jerusalem kehren sie direkt nach Nazareth zurück.
Da ist überhaupt kein Spielraum für eine Flucht nach Ägypten.

Wenn das stimmt, was Matthäus schreibt, war Lukas verdammt schlecht informiert (bzw. informiert seine Leser verdammt schlecht).
Und umgekehrt.
 
Wahrscheinlichkeit als Argument ist so eine Sache: Das mit dem Raum unter der Sphinx galt so lange als Quatsch, bis die Ägypter ihn medienwirksam ausgruben.

http://www.geschichtsforum.de/f24/raum-unter-der-sphinx-46545/#post681867

Glaubte die Familie Jesu an die Abstammung von David? Das ist gut möglich, aber wir können die Frage nicht entscheiden.
Wir können zu dieser Frage nichts sagen, weil wir keine Aussagen von Familienmitgliedern kennen.
Also eine "Möglichkeit" ohne Wert.

Glaubten die Evangelisten an die davidische Abstammung Jesu? Das ist nicht zu entscheiden.
Wieso nicht?
Bei Lukas können wir schon eine klare Aussage treffen.
Der sagt, er habe "sorgfältig nachgeforscht", um einen "sicheren Grund der Lehre" zu bieten.
Wir dürfen Lukas also unterstellen, dass er selber geglaubt hat, was er geschrieben hat.
Es gibt keinen Grund, ihm das Gegenteil zu unterstellen.

Kannte man Verwandte Jesu zur Zeit der Bildung der diesbezüglichen Tradition? Nach den Quellen: ja.
Mit "Quellen" meinst Du jetzt Iulius Africanus?
Die primären Quellen sind doch erst mal Lukas und Matthäus. Die haben nicht nur die Stammbäume geschrieben, sondern noch viel mehr. Das sollte man nicht ausblenden.

Ist sie wahrscheinlich? Die These ist zwar komplex, aber besser als viele andere, die versuchen die Stammbäume zu retten.
So hat das Iulius Africanus gesehen.
Und sogar der zeigt sich auffallend reserviert: Beweiskräftige Belege gibt es leider nicht, statt dessen haben sich irgendwelche mehr oder entfernte Verwandte die Erklärung "so gut wie möglich" und teilweise "nach dem Gedächtnis" zusammengereimt. Na ja, besser als gar nichts. Hauptsache, die Autorität der Evangelium ist gerettet:

"Da man keine bessere und verlässigere Erklärung finden kann, wollen wir uns mit der erwähnten zufriedengeben, wenn sie auch nicht mit Beweisen belegt werden kann. Auf jeden Fall sagt das Evangelium die Wahrheit.“


Was will ich damit sagen? Gerade bei so emotionalen Themen können wir die Wahrscheinlichkeit schlecht beurteilen.
Ist das Thema für Dich emotional besetzt?
Für mich eigentlich nicht.
 
@ Sphinx:
Streiche Sphinx, setze Pyramiden. Der Sinn des Beispiels bleibt derselbe. In einer bestimmten Doku wird so oft die Sphinx erwähnt, da hab' ich das wohl falsch abgespeichert. (Ja, Dokus sind so ne Sache und Zahi Hawass übertreibt auch schon mal gerne...)

@Möglichkeit ohne Wert:
Wieso? Das Gegenteil ist auch nicht besser belegt. Damit ergibt sich aber nun die Notwendigkeit einer Fallunterscheidung.

@Aussage von Verwandten:
Zitiert nach Wikipedia:
"Nach einem von Eusebius überlieferten Zitat des Hegesippus ließ Kaiser Domitian bei seiner Christenverfolgung (um 90) die noch lebenden Großneffen Jesu verhaften und verhörte sie. Dabei hätten sie die Frage nach ihrer davidischen Abstammung bejaht, vom Kaiser deshalb vermutete politische Ambitionen aber verneint und ihre bäuerliche Armut betont. Sie seien freigelassen worden und danach zu Kirchenführern aufgestiegen."
Da man Argumente ins Feld führen kann, dass sie nicht wirklich daran glaubten, oder die Überlieferung unsicher ist, bleibe ich bei der Möglichkeit.

@sorgfältige Nachforschung:
Das kann man auch als Topos verstehen. Allerdings unterstelle auch ich den Evangelisten die korrekte Darstellung ihres Glaubens. Ich kann es nur nicht wirklich nachweisen.

@ Quellen zu Verwandten:
Josephus, wenn die Stelle nur verfälscht und nicht komplett hinzugefügt wurde; NT; Eusebius/Hegesippus

@ Güte der These:
Welche These, die die Stammbäume rettet ist denn besser? Dazu, dass die Evangelisten es nicht so genau wussten und daher den Stammbaum dichterisch rekonstruierten oder sich alles nur ausdachten habe ich hier gar nicht geurteilt.

@ Emotionalität:
Ich kenne nur ganz, ganz wenige Leute, die bei biblischen Themen unbeeinflusst von Gefühlen sind. Selbst bei angesehenen Autoren mogelt sich die religiöse Grundeinstellung in die Argumentation. Dies versuche ich durch etwas mehr Skeptizismus, als ich sonst an den Tag lege, wett zu machen. Glaube ohne Gefühl geht eben nicht. Das schließt den Atheismus mit ein, denn auch er ist nur ein Glaube.

Und was die Wahrscheinlichkeit angeht: Gegenbeispiel bleibt Gegenbeispiel.

Anmerkung: Ich kann gerade nur aus dem Gedächtnis zitieren, daher auch der Lapsus mit der Sphinx.
 
Zuletzt bearbeitet:
@ Sphinx:
Streiche Sphinx, setze Pyramiden. Der Sinn des Beispiels bleibt derselbe.
:confused:
So ergibt sich doch überhaupt kein Sinn. Oder hat es jemand als "Quatsch" bezeichnet, dass es Räume unter Pyramiden geben könnte?
Was schreibt Herodot zur Größe, inwiefern hat er da "maßlos übertrieben"?
Welche Wissenschaftler haben festgestellt "Einen solchen Raum gibt es nicht"?
Machen wir doch erstmal da weiter:
http://www.geschichtsforum.de/682137-post3.html


@Möglichkeit ohne Wert:
Wieso? Das Gegenteil ist auch nicht besser belegt.
Das Gegenteil ist natürlich auch eine "Möglichkeit ohne Wert".

Damit ergibt sich aber nun die Notwendigkeit einer Fallunterscheidung.
Wenn es nur zwei Möglichkeiten ohne Wert gibt, sehe ich keine "Notwendigkeit einer Fallunterscheidung".

Das war jetzt mal rein theoretisch.
Die Hegesipp-Stelle kannte ich nicht. Wenn wir die als Beleg werten, sieht die Sache eventuell anders aus. Das ist aber wieder ein eigenes Thema:
http://www.geschichtsforum.de/f30/juden-bzw-christenverfolgung-unter-domitian-46561/#post682158

@Aussage von Verwandten:
Zitiert nach Wikipedia:
"Nach einem von Eusebius überlieferten Zitat des Hegesippus ließ Kaiser Domitian bei seiner Christenverfolgung (um 90) die noch lebenden Großneffen Jesu verhaften und verhörte sie. Dabei hätten sie die Frage nach ihrer davidischen Abstammung bejaht, vom Kaiser deshalb vermutete politische Ambitionen aber verneint und ihre bäuerliche Armut betont. Sie seien freigelassen worden und danach zu Kirchenführern aufgestiegen."
Ach so, es geht gar nicht um den Stammbaum. Nur um die davidische Abstammung. Über die habe ich bis jetzt gar nicht diskutiert.

@sorgfältige Nachforschung:
Das kann man auch als Topos verstehen. Allerdings unterstelle auch ich den Evangelisten die korrekte Darstellung ihres Glaubens. Ich kann es nur nicht wirklich nachweisen.
Dann sind wir uns ja einig.

@ Quellen zu Verwandten:
Josephus, wenn die Stelle nur verfälscht und nicht komplett hinzugefügt wurde; NT; Eusebius/Hegesippus
Meine Frage bezog sich auf Quellen zu den Stammbäumen.

Dazu, dass die Evangelisten es nicht so genau wussten und daher den Stammbaum dichterisch rekonstruierten oder sich alles nur ausdachten habe ich hier gar nicht geurteilt.
Dann haben wir aneinander vorbeigeschrieben. Ich hatte nur die Stammbäume auf dem Schirm, Du die davidische Abstammung.

@ Emotionalität:
Ich kenne nur ganz, ganz wenige Leute, die bei biblischen Themen unbeeinflusst von Gefühlen sind.
Möglich. :)
Auch wer über ein nichtbiblisches Thema diskutiert, ist selten "unbeeinflusst von Gefühlen".
Deswegen muss man aber nicht gleich eine eingeschränkte Urteilsfähigkeit unterstellen.
 
Ja, wir scheinen großenteils aneinander vorbei geschrieben zu haben.

Ich wollte niemandem unterstellen, zu emotional zu argumentieren, sondern daran erinnern, dass es gut sein kann, bei kontroversen Themen erst einmal klar zu stellen, wovon man bei aller Skepsis ausgehen kann. Ich hoffe, Du entschuldigst die unklare Äußerung.

Das Beispiel aus Ägyptenland ist in diesem Zusammenhang austauschbar, aber ich denke, auch als fiktives Beispiel zeigt es auf, was ich meine: Ein zu schnelles Abstellen von Wahrscheinlichkeiten auf die individuelle Einstellung.

Alles weitere zu dem Pyramiden/Sphinx-Beispiel im anderen Thread.
 
Das Beispiel aus Ägyptenland ist in diesem Zusammenhang austauschbar, aber ich denke, auch als fiktives Beispiel zeigt es auf, was ich meine: Ein zu schnelles Abstellen von Wahrscheinlichkeiten auf die individuelle Einstellung.

Nichts gegen fiktive Beispiele, aber gerade in diesem Fall wäre es doch gut, Beispiele aus der Realität zu nehmen.

Wir diskutieren ja über meinen Satz
"Viele abenteuerliche Konstruktion sind möglich. Deswegen sind sie noch lange nicht historisch wahrscheinlich."

Ich plädiere dafür, diejenige Hypothese als wahrscheinlich zu nehmen, die am wenigsten zusätzliche Hypothesen benötigen. (Ockhams Rasiermesser)

Dass sich Wahrscheinlichkeit zu 100% mit der Realität decken muss, habe ich bisher nicht behauptet.
 
Wir diskutieren ja über meinen Satz
"Viele abenteuerliche Konstruktion sind möglich. Deswegen sind sie noch lange nicht historisch wahrscheinlich."

Ich plädiere dafür, diejenige Hypothese als wahrscheinlich zu nehmen, die am wenigsten zusätzliche Hypothesen benötigen. (Ockhams Rasiermesser)

Ich kenne mich zugegebenermaßen nicht gut mit methodischer Quellenkritik aus. Aber kann die Anzahl der benötigten Hypothesen das entscheidende Kriterium sein?

Wenn sich die Aussagen zweier Quellen in einem bestimmten Punkt (hier also zwei unterschiedl. Stammbäume ein und derselben Person) unterscheiden, bedarf es immer nur eines einzigen Schritts anzunehmen, mindestens eine der Aussagen sei historisch falsch (oder eben beide). Das ist immer das einfachste. Einer Quellenaussage Historizität abzusprechen, ist immer nur eine einzige Hypothese, die keiner weiteren bedarf.
Ich sehe es allerdings geradezu als unsere Pflicht an, erst einmal zu überlegen, ob und wie nicht beide Aussagen einen jeweils anderen Aspekt der historischen Wirklichkeit wiedergeben können und sich als gegenseitige Ergänzung begreifen lassen. Das ist immer komplizierter und braucht mehrere Argumentationsschritte und oft auch mehrere Folgehypothesen. Am Ende kann dann zwar nicht die Gewissheit „So war es!“ stehen, aber unter Umständen das Ergebnis „So kann es gewesen sein!“, unter diesen und jenen Voraussetzungen haben beide Quellen eine historisch korrekte Aussage gemacht. Solch ein hypothetisches Ergebnis sollte m. E. unbedingt neben der Hypothese, dass die Quellen ganz einfach historisch Falsches aussagen, stehen gelassen werden.

Ich persönlich versuche generell beim Umgang mit antiken Quellen folgendes zu beherzigen: Ich versuche, den Quellenaussagen so weit und so lange historischen Glauben zu schenken, wie es sich mit anderen Quellen und der historischen Plausibilität irgendwie verträgt. Erst da, wo sich eine Quellenaussage mit dem Genannten gar nicht mehr aussöhnen lässt, lasse ich diese Quellenaussage fallen, nehme erst mal einen unbewussten Irrtum an und, wenn auch das nicht mehr hinhaut, eine bewusste Falschaussage. Ich scheue irgendwie davor zurück, Quellenaussagen zu früh der Unrichtigkeit zu bezichtigen. Denn ich denke mir immer, dass jene antiken Verfasser näher am Geschehen dran und wahrscheinlich vertrauter mit Zeit und Umständen waren, als wir es heute sind.


Ich will mich aber auch noch zu Deinem Beitrag #51 äußern:

Ein "Existenzrecht"? :confused:

Jetzt muss ich nochmal fragen, wie Du Dir das frühe Christentum eigentlich vorstellst.

Angenommen, es gibt da eine Gemeinde, die den Matthäus schätzt und im Gottesdienst verliest. Meinst Du, die klopfen jede Aussage darauf ab, ob sie auch quellenmäßig einwandfrei belegt ist? Und wenn nicht, spricht man dem Satz das Existenzrecht ab und streicht ihn?

Wie habe ich's mir denn vorzustellen?

Ich schreibe Dir, wie ich mir das frühe Christentum in der von uns diskutierten Hinsicht vorstelle, und hoffe, dass Du dann Deine Vorstellungen zum frühen Christentum formulierst.

Dass die später kanonisch gewordenen Evangelien so einen Erfolg im frühen Christentum hatten, führe ich im Wesentlichen auf ihren Inhalt zurück: das Leben und die Botschaft Jesu Christi. Daraus schließe ich, dass man sich im frühen Christentum unter anderem für das Leben Jesu und die Person durchaus stark interessierte. Daraus folgere ich, dass, wenn solch ein Interesse im frühen Christentum breitflächig bestand, sich mehr Christen auf die Suche nach Überlieferungen über Jesus machten als nur die Evangelien-Schreiber. Überlieferungen zu Jesus? An dieser Stelle arbeite ich jetzt mit einer Prämisse: Es sollten möglichst nicht irgendwelche der reinen Phantasie entsprungenen Geschichten über einen Jesus sein, sondern man suchte möglichst nach vertrauenswürdigen Überlieferungen über den Jesus, an den man glaubte. Wo bekam man vertrauenswürdige Überlieferungen zu Jesus her? Im besten Fall natürlich von den Aposteln, anderen Augenzeugen und den bekehrten Herrenverwandten oder ansonsten eben von Christen, welche diesen begegnet waren und die von den Augenzeugen und Herrenverwandten über Jesus unterrichtet worden waren. Ich denke, dass diese Prämisse eine historisch plausible ist.
Des weiteren kann ich mir die einzelnen Christengemeinden und die einzelnen Christen nicht als völlig isoliert vorstellen. Es fand ein Austausch zwischen den christlichen Gemeinden der Städte statt (schon alleine mittels Wanderprediger und umherreisenden Missionaren, mittels christlichen Händlern und Reisenden, womöglich hin und wieder auch mittels kleiner Gesandtschaften), vor allem, wo machbar, auch ein Austausch mit der Jerusalemer Gemeinde. Paulus z. B. suchte bei aller Skepsis gegen judenchristliche Gesetzlichkeits-Tendenzen den Kontakt zu den Jerusalemern. Er wird in dieser Hinsicht nicht der einzige gewesen sein. Ein Informationsaustausch unter Mitgliedern einer Interessengemeinschaften über Städte und Provinzen hinweg dürfte im Römische Reich keine Besonderheit, sondern Normalität gewesen sein.

Ich gehe also einerseits davon aus, dass bei den frühen Christen Interesse und Bedarf an vertrauenswürdigen Überlieferungen zum Leben ihres Herrn bestand, und dass andererseits, solche Überlieferungen zwischen den Gemeinden ausgetauscht und in ihnen gesammelt wurden. Die vier Evangelien sind in meinen Augen Produkte solcher Sammlungs-Aktivitäten. In diesem Sinne sprach ich übrigens auch vom „Existenzrecht“ (ist zugegebenermaßen nicht die beste Vokabel); z. B. könnte das, was im Matthäusevangelium steht, die Forschungs- und Sammlungs-Ausbeute der Gemeinde oder der Gemeinden des „Matthäus“ hinsichtlich der Jesus-Überlieferungen gewesen sein.
Ich kann mir eben hingegen schwer vorstellen, dass in den Christengemeinden eigentlich niemand am Leben Jesu interessiert war und niemand versucht hatte, an Informationen aus erster Hand zu gelangen, und man sich erst begann, für das Thema zu interessieren, als einige wenige Evangelien-Schreiber plötzlich so spannende Evangelien herausbrachten, die halt ziemlich zufällig das Leben Jesu zum Thema hatten. Könnte ich mir das vorstellen, könnte ich mir auch vorstellen, dass die Evangelisten beim Erstellen des Stammbaums Jesu einfach ihrer Phantasie folgten (hätte ja dann keinen gestört und wäre auch nicht bemerkt worden). Ich persönlich finde das aber historisch unplausibel. Ich finde es viel plausibler, dass die vier Evangelien jenen hohen Rang unter den christlichen Schriften, den sie bald innehatten, deshalb einnehmen konnten, weil diese Evangelien jene Jesus-Überlieferungen gebündelt boten, die man in den jeweiligen Gemeinden ohnehin für vertrauenswürdig hielt. Das ist imgrunde wieder Einschätzungssache: Wieviel kreativen Spielraum in Bezug auf den Inhalt ihrer Werke haben die Evangelisten angesichts der Tatsache, dass ihre Werke in so vielen Gemeinden begrüßt worden sind, gehabt?

So, das war ein Einblick in meine „Vorstellungswelt“ hierzu. Nicht aufregen, mir ist bewusst, dass meine Sichtweise nicht die richtige sein muss. Wie sieht Deine aus, Sepiola?

Tut mir leid, aber Du nimmst die Aussagen der Quellen ziemlich selektiv "für voll".
Deine Quelle beginnt mit folgenden Worten:
Da Matthäus1*und Lukas2*uns auf verschiedene Weise in ihren Evangelien das Geschlechtsregister*[S. 38]*Christi überliefert haben und da die meisten glauben, daß sich dieselben widersprechen und alle Gläubigen sich in Unkenntnis der Wahrheit abmühen, eine Erklärung der Stellen ausfindig zu machen
BKV

Demnach haben sich die angeblichen Familienüberlieferungen in der Christenheit überhaupt nicht rumgesprochen. "Alle Gläubigen" kannten den Widerspruch, niemand hatte einen Plan, wie man den wegdiskutieren könnte.
Also ein generationenlang gehütetes Familiengeheimis?
Das erst Iulius Africanus gelüftet haben soll, 100 oder 150 Jahre nach Erscheinen der Evangelien?
Mir kommt das schon ein wenig abenteuerlich vor.

So sehr ich nicht ausschließen möchte, dass ich Quellen hie und da selektiv wahrnehme: In diesem Fall habe ich es nicht getan, sondern Du liest die Quelle ganz einfach in anachronistischer Weise. Eusebius (Anfang 4. Jh.) und die meisten seiner Zeitgenossen hatten keinen Plan, wie mit den Stammbäumen umzugehen sei. Das geht aus dem Zitat hervor, ja. Es geht aus Eusebius ebenfalls klar hervor, dass bereits zur Zeit des Africanus (Anfang 3. Jh.) unter vielen Christen Konfusion im Umgang mit den beiden Stammbäumen herrschte, ja. ABER damit macht Eusebius überhaupt keine Aussage (noch nicht mal eine indirekte) über die Zeit, in der die Evangelien abgefasst wurden. Zwischen dieser Zeit und Eusebius liegen mindestens 200-250 Jahre.
Dass der Großteil der Christen zu Africanus' und Eusebius' Zeiten nicht mehr wusste, wie die Unterschiedlichkeiten der beiden Stammbäume zu erklären waren, ist überhaupt nicht verwunderlich. Denn die judenchristlichen Gemeinden und Elemente i. d. Großkirche waren längst sehr viel stärker in den Hintergrund getreten als noch vor den beiden sog. Jüdischen Kriegen. Die Herrenverwandten hatten keine hervorragenden kirchl. Positionen mehr inne; die von ihnen tradierten Familienüberlieferungen waren zur Zeit des Africanus längst kein i. d. Kirche verbreitetes Wissen mehr.
Dass nun aber zu der Zeit eines Jakobus und eines Symeons die Situation eine andere war, muss man doch zwangsläufig annehmen. Es ist nicht glaubhaft, dass solche Verwandten Jesu nicht mit ziemlicher Bestimmtheit gewusst haben sollen, wer ihr Vater, ihre Mutter, ihr Onkel, ihre Tante, ihre Großväter und Großmütter, ihre Cousins und Cousinen usw. gewesen sind. Zum Stammbaum Jesu konnten sie ganz bestimmt Auskunft geben (verlässliche Auskunft wenigstens für die paar letzten Generationen). Warum sollte dieses genealogische Wissen nicht von der ersten Herrenverwandten-Generation an andere interessierte Christen und vor allem an die nächsten Herrenverwandten-Generationen weitergegeben worden sein? Und wenn sich nun Africanus bei diesen Nachkommen erkundigte – wie er selbst angibt -, dann kann er doch eine alte authentische Überlieferung wieder hervorgekramt und der Großkirche neu zugänglich gemacht haben.
Wenn das auch alles nicht zwangsläufig so gewesen sein muss, so halte ich es angesichts der Quellenlage doch für historisch gut nachvollziehbar und generell für historisch plausibel. Zumindest komme ich auf diese Weise aus, ohne den Quellen von vorneherein vorzuwerfen, ihre Aussagen seien historisch falsch. Was wir ja nicht wissen. Man sollte m. E. beide Möglichkeiten nebeneinander stehen lassen.
 
Ich persönlich versuche generell beim Umgang mit antiken Quellen folgendes zu beherzigen: Ich versuche, den Quellenaussagen so weit und so lange historischen Glauben zu schenken, wie es sich mit anderen Quellen und der historischen Plausibilität irgendwie verträgt. Erst da, wo sich eine Quellenaussage mit dem Genannten gar nicht mehr aussöhnen lässt,

Genau das ist aber hier der Fall und es bedarf komplizierter Überlegungen mit irgendwelchen zu Adoptivvätern mutierten Onkeln, die nie über das Hypothesenstadium hinausgehen könnnen, um beide Stammbäume irgendwie notdürftig zu harmonisieren.

lasse ich diese Quellenaussage fallen, nehme erst mal einen unbewussten Irrtum an und, wenn auch das nicht mehr hinhaut, eine bewusste Falschaussage. Ich scheue irgendwie davor zurück, Quellenaussagen zu früh der Unrichtigkeit zu bezichtigen. Denn ich denke mir immer, dass jene antiken Verfasser näher am Geschehen dran und wahrscheinlich vertrauter mit Zeit und Umständen waren, als wir es heute sind.
Machst du das bei allen antiken Quellen so oder nur bei bestimmten? :devil:
Das ist eine Herangehensweise, welche die causa scribendi völlig ausblendet.



Dass die später kanonisch gewordenen Evangelien so einen Erfolg im frühen Christentum hatten, führe ich im Wesentlichen auf ihren Inhalt zurück: das Leben und die Botschaft Jesu Christi. Daraus schließe ich, dass man sich im frühen Christentum unter anderem für das Leben Jesu und die Person durchaus stark interessierte.

Ich hatte schon mehrfach darauf hingewiesen, dass die kanonischen Evangelien keine Biographien sind und auch kaum Biographisches liefern.

Daraus folgere ich, dass, wenn solch ein Interesse im frühen Christentum breitflächig bestand, sich mehr Christen auf die Suche nach Überlieferungen über Jesus machten als nur die Evangelien-Schreiber. Überlieferungen zu Jesus? An dieser Stelle arbeite ich jetzt mit einer Prämisse: Es sollten möglichst nicht irgendwelche der reinen Phantasie entsprungenen Geschichten über einen Jesus sein, sondern man suchte möglichst nach vertrauenswürdigen Überlieferungen über den Jesus, an den man glaubte.
Das ist ein ziemlich unrealistisches Szenario. Da kommt ein Mann, der sich Pavlos nennt nach Ephesos und berichtet den dort lebenden Menschen von einem Juden mit Namen Jeschua, der für sie am Kreuz gestorben ist und sie dadurch von den Sünden erlöst hat. Pavlos zieht weiter Richtung Korinth und die Gemeinde sitzt dort, Handwerker und Sklaven. Wie viele von denen haben die Gelegenheit zu googeln? Welche Literatur über Jesus steht schon in der kommunalen Bibliothek? Haben sie alle einen Bibliotheksausweis?
Ach ich vergaß, Maria lebte ja später in Ephesos. :scheinheilig:

Wo bekam man vertrauenswürdige Überlieferungen zu Jesus her? Im besten Fall natürlich von den Aposteln, anderen Augenzeugen und den bekehrten Herrenverwandten oder ansonsten eben von Christen, welche diesen begegnet waren und die von den Augenzeugen und Herrenverwandten über Jesus unterrichtet worden waren. Ich denke, dass diese Prämisse eine historisch plausible ist.
Von den "Herrenverwandten" mal abgesehen: Woher sollten "Augenzeugen" etwas von der Herkunft Jesu wissen? Und meinst du, Jesus hätte Abends mit seinen Jungs in kalten judäischen Nächten am Herdfeuer gesessen und über seine Deszendenz von David gesprochen?
Meinst du ernsthaft, dass die "Herrenverwandten" dem Matthäus und dem Lukas jeweils zwei verschiedene Stammbäume mit zudem noch unterschiedlicher Länge herunterbeteten?

Die vier Evangelien sind in meinen Augen Produkte solcher Sammlungsaktivitäten.
Vor allem aber sind die Evangelien ein Zeugnis für einen Paradigmenwechsel im jungen Christentum. Während man aus den paulinischen Briefen noch die Erwartung einer baldigen Wiederkunft des Herren lesen kann, sind die Evangelien in einer Zeit entstanden, als es darum ging, die Informationen an Menschen weiterzugeben, die keine Zeitzeugen mehr waren, weil die letzten Zeitzeugen inzwischen alt waren und langsam wegstarben.

könnte ich mir auch vorstellen, dass die Evangelisten beim Erstellen des Stammbaums Jesu einfach ihrer Phantasie folgten (hätte ja dann keinen gestört und wäre auch nicht bemerkt worden). Ich persönlich finde das aber historisch unplausibel.
Warum? Es ging darum, dem Messias, der der Überlieferung zufolge aus dem Hause David stammen sollte:
Amos 9,11 - 14: "An jenem Tag richte ich die zerfallene Hütte Davids wieder auf und bessere ihre Risse aus, ich richte ihre Trümmer auf und stelle alles wieder her wie in den Tagen der Vorzeit, 12 damit sie den Rest von Edom unterwerfen und alle Völker, über denen mein Name ausgerufen ist - Spruch des Herrn, der das alles bewirkt. [...] 14 Dann wende ich das Geschick meines Volkes Israel. Sie bauen die verwüsteten Städte wieder auf und wohnen darin; sie pflanzen Weinberge und trinken den Wein, sie legen Gärten an und essen die Früchte."
Jesaja 9, 1 - 6: "Das Volk, das im Dunkel lebt, sieht ein helles Licht; über denen, die im Land der Finsternis wohnen, strahlt ein Licht auf. [...] 5 Denn uns ist ein Kind geboren, ein Sohn ist uns geschenkt. Die Herrschaft liegt auf seiner Schulter; man nennt ihn: Wunderbarer Ratgeber, Starker Gott, Vater in Ewigkeit, Fürst des Friedens. 6 Seine Herrschaft ist groß und der Friede hat kein Ende. Auf dem Thron Davids herrscht er über sein Reich; er festigt und stützt es durch Recht und Gerechtigkeit, jetzt und für alle Zeiten."
Jesaja 11, 1 - 10: "Doch aus dem Baumstumpf Isais wächst ein Reis hervor, ein junger Trieb aus seinen Wurzeln bringt Frucht. 2 Der Geist des Herrn lässt sich nieder auf ihm: der Geist der Weisheit und der Einsicht, der Geist des Rates und der Stärke, der Geist der Erkenntnis und der Gottesfurcht. 3 [Er erfüllt ihn mit dem Geist der Gottesfurcht.] Er richtet nicht nach dem Augenschein und nicht nur nach dem Hörensagen entscheidet er, 4 sondern er richtet die Hilflosen gerecht und entscheidet für die Armen des Landes, wie es recht ist. Er schlägt den Gewalttätigen mit dem Stock seines Wortes und tötet den Schuldigen mit dem Hauch seines Mundes. 5 Gerechtigkeit ist der Gürtel um seine Hüften, Treue der Gürtel um seinen Leib. 6 Dann wohnt der Wolf beim Lamm, der Panther liegt beim Böcklein. Kalb und Löwe weiden zusammen, ein kleiner Knabe kann sie hüten. 7 Kuh und Bärin freunden sich an, ihre Jungen liegen beieinander. Der Löwe frisst Stroh wie das Rind. 8 Der Säugling spielt vor dem Schlupfloch der Natter, das Kind streckt seine Hand in die Höhle der Schlange.9 Man tut nichts Böses mehr und begeht kein Verbrechen auf meinem ganzen heiligen Berg; denn das Land ist erfüllt von der Erkenntnis des Herrn, so wie das Meer mit Wasser gefüllt ist. 10 An jenem Tag wird es der Spross aus der Wurzel Isais sein, der dasteht als Zeichen für die Nationen; die Völker suchen ihn auf; sein Wohnsitz ist prächtig."

Wenn man solche Bibelstellen vor Augen hat, die den Messias als aus dem Hause David ben Isais kommend vorhersagen, dann ist auch, vor dem Hintergrund der Legitimationsproblematik gegenüber der Synagoge, die Rolle dieser Stammbäume in den Evangelien zu erklären. Sie richten sich an Personen, die Zweifel an der Messianität haben und sagen: "Seht her, er kommt aus dem Hause Davids." Der Evangelist Markus hat das anders gelöst, er legt diese Information Johannes dem Täufer in den Mund.
Bei Johannes (7, 40 - 43) dagegen liest man:
"Einige aus dem Volk sagten, als sie diese Worte hörten: Er ist wahrhaftig der Prophet. 41 Andere sagten: Er ist der Messias. Wieder andere sagten: Kommt denn der Messias aus Galiäa? 42 Sagt nicht die Schrift: Der Messias kommt aus dem Geschlecht Davids und aus dem Dorf Betlehem, wo David lebte? 43 So entstand seinetwegen eine Spaltung in der Menge."
Interessanterweise löst Johannes dies nicht zu Gunsten einer davidischen Abstammung auf, sondern lässt den hier aufgenommenen Faden wieder Fallen ohne ihn erneut aufzunehmen.

Fassen wir zusammen: Der Messias musste nach jüdischer Vorstellung aus dem Haus Davids kommen. Die drei Synoptiker stellen auf unterschiedliche Weise diese Verbindung her, mit Aussagen, die sie dem Täufer in den Mund legen bzw. mit zwei verschieden ausgefallenen Stammbäumen, welche Jesus auf David zurückführen (oder auch nicht, weil Maria ja eben nicht aus dem Haus David stammt und Josef nicht der leibliche Vater ist). Bei Johannes finden wir nur einen Hinweis über die Spaltung ob Jesus als Galiläer denn überhaupt der Messias sein könne. Damit haben wir einen Grund für die Erstellung der Stammbäume. Es war nicht aus Neugierde geborenes Interesse, sondern Notwendigkeit sie zu erstellen.
 
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@ El Quijote:

Schön zu sehen, dass sich jemand derart gründlich mit meinem Beitrag auseinandergesetzt hat und sich nochmal alle Mühe mit mir gegeben hat (weiß ich ehrlich zu schätzen:winke:).

[...] und es bedarf komplizierter Überlegungen mit irgendwelchen zu Adoptivvätern mutierten Onkeln, die nie über das Hypothesenstadium hinausgehen könnnen, um beide Stammbäume irgendwie notdürftig zu harmonisieren.
Richtig. Die Überlegungen sind und bleiben im Hypothesenstadium, genau wie die Überlegung, dass die in den Stammbäumen genannten Menschen mit den tatsächlichen Vorfahren Jesu nichts zu tun haben könnten.

Laut Africanus stammen seine Infos zu den Stammbäumen von den Herrenverwandten. Ich nehme zum einen dem Africanus seine Quelle ab, und traue jenen Nachfahren der Jakob/Eli-Sippe zum anderen zu, dass sie genealogische Infos zu ihren Vorfahren besaßen. Du darfst anderer Meinung sein.

Machst du das bei allen antiken Quellen so oder nur bei bestimmten? :devil:
Ich versuche das durchaus nicht nur mit christlichen Quellen zu machen, wie Dir vielleicht dünkt, sondern mit allen antiken Quellen, also auch mit profanen. (Aber nachgefragt hätte ich auch:D). Vielleicht erinnerst Du Dich noch, dass ich mich z. B. mal genötigt sah, die Schilderung des Cassius Dio über die Umstände der Varusschlacht Dir gegenüber zu verteidigen. Ich argumentierte dort ganz ähnlich, indem ich annahm, dass Dios Bericht auf älteren authentischen Quellen basierte (sogar das geschilderte Wetter habe ich dem Dio gerne abgenommen).

Ich hatte schon mehrfach darauf hingewiesen, dass die kanonischen Evangelien keine Biographien sind und auch kaum Biographisches liefern.
Darauf hingewiesen hattest Du in der Tat, aber die Argumentation nicht gerade zu Ende geführt:still: - fand ich zumindest.

Das ist ein ziemlich unrealistisches Szenario. Da kommt ein Mann, der sich Pavlos nennt nach Ephesos und berichtet den dort lebenden Menschen von einem Juden mit Namen Jeschua, der für sie am Kreuz gestorben ist und sie dadurch von den Sünden erlöst hat. Pavlos zieht weiter Richtung Korinth und die Gemeinde sitzt dort, Handwerker und Sklaven. Wie viele von denen haben die Gelegenheit zu googeln? Welche Literatur über Jesus steht schon in der kommunalen Bibliothek? Haben sie alle einen Bibliotheksausweis?
Ach ich vergaß, Maria lebte ja später in Ephesos. :scheinheilig:
Die Ärmsten konnten gar nicht googeln??:cry: Kerle, was geht es uns da heute gut. Aber im Ernst, Dein Szenario ist nicht gerade realistischer. Erstens dürfte sich ab und zu z. B. auch mal ein Händler unter die Christen verirrt haben;); zweitens wird die römische Administration nicht die einzige „Institution“ gewesen sein, die Informationen von A nach B zu bringen vermochte; im Gegenteil war die Situation für einen Austausch über Städte und Provinzen hinweg generell für die Bewohner des Reiches so günstig wie kaum jemals zuvor. Denn vieles von dem, was man positive Voraussetzungen für die Verbreitung des Christentums zu nennen pflegt, begünstigte genauso die Kommunikation der verschiedenen Christen untereinander: z. B. Griechisch als 'Reichssprache', das gut ausgebaute Straßennetz und die Infrastruktur, der florierende reichsweite Handel, das relativ gefahrlose Reisen innerhalb der Reichsgrenzen usw. Ich finde den Gedanken nicht realistisch, dass ein christl. Missionar einmalig bspw. in Ephesus auftauchte und die Bekehrten in den Jahren und Jahrzehnten nach diesem Besuch so gut wie keinen Kontakt zur 'christlichen Außenwelt' gehabt haben sollen. Dafür hätten sich die Christen nach meiner Einschätzung schon arg und bereitwillig in ihren Möglichkeiten beschneiden müssen.

Wahrscheinlich gibt es mittlerweile bessere Literatur zur Frage, aber weil ich es gerade gefunden habe:
Im Kapitel „Reisen, brieflicher und literarischer Austausch“ in diesem Werk hierhttp://ia700301.us.archive.org/17/items/diemissionundaus01harnuoft/diemissionundaus01harnuoft.pdf , S. 310ff, bietet Adolf von Harnack unter anderem Listen mit Quellenbeispielen, die sowohl von einer regen reichsweiten Kommunikation der Gemeinden als auch von der reichsweiten Mobilität vieler Christen zeugen. Und in einer Fußnote ebd. schreibt Harnack etwas, das auch in unserem Zusammenhang bedacht werden sollte:
Auf einem Grabstein in Hierapolis in Phrygien rühmt sich ein Kaufmann, die Reise von Kleinasien nach Rom zweiundsiebzigmal gemacht zu haben (GIG 3920). Die Reise des Paulus von Ephesus nach Jerusalem und wieder zurück auf dem Landwege behandelt der Verfasser der Apostelgeschichte (18, 21—82) wie einen Abstecher. Die Überwindung der Entfernungen forderte nicht übermäßig viel Zeit. Man konnte in 12 Tagen von Neapel in Alexandrien, in 7 Tagen von Corinth ebendort sein. Bei günstigem Wind dauerte die Fahrt von Narbo in Südfraukreich nach Africa nur 5 Tage (Sulp. Sev., Dial. I, 8), von den Syrten nach Alexandrien 6 Tage (1. c. I, G). Die Landreise von Ephesus nach Antiochien Syr. kostete allerdings etwa einen Monat (s. Evagr., Hist. eccl. 1,8)

Meinst du ernsthaft, dass die "Herrenverwandten" dem Matthäus und dem Lukas jeweils zwei verschiedene Stammbäume mit zudem noch unterschiedlicher Länge herunterbeteten?
Meine Überlegungen dazu finden sich in Beitrag #46.

Fassen wir zusammen: Der Messias musste nach jüdischer Vorstellung aus dem Haus Davids kommen. Die drei Synoptiker stellen auf unterschiedliche Weise diese Verbindung her, mit Aussagen, die sie dem Täufer in den Mund legen bzw. mit zwei verschieden ausgefallenen Stammbäumen, welche Jesus auf David zurückführen (oder auch nicht, weil Maria ja eben nicht aus dem Haus David stammt und Josef nicht der leibliche Vater ist). Bei Johannes finden wir nur einen Hinweis über die Spaltung ob Jesus als Galiläer denn überhaupt der Messias sein könne. Damit haben wir einen Grund für die Erstellung der Stammbäume. Es war nicht aus Neugierde geborenes Interesse, sondern Notwendigkeit sie zu erstellen.
Wenn die Christen aufgrund kritischer Anfragen vonseiten der Juden endlich einen Stammbaum vorweisen wollten, der Jesus auf David zurückführt, um die 'Synagoge' von Jesus als dem 'Davidssohn' zu überzeugen (wie Du ja vermutest u. wie auch ich es nicht abwegig finde), hätte es sich da für die Christen, schon alleine aus Glaubwürdigkeitsgründen und um sich vor den Kritikern nicht lächerlich zu machen, nicht angeboten, bei den Herrenverwandten nachzufragen, anstatt sich irgendetwas halb-überzeugendes aus den Fingern zu saugen? Konnten die Christen hoffen, dass es keine kundige Juden in Palästina gab und ein bewusst erlogener Stammbaum nicht im Zweifelsfall auffliegen konnte? Wenn die Stammbäume bei Lukas und Matthäus zu dem von Dir angenommenen Zweck erstellt worden sind, ist man m. E. lieber auf Nummer-sicher gegangen und hat nach Kräften versucht, glaubwürdig erscheinende Überlieferungen zur Herkunft Jesu aufzuspüren (und zum x-ten Mal: die kann man bei den Herrenverwandten gefunden haben).
 
Laut Africanus stammen seine Infos zu den Stammbäumen von den Herrenverwandten.

Könntest du die Stelle noch mal zitieren? Ich habe da den Überblick verloren. Irgendwie ist mir etwas von hebräischen Genealogen im Ohr, die du als Herrenverwandte interpretiertest? Nicht, dass du auf deine eigene Interpretation hereinfällst.

Ich nehme zum einen dem Africanus seine Quelle ab, und traue jenen Nachfahren der Jakob/Eli-Sippe zum anderen zu, dass sie genealogische Infos zu ihren Vorfahren besaßen. Du darfst anderer Meinung sein.
Letztlich ist doch folgendes festzustellen: Iulius Africanus versucht die beiden Stammbäume, die er bei Matthäus und Lukas vorfindet zu harmonisieren. Welcher anderen Quelle bedurfte er und lässt sich noch eine dritte Quellen wirklich feststellen, also außer der Harmonisierung neue Informationen, die sich aus den kanonischen Evangelien nicht entnehmen lassen?
Zudem war Iulius Africanus zunächst ein Heide, der zum Christentum konvertiert war. Man kann daraus zwar keine Regel machen, aber Konvertiten haben häufig die Neigung besonders radikal zu sein. (Häufig ist hier als relativierendes nicht als verstärkendes Element unterstrichen.)


Die Ärmsten konnten gar nicht googeln??:cry: Kerle, was geht es uns da heute gut. Aber im Ernst, Dein Szenario ist nicht gerade realistischer. Erstens dürfte sich ab und zu z. B. auch mal ein Händler unter die Christen verirrt haben;); zweitens wird die römische Administration nicht die einzige „Institution“ gewesen sein, die Informationen von A nach B zu bringen vermochte; im Gegenteil war die Situation für einen Austausch über Städte und Provinzen hinweg generell für die Bewohner des Reiches so günstig wie kaum jemals zuvor.
Ich wollte dich vor allem darauf aufmerksam machen, dass du moderne Verhaltensweisen, die wir, die wir quasi die digitale Revolution erlebt haben und Kinder einer Informationsgesellschaft sind, die es so vor gerade Mal 30 Jahren noch gar nicht gab, nicht so mir nichts dir nichts auf die Antike übertragen kannst. Und ein Händler hat auch etwas anderes zu tun, als irgendwelchen desinteressierten "Herrenverwandten" mit der Frage nach ihrer Herkunft zu nerven.
Wie viele Leute interessieren sich für die Stammbäume ihrer Popstars oder Lieblingsschauspieler?! Allerhöchstens ein paar Nerds, die nicht mehr weit vom Star-Stalking sind. Jesu Stammmbaum war deshalb interessant, weil er relevant war für seine Legitimation. Deshalb haben Matthäus und Lukas ihn aufgeschrieben. Offenbar haben sie vom jeweils anderen nichts gewusst, denn sonst wären die Ergebnisse, was Generationenzahl und Namen angeht, nicht so unterschiedlich ausgefallen. Erst für die nachfolgenden Generationen, nämlich mit der Kanonisierung wurde das zum Problem, wenn denn jemand merkte, dass da zwei unterschiedliche Stammbäume standen.

Ich finde den Gedanken nicht realistisch, dass ein christl. Missionar einmalig bspw. in Ephesus auftauchte und die Bekehrten in den Jahren und Jahrzehnten nach diesem Besuch so gut wie keinen Kontakt zur 'christlichen Außenwelt' gehabt haben sollen.

Kontakte sind aber nicht gleichbedeutend mit der Kenntnis intimer Informationen. Und wir sehen das Problem bei Iulius Africanus ja: Er bedient sich irgendwelcher Kunstgriffe, um zwei sich widersprechende Darstellungen, die beide gleichermaßen einen Wahrheitsanspruch vertreten, zu harmonisieren.

Dass Kaufleute reisen, ist Teil ihres Berufes. Kann also nicht überraschen. Daran die Mobilität einer diversifizierten Gesellschaft zu messen, ist methodisch falsch.


Wenn die Christen aufgrund kritischer Anfragen vonseiten der Juden endlich einen Stammbaum vorweisen wollten, der Jesus auf David zurückführt, um die 'Synagoge' von Jesus als dem 'Davidssohn' zu überzeugen (wie Du ja vermutest u. wie auch ich es nicht abwegig finde), hätte es sich da für die Christen, schon alleine aus Glaubwürdigkeitsgründen und um sich vor den Kritikern nicht lächerlich zu machen, nicht angeboten, bei den Herrenverwandten nachzufragen, anstatt sich irgendetwas halb-überzeugendes aus den Fingern zu saugen? Konnten die Christen hoffen, dass es keine kundige Juden in Palästina gab und ein bewusst erlogener Stammbaum nicht im Zweifelsfall auffliegen konnte? Wenn die Stammbäume bei Lukas und Matthäus zu dem von Dir angenommenen Zweck erstellt worden sind, ist man m. E. lieber auf Nummer-sicher gegangen und hat nach Kräften versucht, glaubwürdig erscheinende Überlieferungen zur Herkunft Jesu aufzuspüren (und zum x-ten Mal: die kann man bei den Herrenverwandten gefunden haben).

Die logische Konsequenz aus diesen Überlegungen ist noch einmal mehr die Frage: Warum sind die beiden Stammbäume dann so derart unterschiedlich!?!?
 
Könntest du die Stelle noch mal zitieren? Ich habe da den Überblick verloren. Irgendwie ist mir etwas von hebräischen Genealogen im Ohr, die du als Herrenverwandte interpretiertest? Nicht, dass du auf deine eigene Interpretation hereinfällst.

Iulius Africanus: Brief an Aristides bei Euseb.: hist. ecc. I 7, 11 (übers. v. Ph. Haeuser):

[...] Dieser Bericht ist keineswegs aus der Luft gegriffen. Die leiblichen Verwandten des Erlösers haben auch noch, sei es rühmend, sei es einfach erzählend, auf jeden Fall wahrheitsgemäß, folgendes überliefert [...]


Edit: Das mit den hebräischen Genealogen war eine Stelle bei Gregorius Barhebraeus:
[...] Africanus says that according to the tradition which he received from Hebrew genealogists, Eli, Matthat and Levi were brothers, sons of Melchi, and not, as Luke says - Eli the son of Matthat, and Matthat the son of Levi.
Diese "hebräischen Genealogen" hatte ich als die Herrenverwandten interpretiert.
 
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