Das historische Urteil über Napoleon schwankte stets zwischen Monstrum und Befreier und auch heute ist eine Heroisierung ebenso fehl am Platze wie eine Verdammung. Sicher ist die europäische Dimension seiner Herrschaft, sicher ist aber auch das ungeheure Leid, das seine endlosen Kriegszüge anrichteten.
Drei Millionen Soldaten, so wird geschätzt, kamen ums Leben; Hunderttausende wurden zu Krüppeln. Mit dieser traumatischen Erfahrung einer ganzen Generation junger Männer in Europa hat sich die Geschichtsschreibung kaum beschäftigt und man sollte sie bei allen Analysen napoleonischer Herrschaft stets im Auge behalten.
Zu den leicht vergessenen Schattenseiten von Napoleons imperialen Träumen gehört ein ebenfalls wenig bekanntes Kapitel: der Raub von Kunstsammlungen und Archiven aus den Städten Europas und ihre Überführung nach Paris, das zur Kapitale der Künste und Wissenschaften ausgebaut werden sollte. Die Übergabeprotokolle und umfangreichen Verzeichnisse sind bekannt, und zeugen davon, wie systematisch hier zu Werke gegangen wurde. Das Verlangen nach Restituierung der geraubten Schätze wurde zu einem weiteren Stimulans antifranzösischer Gefühle. Die Gemäldegalerie meiner Heimatstadt, die exzellente Gemälde der Niederländischen Malerei sowie der Barockmalerei ihr eigen nannte, wurde rücksichtslos geplündert, und die Werke konnten leider nur zum Teil zurückgeführt werden.
Die Kehrseite von Napoleons imperialen Projekt war nicht nur der Krieg, sondern eine forcierte Modernisierung, die mit politischer Repression eiherging und überall in Europa den Widerstand anfachte. Faszination verwandelte sich in Abscheu und nach Waterloo waren die Völker Europas froh, den Korsen endlich losgeworden zu sein.
Und was lässt sich an Positivem sagen?
Zur Beurteilung einer Lebensleistung ist auch ihre Wirkmächtigkeit ins Kalkül zu ziehen, die Entwicklungen, die angestoßen wurden. Für Deutschland wurde der Leichnam des Heiligen Römischen Reichs mit über 300 souveränen Territorien (die Reichsritterschaften aisgenommen) beseitigt, sodass auf seinem Boden vitale staatliche Organismen entstanden, die der aufkommenden Industriellen Revolution eine wirkungsvollere Grundlage bieten konnten.
Unaufhaltsam waren auch die Ideen von Demokratie, Menschenrechten und Liberalität, die die Restauration nur zeitweilig und unvollkommen zurückdrängen konnte. Man kann also sagen, dass die Französische Revolution und die napoleonische Epoche . beides lässt sich nicht trennen - ein neues und liberaleres Zeitalter beschworen hatten, dass die Ancien Regimes des Absolutismus endgültig hinwegfegten, und Platz für den Beginn der Moderne schufen.
Die Memoiren Napoleons zeigen deutlich, dass seine Visionen in diese Richtung gingen, und ihm die Zäsur klar war, die er bewirkt hatte. Ob das allerdings die unzähligen Toten rechtfertigt, ist eine andere und eher philosophische Drage.