Es ist eine alte Weisheit, dass wer Böses will, oft Gutes schafft. Nun kann man zwar nicht behaupten, dass Napoleon Böses gewollt hat, aber immerhin ist sein Weg gesäumt von hunderttausenden von Toten und unermesslichem Leid. In seinen Memoiren hat er gesagt, dass er ein einiges (vereintes) Europa hat schaffen wollen und die unsinnigen Grenzen zwischen den Völkern hat niederreißen wollen. Da ist er also ganz "modern" und wir hören in der Ferne sogar die Europäische Unioiser des Orientsn aufziehen.
Ja, ich denke, wenn von Bonaparte die Rede ist, dann sollte man das unendliche Leid, welches er über Europa brachte in der Betrachtung seiner Person und seines Wirkens unbedingt Beachtung schenken.
Du wirst sicher zugeben, dass Bonaparte viel gesagt hat, wenn der Tag lang war.
Ich zitiere ihn einmal auf St. Helena:
"Ich
hätte besser getan, in Ägypten zu bleiben, ich
wäre zur Stunde Kaiser des ganzen Orient!"
"
Wenn ich in Ägypten geblieben wäre, so
wäre ich jetzt Kaiser des Orients.
Wäre Saint Jean d'Acre nicht gewesen, so
hätte sich die ganze Bevölkerung für mich erklärt. Ich
hätte nach Indien ziehen können."
"Nelson war ein tapferer Mann.
Wenn Villeneuve bei Abukir und Dumanoir bei Trafalgar ein wenig von seinem Blut in den Adern gehabt hätten, so
wären die Franzosen Sieger geblieben. Ich
hätte sollen Dumanoir den Kopf abschlagen sollen."
(Napoleon, Erinnerungen und Gedanken, aus dem Tagebuch von Gourgaud, Goldmann, 1961, Seite 30) Die Seite ist willkürlich gewählt!
Redet so ein Abenteurer, der seinen vergebenen Chancen nachjammert, oder der Staatsmann, der Visionen von einem geeinigten Europa hatte, wobei dann noch die Frage offen bliebe, warum er dies denn gewollt hätte.
Ist es nicht eher so, dass auf Grund solcher Aussagen, die du zitierst, ihm eine gewisse "Vision" unterstellt, ja in der Tradition seiner Legende angedichtet wird?
Zur Beurteilung einer Lebensleistung ist aber unbedingt auch ihre Wirkmächtigkeit ins Kalkül zu ziehen, die Entwicklungen, die angestoßen wurden. Für Deutschland wurde der Leichnam des Heiligen Römischen Reichs mit über 300 souveränen Territorien (die Reichsritterschaften aisgenommen) beseitigt, sodass auf seinem Boden vitale staatliche Organismen entstanden, die der aufkommenden Industriellen Revolution eine wirkungsvollere Grundlage bieten konnten.
Weiter unten sagst du, "unaufhaltsam waren auch die Ideen von Demokratie, Menschenrechten ..." Es hat also eines Bonaparte gar nicht bedurft.
Was die gar nicht so souveränen Territorien angeht, ist es glaubhaft, dass 300 Steueroasen hätten überleben können? Eher nicht. Eine wirtschaftlich tragbare Struktur hätte sich etablieren müssen. Ganz sicher aus wirtschaftlicher Notwendigkeit, vielleicht mit weniger Gewalt.
Unaufhaltsam waren auch die Ideen von Demokratie, Menschenrechten und Liberalität, die die Restauration nur zeitweilig und unvollkommen zurückdrängen konnte. Man kann also sagen, dass die Französische Revolution und die napoleonische Epoche . beides lässt sich nicht trennen - ein neues und liberaleres Zeitalter beschworen hatten, dass die Ancien Regimes des Absolutismus endgültig hinwegfegten, und Platz für den Beginn der Moderne schufen.
Allein, dass die Restauration Tatsache wurde, belegt, wie sehr die Kriege Bonapartes die Entwicklung gebremst haben. Und ich stelle vehement in Abrede, dass die Kriege Bonapartes ein "neues und liberales Zeitalter beschworen". Gerade durch Bonaparte schlossen sich die Fürsten zur Heiligen Allianz zusammen. Gerade durch das "korische Ungeheuer" war die Macht der Fürsten ungebrochen. Und so sollte man die Franz. Revolution, das Direktorium und Bonaparte schon deutlich trennen.
Die Memoiren Napoleons zeigen deutlich, dass seine Visionen in diese Richtung gingen, und ihm die Zäsur klar war, die er bewirkt hatte. Ob das allerdings die unzähligen Toten rechtfertigt, ist eine andere und eher philosophische Drage.
Bonaparte war intelligent, keine Frage. Vielleicht sind seine Memoiren deshalb so verführerisch, ihm eine Bedeutung an die Brust zu heften, die über seine genialen militärischen Fähigkeiten hinausgeht.
Grüße
excideuil