Ravenik;578414... schrieb:
Die Frage ist: Soll sich die heutige Literatur an den historischen Gegebenheiten orientieren oder soll die Geschichte so umgeschrieben werden, dass sie zur heutigen Literatur passt? ...?
Nur mal dazu, zu mehr habe ich hoffentlich am WE Zeit :winke:
Ich bin der Meinung, die heutige (akad.) Literatur sollte sich an historischen Gegebenheiten orientieren. Bin da wohl Purist (sonst wäre ich vielleicht auch nicht hier
)
Allerdings bin ich da auch nicht konsequent, so beuge ich mich der üblichen (auch wissenschaftlichen) Bezeichnung "Byzantinisches Reich", selbst wenn diese Bezeichnung eine spätere neuzeitliche Neuschöpfung ist.
Und ich kann dir nicht (genau) sagen, was die Historiker seit Mitte des letzten Jahrhunderts dazu immer mehr bewogen hat, "Istanbul" auch für Ereignisse seit 1453 in ihrer Literatur zu verwenden.
Du schreibst: "Osmanen selbst anscheinend noch
überwiegend Konstantinopel genannt wurde..."
Dazu hätte ich gerne Belege, denn nachdem was ich bislang las,
1. war die Namensgeschichte durchaus wechselhaft,
2. hängt es von dem Bereich ab, welcher Name häufig oder häufiger verwendet wurde (also Literatur, Numismatik, Fermane, Diplomatik, Gebrauch beim Volk, Chroniken, Liedgut, usw.),
3. gibt es bestimmt keine exakten quantitativen Untersuchungen, die belegen würden, dass
Istanbul z.B. 35% in Gesetzestexten,
Konstantinopel 23%,
Daresaadet 19%, usw. verwendet wurden, oder dass in der Numismatik 55% Konstantinopel, 24% Islambol, 18% Istanbul, usw. verwendet wurde,
4. scheint es zumindest beim Volk schon zu byzantinischer Zeit üblich geworden zu sein, Istanbul zu sagen. Interessanterweise schreibt der Weltreisende
Ibn Battuta im 14. Jh. von
Astanbul und Galata als beide Teile der Stadt, wozu ich zur Bemerkung
5. komme, denn manchmal ist mit der (parallelen) Bezeichnung von Istanbul, Stambul, Konstantinopel, etc. auch nicht immer dasselbe Stadtgebiet gemeint, so kristalisierte sich z.B. im 19. Jh. bei uns heraus, dass wir mit Stambul eher die dreieckige Altstadt meinten, siehe Karl May...
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6. wurde Istanbul 1930 nicht zuletzt deshalb auch als Name für die Stadt gewählt, weil sie die üblichste Beschreibung der Stadt geworden zu sein scheint, zumindest in der Türkei, und nun die Namen Pây-ı Taht-ı Saltanat, Beldet-üt-Tayyibe, Dergâh-ı Selâtin, Sultanşehir, Dâr-ül-İslâm, Kostantiniyye, und was es nicht noch alles gab, obsolet wurden. Übrigens schreibt im 17. Jh. der berühmte Gelehrte Evliya Çelebi davon, dass Islambol der übliche Name dieser Zeit gewesen sei, und dieses berichten auch Quellen aus den Jahrhunderten danach,
7. ist auf offiziellen Dokumenten der Stadt auch erst 450 Konstantinopel zu lesen, was zeigt, dass die Bennenung der Stadt von Byzantion zu Konstantinopel wohl ein gradueller Prozess war. Trotzdem schreiben wir über die Zeit Konstantins des Großen von Konstantinopel, und meist nicht von Nova Roma oder Byzantion
8. bezeichnend für die Uneinheitlichkeit des Verwendung des Stadtnamens ist z.B. das Dekret von Sultan Mustafa III. aus dem 18. Jh. Nachdem bereits neben Kostantiniyye Islambol auf den Münzen Anfang des 18. Jh. durch Ahmed III. (1703-1730) geprägt wurde, und diese Praxis durch Mahmud I., Osman III., eben genannter Mustafa III., Abdulhamid I., Selim III. 100 Jahre lang fortgesetzt wurde, wollte eben der Mustafa III. eine Vereinheitlichung der Münzprägestättenbezeichnung erreichen, indem er Kostantiniyye verbot und allein Islambol gelten lassen wollte:
III. Mustafa'n?n "Konstantiniye" ismi yerine "?slambol" isminin kullan?lmas? hakk?nda verilen padi?ah emri - VikiKaynak
Wenn also Kostantiniyye der weithin allgemeine
offizielle Name gewesen wäre, dann hätte es sicherlich nicht dieses Erlasses bedurft.
Nein, ich denke, es gibt bestimmt eine gewisse Gewichtung, welcher Name der Stadt zu welcher Zeit wo auftauchte, aber Einheitlichkeit gab es nicht, und damit auch kein "offiziell" allein gültiger Name (zumindest nicht auf allen Gebieten. Kann sein, dass in Gesetzen nur ein einziger Name zu einer bestimmten Zeit erschien, aber dann ein anderer Stadtname auf diplomatischen Schriftverkehr, usw.).
Was "islamgerechte Namen- bzw. Sprachengebung" in der Encyclopaedia of Islam sein soll, Dieter, erschließt sich mir nicht. Diese Enzyklopädie ist ja kein religiöses "Machwerk" von Muslimen, sondern die allermeisten Autoren sind Profs. der renommiertesten Universitäten der Welt.
Abgesehen davon ist ja auch Istanbul griechisch, so wie Izmir (Smyrna), Iznik (Nicaia), Izmit (Nicomedia), Kayseri (Cäsarea), Antakya (Antiocheia) und zahlreiche andere Städtenamen, die ihre antike griech.-röm. Herkunft kaum verleugnen (und wo übrigens die in meinen Postings genannten Autoren ähnlich verfahren, wie bei Istanbul...).