Mediävisten in der Nazi-Zeit

El Quijote

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Am bekanntesten für ihre pseudowissenschaftlichen Forschungen im Dienste der nationalsozialistischen Ideologie sind zwar die SS-Lagerärzte, tatsächlich dürfte aber die Geisteswissenschaft in die Ideologie am tiefsten verstrickt gewesen sein, insbesondere die Volkskunde und die archäologische Schule nach Gustaf Kossina gelten als besonders tief verstrickt, wobei sich kaum eine der Geisteswissenschaften so richtig davon freisprechen kann, völkisches Gedankengut verbreitet zu haben. Für Jungakademiker war das SS-Ahnenerbe ein attraktiver Arbeitgeber. Das Gesetz zur Wiederherstellung des Berufsbeamtentums, das natürlich Beamte aller Ausbildungsklassen betraf, nicht nur Akademiker, entfernte zudem noch einen Teil unliebsamer Konkurrenz um Stellen und schuf so für Jungakademiker, die durch dieses Gesetz nicht diskriminiert wurden, weitere offene Stellen...

Trotz alledem finden sich in dem Zeitraum 1933 - 1945 immer wieder Schriften, die bis heute ihre Gültigkeit haben und denen man nicht anmerkt, dass es sich um Schriften handelt, die aus diesem Zeitraum stammen. So gilt etwa Die Entstehung des Kreuzzugsgedankens des im Zweiten Weltkrieg an Typhus verstorbenen Historikers Carl Erdmann (1935/1955) bis heute als Standardwerk. Es ist frei von Kotaus an den Nationalsozialismus. Ein Verhalten im Übrigen, welches dazu führte, dass man diesem brillianten Historiker den akademischen Aufstieg erschwerte und ihn letztlich zum Kriegsdienst einzog.

Gestern las ich wegen des Threads http://www.geschichtsforum.de/f44/merseburger-legion-936-a-52447/ in der MGH-Ausgabe der Sachsengeschichte Widukinds. Obwohl gerade die Stelle, um die es geht, für ihre Herausgeber 1935 einen guten Anknüpfungspunkt gegeben hätte, Deutungen in den Dienst der nationalsozialistischen Ideologie zu stellen, bemerken sie zu barbari nur:
"Daß mit barbari heidnische Slaven, nicht aber die christlichen Böhmen gemeint sind, hat Köpke [...] überzeugend nachgewiesen." (Hirsch/Lohmann MGH SS 60, S. 68)
Die Merseburger "Legion" bezeichnen sie als "eigenartige Einrichtung Heinrichs" (S. 69).

Gut, zwei Stimmen sind nun alles andere als empirisches Datenmaterial.
Aber ich frage mich, ob es in der Mediävistik eine Zeit lang so etwas wie einen akademischen Freiraum gab, frei davon, sich an die Nazis, welche die Universitäten ja recht schnell gleichschalteten, anbiedern zu müssen, wo doch gerade die germanische Landnahme der VWZ und des FMA für die Nazis und ihre Ideologie so wichtige Geschichtsdaten waren und man sich sogar in Schulbüchern dahin verstieg, das Engagement des HRR in Italien oder in den Kreuzzügen als Ablenkung von der eigentlichen Aufgabe, nämlich der Gewinnung von Lebensraum im Osten und daher historischen Fehler zu deklarieren.
 
Viele namhafte Historiker stellten ihr Expertenwissen dem NS-Regime zur Verfügung, um Kriieg, Eroberung, Rassismus, Ariertum und Antisemitismus zu rechtfertigen. Die deutschen Historiker machten sich zu willfährigen und bereitwilligen Helfern deutscher Eroberungspolitik im Osten, zur „Revision von Versailles“, legitimierten den Kampf gegen den Parlamentarismus und verfassten billigende Äußerungen zum Vorgehen gegen jüdische Deutsche in der „Reichskristallnacht“. Völkische Kriterien wurden genutzt, um die "Eroberung von Lebensraum im Osten" zu rechtfertigen. Vielfach gab es einen breiten antidemokratischen Grundkonsens der Geschichtswissenschaft . Der Wunsch der Nationalsozialisten, ein einheitliches Geschichtsbild zu schaffen, wurde dennoch verfehlt.

Andererseits gab es aber auch ein Ausweichen von Historikern in unpolitische Themen oder sogar ein Verweigern des Publizierens. Forscher wie Carl Erdmann schrieben z.B. gegen die Behauptung von Karl dem Großen als "Sachsenschlächter" an, Gerhard Ritter weigerte sich, Friedrich den Großen in einer Biografie zum Vorläufer Hitlers zu erklären. Er machte ihn sogar zum Gegenentwurf der NS-Diktatur und betonte die Bedeutung des Rechtsstaats.

Im allgemeinen erwies sich die Geschichtswissenschaft jedoch als willfährige Helferin der NS-Diktatur und zeigte nur geringe Widerstandskraft.

Grundsätzlich muss man sich klar machen, dass Karriere und Fortkommen von der Willfährigkeit der Wissenschaftler abhingen, möglicherweise sogar ein Leben in Freiheit.
 
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