Marie Heim-Vögtlin

ursi

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"Die Frauenzimmer kommen" war der Schlachtruf an der Zürcher Hochschule, als die ersten Medizinstudentinnen im Präpariersaal der Anatomie auftauchten. Aber das Pfeifen und Johlen legte sich rasch, als die Kommilitoninnen beim Leichensezieren keineswegs in Ohnmacht fielen. Zürich ist nach Paris die zweite Hochschule in Europa, die Frauen zum regulären Studium aufnimmt. Wer war diese Frau die als erste Schweizer Ärztin in die Geschichte einging?
Maria Heim-Vögtlin wurde 1845 als Tochter eines Pfarrers in Brugg geboren, von ihrer Kindheit weiss man so gut wie nichts. In die Schlagzeilen kommt sie erst, als sich entschliesst mit 24 Jahren ein Medizinstudium aufzunehmen. 1869 schreibt sie sich an der Zürcher Hochschule ein.

Zwei Jahre lang stösst sie auf Unverständnis der eigenen Verwandtschaft sowie der breiten Öffentlichkeit, sie ist spöttischen Fragen und heimlich getuschelten Anwürfen ausgesetzt, die sie aber nur verwundern und nicht abschrecken. Die Familie schämt sich für das schwarze Schaf, der Vater der seine Einwilligung gegeben hat, zieht diese auf Druck der Verwandtschaft wieder zurück. Das stärkt aber nur den Willen von Marie Vögtlin. Den Wunsch Arzt zu werden, Ärztin gab es noch nicht im Wortschatz, kam als sie ihre Todkranke Tante pflegte und als 1867 im Zürich die Cholera ausbrach. Marie Vögtlin meldete sich zum freiwilligen Einsatz ohne an die Ansteckungsgefahr zu denken. Bei der Mithilfe in der Armenschule und im Kinderspital merkte sie, wie sehr ihr der pflegerische Einsatz lag, und das sie gerne im medizinischen Bereich Verantwortung übernehmen wollte. So bereitete sie sich heimlich auf das Medizinstudium vor, niemand durfte etwas merken. So kann man sagen, dass 1867 nicht nur das Cholerajahr in Zürich war, sondern auch der Markenstein für den Beginn des Frauenstudiums.
1869 nahm Maria Vögtlin als erste Schweizerin das Medizinstudium auf, davor gab es schon Frauen die in Zürich studieren, dies waren aber Ausländerinnen. Es gab in Zürich eine grosse Aufregung, als man erfuhr dass sich eine Schweizerin eingeschrieben hatte. Die Studentin war dem Spot und dem Hohn der Studenten ausgeliefert. Auch das stärkte die junge Frau nur noch weiter. Es war ihr bald bewusst, dass sie als Vorbild und Vorstreiterin der Frauen galt. Mit 28 schloss sie das Studium mit bestem Erfolg ab: Staatsexamen, patentierte Ärztin, aber die Möglichkeit einer öffentlichen Berufsausübung hatte sie nicht. Nach dem Staatsexamen geht sie nach Leipzig um ein Semester Gynäkologie zu studieren, dort ist sie die einzige Frau unter 3200 Studenten, sie wird wie ein Fabelwesen begafft. Die Professoren sind ihr gegenüber sehr wohlwollen eingestellt und auch die Professorenfrauen verhalten sich zuvorkommend. Hingegen kann sie den Hörsaal nur unter Schutz der Professoren betreten, da die Studenten sie Anpöbeln und manchmal doch ziemlich rüde werden. Nach einem Aufenthalt in Dresden kehrt sie in die Schweiz zurück. Hier macht sie den Doktortitel, der wie sie selber sagt nicht viel bedeutet: "es sei ein mittelalterlicher Zopf", sie weiss aber das dieser Titel ihr hilft evt. doch noch als Ärztin arbeiten zu können. 1875 heiratet sie Albert Heim, der sie an einem Uni-Ausflug kennen gelernt hat und er unterstützt seine Frau in jeder Beziehung. Ihr Plan sich als Frauenärztin in Zürich niederzulassen geht auf, sie kann eine Praxis eröffnen und nach Annoncen in den Zeitungen ist ihr Wartezimmer immer gefüllt. Ihre Patientinnen sind aus allen Schichten, wobei die Wohlhabenden überwiegen. Neben der Tätigkeit als Ärztin kümmert sie sich auch um die Ausbildung von angehenden Ärztinnen.
1901 gründet der Gemeinnützliche Frauenverein eins Schweizerische Pflegerinnenschule mit Frauenspital, Marie Heim-Vögtlin übernimmt die Leitung der Kinderabteilung. Neben der Tätigkeit als Ärztin und der Leitung in der Kinderabteilung versorgt sie noch den Haushalt, mit drei Kindern, zwei eignen und einem Pflegekind. Bis zum Winter 1913/14 ist sie rastlos tätig, dann muss sie aus Krankheitsgründen zurückstecken. über den Krieg macht sie sich ihre eigenen Gedanken, sie schreibt ihrem Sohn nach Amerika: "die Franzosen nehmen das Maul so voll, und die Deutschen sind von einer elementaren Selbstgerechtigkeit. Man kann mit keinem Lande sympathisieren."
1916 stirbt sie an Tuberkulose.
 
Sensationelle Geschichte! :yes:

Es ist ja interessant, dass es gerade die "technischen" oder medizinischen Fächer waren, die Frauen an die Universitäten zogen. Elena Cornaro, die erste promovierte Philosophin unterrrichtete etwa Mathematik an der Unversität Padua. Laura Bassi, die zweite Dottoressa bekam 1732 sogar einen Lehrstuhl für Physik an der Universität Bologna. Sophie Brahe, die Schwester von Tycho Brahe darf ebenfalls nicht unerwähnt bleiben...

Auch unter den Wegbereiterinnen der Informatik finden sich brilliante Mathematikerinnen, wie auch das Projekt Frauen in der Geschichte der Informationstechnik aufbereitet hat.

Allerdings dürfen diese bewegenden Einzelschicksale nicht darüber hinwegtäuschen, dass erst im 20. Jahrhundert Frauen allgemein an den Universitäten zugelassen wurden - auch dank dieser Vorkämpferinnen.
 
Zuletzt bearbeitet:
Schini schrieb:
Auch unter den Wegbereiterinnen der Informatik finden sich brilliante Mathematikerinnen, wie auch das Projekt Frauen in der Geschichte der Informationstechnik aufbereitet hat.

Allerdings dürfen diese bewegenden Einzelschicksale nicht darüber hinwegtäuschen, dass erst im 20. Jahrhundert Frauen allgemein an den Universitäten zugelassen wurden - auch dank dieser Vorkämpferinnen.

Ich kann leider diesen Link nicht öffnen.

Diese Einzelschicksale zeigen aber auch wie die Stellung der Frauen, gerade in der Bürgerlichen Gesellschaft war. Und man hat lange Zeit versäumt die Frauengeschichte wissenschaftlich zu untersuchen.
 
Danke für den Hinweis. Ich habe den Link repariert.

Nun - soweit ich einen Überblick über den aktuellen Forschungsstand in der Frauengeschichte habe - muss ich einen Schwenk in der Forschung weg von diesen Epigoninnen hin zu den Frauen aus den unteren Schichten feststellen. Aber Randthemen wie diese werden selten rezipiert...

Es ist schon klar, dass die o.g. Frauen nur deshalb forschen konnten und durften, weil sie die finanziellen Mittel oder die Unterstützung durch Angehörige hatten, während andere ein einfaches, oft armseliges Dasein fristeten. Das schmälert aber nicht die Leistung von Ada Lovelace, Marie Curie etc.

Was wir brauchen, ist eine allgemeinere Öffentlichkeit für Frauen-, aber auch für Geschlechtergeschichte! Schließlich ist das Thema noch lange nicht gegessen! :yes: :teach:
 
Schini schrieb:
Was wir brauchen, ist eine allgemeinere Öffentlichkeit für Frauen-, aber auch für Geschlechtergeschichte! Schließlich ist das Thema noch lange nicht gegessen! :yes: :teach:

Braucht man nicht eher eine allgemeinere Öffentlichkeit für Geschichte als solcher? Ist das nicht wie mit der berühmten Mauer in den Köpfen zwischen Ost und West? Solange jeder davon redet, sie beklagt usw., wird sie nie verschwinden.

Und solange man zwischen (Männer-)Geschichte und Frauengeschichte unterscheidet, man rückt man das Aussenseitertum der Frauen doch nur in den Vordergrund.

In der alten Physik z.B. gibt es nur recht weinge Frauen, Marie Curie oder Liese Meitner bespielsweise, aber innhaltlich spielt das keine Rolle. Ob das eine Frau oder ein Mann war, der da die entsprechenden Arbeiten gemacht hat, ist für die Wissenschaft als solche doch unerheblich. Sie wird dadurch weder ab, noch aufgewertet. Und heute ist das erst recht egal, ob ich eine Professorin oder einen Professor habe, der Lehrstoff ist der gleiche und ob ich mit einem Diplomanden oder einer Diplomandin zusammenarbeite, ist mir Jacke wie Hose.

Zur Exotin oder Außenseiterin kann man sich heute auch selbst machen...
 
Auf dem Gebiet der Literatinnen gibt es ja nicht Wenige, welche heute wieder Gegenstand des Interesses sind. Ich meine hier nicht die Schönschreiberei und Erbauungslektüre des 19.Jahrh., sondern so großartige Erscheinungen wie z.B. Wilhelmine v. Bayreuth, Victoria Gottsched, Rachel Levin, Thea Sternheim .. etc.

Gerade das von den hier genannte Geschichtsbild ist frei von machtpolitischem Ergeiz und
persönlichem Kalkül. Vielleicht daher um so treffender in der Analyse ihrer Zeit und der
darin handelnden Männer. :)
 
Deshalb habe ich auch Geschlechtergeschichte geschrieben, denn Frauengeschichte alleine kann es nun wirklich nicht bringen (abgesehen davon, dass sich die Frauengeschichtlerinnen meiner Ansicht nach ins Unendliche verzetteln). Die Männergeschichte als solche steckt ja noch in den Kinderschuhen, aber es wird wenigstens fleissig publiziert, wenn auch noch wenig rezipiert.

Angst vor Außenseitertum kann meiner Ansicht nach jedoch kein Zusammenwerfen von Frauen- und Männergeschichte rechtfertigen. Diese beide Themen sollten gleichberechtigt nebeneinander stehen.

Es stimmt schon, dass Feministinnen sich mitunter nach außen stellen, aber das Thema liegt an und für sich in der Mitte der Gesellschaft. Es kommt sehr stark darauf an, wie sich die Geschichtsschreibung positioniert. Solange es aber noch nicht selbstverständlich ist, beide Geschlechter zum Gegenstand einer Forschungsfrage zu machen, hat die Frauengeschichte die Mitte nicht erreicht, die sie obsolet macht. Das rechtfertigt durchaus laute Forderungen nach Sichtbarmachung am Rand.

Ein Beispiel: Lang und breit wurde die Frage des Lebensstandards während der Industriellen Revolution diskutiert, die meiste Zeit allerdings nur aus der Sicht des Arbeiters. Das Bild kann jedoch nicht vollständig gezeichnet werden, wenn man nicht auch die Positionen und Einkommen von Frauen und Kindern, also Familien, mit einbezieht. Seit den 90er Jahren gibt es schließlich Untersuchungen, die darauf eingehen.

Ein weiteres Argument ergibt sich aus der Beobachterposition eine Gesellschaft anhand ihrer Randgruppen zu untersuchen. Dies geht mit der Ansicht d'accord, dass eine Gesellschaft sich anhand ihres Umgangs mit Minderheiten beurteilen lassen muss. Ein Frauengeschichtlicher (ebenso wie ein Kindergeschichtlicher, Minderheitengeschichtlicher etc) Ansatz kann - immer natürlich nur wenn er gut gemacht ist - sehr viel über Gesellschaft oder Kultur aussagen.

Ein gleichberechtigter Lesetipp zum Schluß: ;)

Wofgang Schmale: Geschichte der Männlichkeit in Europa (1450-2000), Wien 2003.
(ist zwar nicht das Non-Plus-Ultra, aber ein passabler Einstieg)
 
Verstehe ich. Klar, das Bild der Geschichte kann nur vollständig sein, wenn man alle Bereiche ihrer Bedeutung nach mitberücksichtigt. Da gehört alles gleichberechtigt dazu. Aber wie Du ja selbst schreibst, eine künstliche Einteilung der Geschichte nach Geschlechtern sollte irgendwann obsolet sein.

Dein Beispiel ist gut. Wenn man es zu Ende denkt, sollte dort dann eine Betrachtung der Familiensituation während der industriellen Revolution stehen.
 
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