Teil 1:
Ich meine, es bleibt dabei: Die Gründung/Entwicklung/Programmatik/Ideologie und Praxis der NSDAP, des Nationalsozialismus bis ''Mein Kampf'' und die Herrschafts-Praxis ab 1933 waren nicht vom wilhelminischen radikalen Nationalismus her fundiert oder auch nur wesentlich angeregt worden.
Mein Widerspruch kam deutlich! und hier der Versuch einer Antwort.
Das Ausformulieren von „Mein Kampf“ als das Ergebnis der politischen Sozialisation von Hitler, so die gängige Sicht der meisten Historiker. Und umfaßt dabei die zentralen Stationen seines Lebens bis 1923.
Allerdings zentrale Konzepte der politischen Sozialisation (vgl. Wasburn u.a.) sind nicht einheitlich ausformuliert. Wie beispielsweise die Persistenz als Generationserfahrung und Offenheit der Entwicklung durch lebenszyklische Erfahrungen. Veränderung der Identität als Ergebnis neuer Rollen durch gravierende neue Anforderungen im Zuge des Lebenszyklus. Eine systematische Einordnung der politischen Sozialisation von Hitler in die gängigen Sozialisationstheorien wäre interessant, aber soll hier nicht geleistet werden
Die politische Sozialisation kann somit, folgt man beispielsweise Kershaw, als zunehmenden Prozess der Steigerung der Komplexität und der Intensität von Einstellungen bzw. Werten begriffen werden (vgl. dazu Kershaw). Im Falle von Hitler kommt die Formulierung zentraler Inhalte seiner nationalistisch, völkischen Ideologie mit dem Fertigstellung an seinen Arbeiten zum 2. Teil von „Mein Kampf“ zu einem vorläufigen Abschluss.
Dieser Prozess der politischen Sozialisation wird durch die zentralen Autoren etwas wie folgt rekonstruiert.:
„Seine ersten politischen Eindrücke erfuhr er in Linz“ Schreibt Longerich im Prolog über einen „Niemand“. (Longerich, 2017). Und verortet die politische Orientierung von Hitler entsprechend der politischen Einstellung im Vaterhaus. Und das war, wie dominant in Linz, deutschnational geprägt. Die „Linzer Tagespost“, das Sprachrohr dieser politischen Strömung, wurde von Hitler intensiv, so seine eigenen Aussagen, seit frühester Jugend intensiv gelesen. Im Linz wurde, auch begrüßt durch die Linzer Tagespost intensiv „germanisches“ bzw. völkisches“ Brauchtum gefeiert bzw. auch gefördert.
Ab ca. 1911 wurden die „Alldeutschen“ zunehmend in Linz in das deutschnationale Lager in Linz integriert und gewannen an Bedeutung, ohne allerdings durch einen radikalen Antisemitismus besonders aufzufallen.
Die Frage der Bewertung des Antisemitismus in Linz ist widersprüchlich. Für die Phase seiner Schulzeit – so Longerich - davon auszugehen, dass er bis ca. 15 Jahre keine nennenswerten antisemitischen Vorurteile hatte. Durch einen Lehrer, Poetsch, jedoch stark die Sensibilität gegenüber dem „nationalen Ehrgefühl“ der Deutschen verstärkt wurde. In diesem Sinne referiert Longerich Hitler, der schreibt, dass er in der Phase der Linzer Realschule zum fanatischen Deutschnationalen geworden sei.
Dieser These widerspricht Zentner, der mit Kubizek auf die antisemitische Haltung der Lehrerschaft hinweist und ausführt, dass Hitler „Die Fliegenden Blätter“ gelesen hat, die Antisemitismus-Publikation der Alldeutschen Vereinigung.
Es ist somit durchaus wahrscheinlich und für die damalige Zeit absolut nicht ungewöhnlich, dass Hitler bereits während der Übersiedelung nach Wien die „typischen Sichten“ bzw. die typischen Vorurteile gegenüber „Juden“ hatte, die für das deutschnationale / alldeutsche Milieu in dieser Phase in Österreich vorhanden war. (Hitler, S. 106)
In einer Reihe von Punkten erfolgte eine zusätzliche Form der Politisierung. In der Zeit des Wiener Aufenthalts wirkte Hitler vertraut mit der Arbeit des „Reichsrats“, den Hitler u.a. während eines gemeinsamen Besuchs gegenüber Kubizek zynisch kommentierte und die Distanz gegenüber dem Vielvölkerstatt und seinen demokratischen Institutionen deutlich macht. Und folgt man dem Eindruck von Kubizek, dann war Hitler ein regelmäßiger Gast dort gewesen. (Jones S. 79ff).
Beispielsweise Longerich folgend: Das führt uns zur Frage, welche politischen Ansichten Hitler wohl in Wien vertrat. Und Longerich bezieht sich auf „Mein Kampf“, in dem Hitler sich als Anhänger Schönerers und den Alldeutschen beschreibt. Longerich hält sich Aussage für glaubwürdig, da sie die konsequente und radikalisierte politische Entwicklung aus dem Linzer deutschnationalen Milieu bedeutet. Ähnlich bei Kershaw, Hamann, Pölking oder Ulrich .
Und damit steht Georg von Schönerer, Vorsitzender der Alldeutschen im Reichsrat, im Zentrum des weiteren Interesses und Jones formuliert: „from whom Hitler was to learn many lessons“ (Jones, S. 86), und sieht ähnlich wie andere Autoren einen direkten Beeinflussungsprozess auf Hitler.
In der Wiener Zeit lernte er den Wiener Bürgermeister Dr. Karl Lueger kennen, der durch Schönerer in seinem Antisemtismus beeinflußt worden ist. Und er schätzte ihn sehr hoch als „den gewaltigsten deutschen Bürgermeister aller Zeiten.“ (Hitler, S. 59). Und diese beiden Politiker aus seiner Wiener Phase benennt Hitler explizit als seine „Wiener Lehrmeister“ (Zentner, S. 187) Das betrifft zum einen ideologische Positionen, rhetorische Ansprache und Argumentation, aber auch Formen der symbolischen Politik wie der „Heil-Gruß“, den „Führerkult“ oder das Hakenkreuz (Guido v. List und seine „Armanenschaft“) etc.
Gleichzeitig, so Zentner, griff Hitler vermehrt zum „Deutschen Volksblatt“, das sich durch einen scharfen antisemitischen Kurs auszeichnete (Kehrsaw, S. 62/63) und so Stufen einer latent wirkenden Autoradikalisierung markieren. „Adolf ….developed during this period an ever-growing sense of rebellion“ (Jones, S. 92) und dozierte gegenüber Kubizek aus einer stark germanophilen, nationalistischen Sicht über die Rettung der Deutschen in Österreich.
Es wird bereits während der Zeit in Wien der enorme und weit gespannten Bücherkonsum von Hitler betont. U.a. hatte er ein starkes Interesse an der nordischen Götterwelt und deren Sagen. Ähnlich hatte Hitler bis in die Zeit der Reichskanzlei regelmäßig Karl May gelesen. Das ist m.E. insofern bedeutsam als die Heroisierung, Verrat und Hinterlist, Freund- und Feindbilder auch literarisch angelegt waren und seine Wertvorstellungen mit geprägt haben.
Vor diesem Hintergrund kann man m.E. noch besser verstehen, wie stark der von Hindenburg und Ludendorff Mythos bzw. die politische Lüge des „Dolchstoßes“ ihn zusätzlich den Sozialdemokraten bzw. den „Marxisten“ entfremdet hatte, da sie im Kern seine „heroischen“ Vorstellungen zu verletzen schienen. Unabhängig davon, dass das eigene Opfer der Soldatenzeit durch die Niederlage sinnlos geworden war.
Zentner weist zudem darauf hin, (Zentner, FN 39, S. 187), dass Hitler eine Vielzahl an Broschüren gelesen hatte, u.a. mit hoher Wahrscheinlichkeit die Hefte von Lanz v. Liebenfels. In den Heften beschäftigt sich Liebenfels mit der „blau-blonden Rasse“, die arische Rasse, die der „Götter Meisterwerk“ sein sollen. Dieser Rasse ist die „Dunkelrasse“ kontrastiert, die das Werk der arischen Rasse destruieren will. In diesem Sinne fordert v. Liebenfels: „Blonde rüstet zur Wiedereroberung der Welt! (zitiert in Zentner, S. 187).
Es wird dabei vielfach betont, dass Hitler sich einen sehr selektiven Lesestil angewöhnt hatte. „Wie in Wien diente Hitlers Lektüre nicht der Aufklärung oder dem Studium, sondern der Bestätigung der eigenen Vorurteile. (Kershaw, S. 69). Dieses betonen Hartmann u.a. in ihrem Kommentar zu „Mein Kampf“ ebenso (S. 20)
Dennoch ist auch einzuschränken, dass Hitler in Wien, in einer der antijüdischsten Städte Europas (Kershaw, S. 62), kein extremer Antisemit war. (Zentner, S. 46) und Kershaw schreibt, dass es keine verläßliche zeitgenössische Bestätigung für einen über das normale Maß hinausgehenden, also „paranoiden Antisemitismus“ gab (Kershaw, S. 61-65). Ähnlich Ulrich der schreibt:“by no means did he have a closed world view or strict anti-Semitic convictions…Hitler - was anything but a finished product by the end of his Vienna years.“ (Ulrich, 2. The Vienna Years)
Und Kershaw faßt m.E. die Quellenlage und einen plausiblen Narrativ dahingehend zusammen: „Gemäß dieser Argumentation hat er erst später den inneren Haß als geschlossene Weltanschauung rational, so wie er es verstand, gefaßt, die Weltanschauung, die mit dem Antisemitismus als Kern in den frühen zwanziger Jahren feste Gestalt annahm.“ (Kershaw, S. 65) „Aber es waren zusammengelesene Bruchstücke, mit denen er 1913 Wien verließ…..Erst in Deutschland ordneten sich all diese Stücke …in eine Weltanschauung ..“ (Pölking, in Anlehnung an Hamann, S. 44)
Vor diesem Hintergrund kann man den aktuellen Kenntnisstand in der Literatur – nach wie vor - noch zutreffend bereits mit Zentner festhalten: „Nichts jedoch spricht dagegen, dass sich die Grundkategorien seines Denkens während des fünfeinhalbjährigen Wien-Aufenthalts fixierten ….“ (Zentner, S. 19 und identisch Zehnpfennig, S. 31).