Kaiser WIlhelm II. - Wegbereiter des Nationalsozialismus

Teil 2: Die Bedeutung der kulturellen Werte, so Geertz: „ ideology is the justification, the apologetic one – it refers „to that part of culture which is actively concerned with the establishment and the defense of patterns of belief and value“ (S.231) Im Ergebnis bilden es die Inhalte, die kollektiv diskursiv für eine Gesellschaft oder für spezifische Milieus als wichtig definiert werden (Berger & Luckmann)

Diese Vorstellungen, daß zentrale Inhalte unseres „Glaubenssystem“ durch die Interaktion mit unseren Referenzgruppen und deren Wertvorstellungen auf ihre Plausibilitätsstruktur durch die einzelne Individuen überprüft werden (vgl. Berger & Luckmann, S. 169). Sofern zentrale Inhalte weiterhin ihre Geltung behalten oder sogar noch verstärkt werden, ist es das Ergebnis der Interaktion mit anderen und haben den Test auf ihren „Wahrheitsgehalt“ erfolgreich bestanden. Ein Prozess der eindimensional in „Echo-Chambers“ bzw Peer-Groups stattfindet. Und so übt die „Peer-Group“ über diesen permanenten Prozess der Überprüfung eine Form der sozialen Kontrolle aus. Und kann, sofern keine plurale divergierende Informationsmöglichkeit bereitgestellt wird, zur raschen Homogenisierung von „Glaubenssystemen“ führen (vgl. Beitrag bzw. Studie zum Wahlerfolg von Hitler 1933)

Problematisch ist dieser Vorgang im Rahmen der Sozialisation, sofern im Rahmen der gesellschaftlichen Differenzierung der Moderne, in diesem Fall die dramatische Restrukturierung der wilhelminischen Gesellschaft nach 1918, das Individuum mit neuen Informationen bzw. neuen Situationen konfrontiert ist. „Dadurch entstehen konfligierende Erwartungen und Rollenmuster, die von dem Individuum eine eigenständige Leistung der kritischen Beurteilung dieser widersprüchlichen Erwartungen verlangen.“ (Emcke, S. 171ff)

In der Regel wird die Beurteilung neuer Situationen auf der Basis bereits vorhandener Werte vorgenommen. Reicht das nicht aus und der „Plausibilitätscheck“ ermöglicht keine ausreichende Erklärung für ein subjektives Erklärungsmodell der Vorgänge, ergibt sich der Zwang zur Neuausrichtung der politischen Werte.

Dieser Argumentation liegt im wesentlichen das sozialpsychologische Konzept von Festinger zur „Kognitiven Dissonanz“ zugrunde. Und damit die Vorstellung, das man gezielt die Informationen sucht, die die Balance des in die „Schieflage“ geratenen Weltbildes wieder herstellt. Also versucht sein individuelles und kollektives Weltbild wieder herzustellen, das eine relativ plausible „Erklärung der Welt“ ermöglicht.

Zur Erklärung der gezielten Nutzung von Massenmedien im Kontext der Ereignisse des Zusammenbruchs des Kaiserreichs durch beispielsweise Hitler ist der „Uses and Gratification Approach“ hervorragend geeignet. (vgl. z.B. MacQuail) Im Kern besagt der Ansatz, dass User nicht wie im traditionellen „Stimulus-Response“ – Modell das Objekt von Nachrichten sind, sondern sie setzen sich gezielt bestimmten Medien aus, von denen sie ausgehen, dass sie die Art von Information geliefert bekommen, die sie erwarten.

Vor diesem Hintergrund werden Massenmedien gemieden, die ein mit der eigenen politischen Überzeugung konfligierendes Informationsangebot bereitstellen. Vielmehr werden gezielt – durch den individuellen Filter – die Informationen rezipiert, die das „Glaubenssystem“ bzw. Weltbild stabilisieren.

Angereichert wird diese Vorstellung zur Mediennutzung durch eine weitere zentrale Überlegung, die zusätzlich davon ausgeht, dass mediale Inhalte in dem Maße erfolgreich sind, sofern sie gleichzeitig auch über „Meinungsführer“ übermittelt werden. Also die Personen, denen man eine hohe Glaubwürdigkeit zuschreibt.

Ein letzter Punkt sollte noch erwähnt werden, da auch er zentral ist für die Situation nach 1918. Die Mehrheit der Medien war konservativ national ausgerichtet, manche davon mit einem mehr oder minder aggressiven Antisemitismus. Diese Situation war bereits ähnlich vor 1914 – seit ca. 1890 - vorhanden, aber akzentuierte sich während der Kriegsjahre vor allem in der Militanz. Neu war dagegen die Militanz der Schuldzuschreibung gegen die „Novemberverbrecher“ und die damit verbundene Schuldzuschreibung an die „Juden“ im Reich.

In dieser Situation konnte die konservative nationalistische Presse in der Weimarer Republik ein Agenda Setting betreiben, dass die Nachkriegsmythen teilweise als offizielle Sichtweise für das „politische Weimar“ etabliert werden konnten. Und ebenso – allerdings konfliktuell - die Schuldzuschreibung für den Zusammenbruch in Form von Feindbildern in Richtung der Sozialdemokratie und der Juden vorgenommen wurde. In diesem einseitigen Framing der veröffentlichen Meinung nach 1918 belieferten die Massenmedien ihre nationalkonservativen Zielgruppen mit den Inhalten, die erklären konnten, warum ein im „Feld unbesiegtes Heer“ dennoch geschlagen worden ist (vgl. Wehling zum Framing)

Und damit verstärkten zwei unabhängig auftretende Ereignisse sich gegenseitig. Zum einen der Zusammenbruch der wilhelminischen Gesellschaftsstruktur inklusiver sozialer Entwurzelung und Orientierungsverlust der Betroffenen und zum anderen die Fähigkeit der Massenmedien, durch gezielte nationalistische, rassistische und auch antidemokratische Informationen, die politische Sozialisation in monarchistisch geprägten, aber auch vor allem im Umkreis der neuen Rechten (Vaterlandspartei etc.) noch weiter zu radikalisieren. Sie lieferten neue Deutungsangebote, die die verloren gegangene Plausibilität wieder herstellen konnten, durch einfache populistische Antworten.

Anhand dieser Konstrukte kann man die Entwicklung von Hitler relativ gut fassen, wie beispielsweise die immer wieder kolportierte selektive Nutzung von Informationen. Es macht aber auch deutlich wie sich die Stabilität seines zunächst fragmentierten antisemitischen Weltbildes verfestigt und in München durch die entsprechende Interaktion mit militanten Antisemiten und durch das Lesen entsprechender Publikationen (z.B. von Rosenberg etc.) ein ausgearbeitestes ideologisches Weltbild im Rahmen von „Mein Kampf“ erarbeitet.

Berger, Peter L.; Luckmann, Thomas (1980): Die gesellschaftliche Konstruktion der Wirklichkeit. Eine Theorie der Wissenssoziologie. Frankfurt am Main: Fischer Taschenbuch Verlag.
Diekmann, Andreas; Weick, Stefan (Hg.) (op. 1993): Der Familienzyklus als sozialer Prozeß. Bevölkerungssoziologische Untersuchungen mit den Methoden der Ereignisanalyse. Berlin: Duncker & Humblot
Emcke, Carolin (2018): Kollektive Identitäten. Sozialphilosophische Grundlagen. Frankfurt/Main: Fischer Taschenbuch Verlag.
Geertz, Clifford (1973): The interpretation of cultures. Selected essays. New York: Basic Books.
Habermas, Jürgen (1981): Theorie des kommunikativen Handelns. Zur Kritik der funktionalistischen Vernunft. Band 2. 2 Bände. Frankfurt am Main: Suhrkamp.
Hedström, Peter; Bearman, Peter S. (Hg.) (2009): The Oxford handbook of analytical sociology. Oxford: Oxford University Press.
Ingrao, Christian (2012): Hitlers Elite. Die Wegbereiter des nationalsozialistischen Massenmords. Lizenzausg. Bonn: Bundeszentrale für Politische Bildung
Kohli, Martin (Hg.) (1978): Soziologie des Lebenslaufs. Darmstadt: Luchterhand
Mannheim, Karl (1978): Das Problem der Generationen. In: Martin Kohli (Hg.): Soziologie des Lebenslaufs. Darmstadt: Luchterhand, S. 38–53.
MacQuail, Denis (1983): Mass communication theory. London: SAGE Publ.
Mann, Michael (2004): Fascists. Cambridge: Cambridge Univ. Press.
Mead, George Herbert (2017): Geist, Identität und Gesellschaft aus der Sicht des Sozialbehaviorismus. 18. Auflage. [Berlin]: Suhrkamp
Rosengren, Karl Erik; Wenner, Lawrence A.; Palmgreen, Philip (2004): Media gratifications research. Current perspectives. Beverly Hills, Calif.: Sage Publications.
Sprenger, Matthias (2008): Landsknechte auf dem Weg ins Dritte Reich? Zu Genese und Wandel des Freikorpsmythos. Paderborn, München, Wien, Zürich: Schöningh.
Wehling, Elisabeth (2016): Politisches Framing. Wie eine Nation sich ihr Denken einredet - und daraus Politik macht. Köln: Herbert von Halem Verlag
Wildt, Michael (2003): Generation des Unbedingten. Das Führungskorps des Reichsicherheitshauptamtes. Hamburg: Hamburger Ed.
 
Hochinteressant. Die Theorie der Generationslagerung finde ich interessant. Im Prinzip können Erfahrungen unterschiedlich wirken (z. B. zum einen ähnlich denen der Mitglieder der Freikorps, auf der anderen Seite die "demokratischen" Strömungen ("Nie wieder Krieg"). Mich würde es interessieren, was die unterschiedliche Wahrnehmung verursacht. Die bereits bis dahin stattgefundene Sozialisation? Die "Peer Group"?
 
Im Thread "Radikalisierung der Rechten in der Weimarer Republik" (vgl. z.B. #15) ist das anhand der Biographien von Teilnehmern am WW1 ("Pfeffer" oder Röhm als Beispiele) oder der Nachkriegsgeneration, die nicht mehr zum Einsatz kamen, aber in den Freikorps auf den Geist des "Frontsozialismus" trafen.

http://www.geschichtsforum.de/thema/die-radikalisierung-der-rechten-in-der-weimarer-republik.52652/

Die unterschiedlichen Wahrnehmungen und die individuelle Zuordnung zu eher linken, mitte oder rechten Milieus entspringt der politischen Sozialisation vor dem Krieg.

Zusätzlich wichtig war die Frage, welche Perspektive Soldaten erwarten konnten, wenn sie nach Hause kamen und demobilisiert wurden.

Bei "Pfeffer" wird beispielsweise deutlich, dass die "modernen" jungen Offiziere nicht nur militärische Führer waren sondern gleichzeitig die Rolle von "Fürsorgern" hatten und die "einfachen" Soldaten durch den Zusammenhalt in der militärischen Formation vor dem sozialen Absturz gerettet haben.

Der Mechanismus, abgestützt auf die Kommunikation, verläuft auch in Abhängigkeit von der "Rollen-Distanz" auf der Ebene des Individuums unterschiedlich ab. Starke Personen können sich dabei in einem höheren Maße von dem Konformitätsdruck befreien wie weniger starke, und nciht selten junge Soldaten.

Aus diesen Faktoren erklärt sich multikausal die völlig unterschiedlichen Biographien. Interessant ist dabei auch die Biographie von "Hauptmann Mayr" und seine Metamorphose in das "linke Lager"

https://de.wikipedia.org/wiki/Karl_Mayr_(Politiker,_1883)

Und auch seine späten Kontakte zu Röhm sind sehr aufschlussreich im Hinblick auf die Wirkungen der "Kameradschaft des Frontsozialismus".
 
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