Nationalstaatsidee - Fazit

Für manche Kritiker ist die Donaumonarchie in Etappen gestorben: Königsgrätz 1866, Mayerling 1889 und 1916 der Tod von Franz Joseph sind Eckdaten. Der Ausgleich mit Ungarn 1867 erschien notwendig, doch praktizierten die Ungarn als 2. Staatsvolk eine rigorose Unterdrückungspolitik gegen Minderheiten, und vor allem die Tschechen wünschten sich mehr Autonomie.

Die Nachfolgestaaten der Donaumonarchie erwiesen sich allerdings auch nicht gerade als großer Wurf im Hinblick auf eine Befriedung Europas. Das traf vor allem auf das neuerstandene Polen zu, das als Nationalstaat mit Minderheiten vollgestopft wurde und mit fast allen Nachbarn in Grenzkonflikte geriet.
Dem Mythos der Donaumonarchie ist mit dem Tod Franz Josephs natürlich mehr gedient, als mit dem Zusammenbruch 1918, doch es war die Donaumonarchie nicht nur ein reaktionärer Völkerkerker, und es sprach Joseph Roth, Jude aus Galizien vom "Weltösterreichertum". Theodor Czokor war kein Freund der Habsburger, doch beschäftigte ihn der Untergang der Monarchie jahrelang, was sich eindrucksvoll in seiner Erzählung vom November 1918 niederschlug.

In einem Rekonvaleszentenheim in den Karavanken hat sich eine Gruppe Offiziere versammelt, die alle aus Randgebieten der Monarchie stammen. Der Oberst Radolin versucht, die Nachricht vom Zusammenbruch geheim zu halten, allerdings vergeblich. Die Offiziere wollen sich am Aufbau ihrer eigenen Nationalstaaten beteiligen, worauf sich der Oberst erschießt.
Die Ehrenbezeigungen der Offiziere werden zum Requiem auf die Monarchie: "Erde aus kärnten", "Erde aus Polen", Tschechische Erde, "slowenische Erde", italienische Erde und schließlich "Erde aus Österreich".

Die Sprache ist wohl vor allem das Bindeglied, wenn Angehörige des gleichen Staates einander nicht verstehen, ist es schwer möglich zu kommunizieren. Deutsch als Sprache der Armee war ein medium, wobei auffällt, dass sich Tchechische oder galizische Juden wie Kafka und Roth der deutschen Sprache bedienten.

Wenn wir die frühen Nationalstaaten fassen wollen, müssen wir viel weiter zurückgehen als bis zur Französischen Revolution. Wie in der Literatur zu recht beschrieben, sind in England, Spanien und Frankreich bereits um 1500 die Anfänge des Nationalstaats fassbar.

In Frankreich wird die ethnische und politische Vielfalt seit Ende des 12. Jh. in einen gesamtstaatlichen Rahmen bebracht. Die Dynastie wirkt integrierend, der Adel wird allmählich entmachtet, die Krondomäne zur Grundlage des französischen Nationalbewusstseins ("rex Francorum" zum "roi de France"). In Spanien erwächst aus dem Zusammenschluss der christlichen Königreiche Aragon und Kastilien Ende des 15. Jh. der territorial geschlossene spanische Staat und ein spanisches Nationalbewusstsein, wobei Minderheiten wie muslimische Mauren oder Juden entweder zwangschristianisiert oder eher noch vertrieben werden. England ist durch seine insulare Lage ebenfalls ein Kandidat für ein frühes Nationsbewusstsein, während Italien und Deutschland in dieser Hinsicht Spätzünder sind.

Bevor die Diskussion mit den tiefgreifenden Beiträgen der letzten Tage weitergeht, möchte ich zur Einordnung von Staatsgebilden zwischenfragen.
Scorpio hat das langsame Auseinanderfallen der Donaumonarchie beschrieben, überall in der Literatur das Beispiel für einen Vielvölkerstaat und wahrscheinlich Anlaß für das zeitweilige schlechte Image dieser Staatskonstruktion.
Was macht aber das von Dieter erwähnte England außer seiner insularen Lage zu einem Nationalstaat, noch dazu mit fassbaren Anfängen bis 1500?

Die Untertanen des vereinigten Königreichs waren und sind teilweise noch heute ein mit der Donaumonarchie durchaus vergleichbares soziokulturelles Gemisch aus Iren, Walisern, Schotten und Engländern. Reicht es denn aus, um die Anfänge eines Nationalstaats zu vermuten, wenn es einem Herrscherhaus gelingt, benachbarte Herrschaften mitsamt Gebiet und Untertanen zu übernehmen?
Oder sprechen wir von Nationalstaat, wenn das durch ein Herrscherhaus und seine Gefolgschaft dominierte Gebiet nicht auseinanderbrach, sondern sich dieses erfolgreich den Veränderungen gemeinsam anpaßte?
 
Um das zu untersuchen, habe ich mir Frankreich als Beispiel vorgenommen, weil ich vermute, daß hier die Entwicklung angestoßen wurde. Der entscheidende Begriff ist dabei der der "Grande Nation", der von Napoleon I. geformt wurde.
Ausgangspunkt ist jedoch die französische Revolution, in der die Bürgerrechte definiert wurden und wo wohl auch das Gefühl der nationalen Zusammengehörigkeit bei der einfachen Bevölkerung entstand - zunächst aber jedoch, um die Revolution und deren Errungenschaften zu schützen, da es zahlreiche Angriffe ausländischer Mächte und auch der Konterrevolution gab. Napoleon nutzte diese neue Befindlichkeit in der Bevölkerung und brachte den Begriff der "Grande Nation" auf und nutzte dies für seine Eroberungspolitik. Die immer größeren Armeen Napoleons waren nur durch die Einführung der Wehrpflicht sowohl in Frankreich, aber auch in den von ihm unterworfenen Ländern zu erreichen. Nur so kam beispielsweise die Truppenstärke von 420.000 Mann zusammen, die 1812 in Russland einmarschierten. Auch ist nur durch dieses neue "nationale Selbstverständnis" zu erklären, warum Napoleon nach seiner Rückkehr von Elba sofort wieder die Macht in Frankreich an sich reißen konnte, da er jederzeit wieder aufs neue an der Patriotismus der Franzosen appellieren konnte.

Um die Herrschaft Napoleons abschütteln zu können, mußte auch in Deutschland an das nationale Selbstverständnis in der Bevölkerung appelliert werden, das offenbar auch hier entstanden sein mußte. Der Aufruf des preußischen Königs Friedrich Wilhelms III. "An mein Volk" beweist es eindeutig: Er rief ausdrücklich "Preußen und Deutsche" zum Widerstand gegen Napoleon auf und machte sich dieses Selbstverständnis zu eigen - zumindest bis zur Niederlage Napoleons.
Klar wird dadurch vor allem eines:
Durch die Entstehung des nationalen Bewußtseins in Europa wurde es möglich, die Masse der Bevölkerung zu erreichen, die sich nun für ein "höheres Ideal" - für die Nation - einsetzten und im Ernstfall auch in den Krieg zogen. Das war etwas neues, genau wie die Einführung der Wehrpflicht, die es so vorher nie gab. So wurden aus Söldnerheeren, Heere von Wehrpflichtigen, mit denen sehr viel größere Truppenstärken erreicht werden konnten. Letztlich wurden so auch die beiden Weltkriege mir ihren Millionenheeren möglich - eine vorher nie erreichte Dimension.
Wenn man es von dieser Seite sieht, dann kann man schon den Eindruck bekommen, daß die Entstehung der Nationalstaaten im 19. Jh. in eine Sackgasse führte - in die Sackgasse der beiden Weltkriege mit Millionen von Toten.

Deine Ausführungen zur schichtenübergreifenden Mobilmachung überzeugen mich.



Was man nicht so alles findet, wenn man einmal durch die Straßen der Stadt schlendert und einfach einmal einen Blick in das Schaufenster eines örtlichen Ladens für Antiquariat blickt. Von mehreren, meist so an die 200 Jahre alten Drucken waren die erste Innenseite mit dem kompletten Titel aufgeschlagen und sichtbar. Ein Band fiel mir ins Auge, dessen Titel sehr gut zu diesem Thema zu passen scheint. Mit dem Handy abfotographiert kann ich nun den kompletten Titel wiedergeben und dabei das damalige "Layout" weitgehend beibehalten:


Triumph der Philosophie






Im 19ten Jahrhundert​






Oder​






Geschichte​






Der​






Verschwörung des Nationalismus






Gegen​






Religion, Kirche, Fürsten und Staaten






Zum Verständnis​






Des revolutionären Zustandes von Europa​






Im​






19 Jahrhundert​






Neubearbeitet​






Von​






Simon Buchseiner​






Druck: 1836​




Siehe da, da haben wirs: Schon damals haben vorausschauende Köpfe die katastrophale Wirkung des anbrandenden, modernen Nationalismus auf die Stabilität Europas erkannt, zu dessen Überwindung wohl ein Triumph der Philosophie segensreiche Wirkung entfalten möge… Haben wir’s denn nicht immer gewusst? Die Verschwörung gegen Religion, Kirche, Fürsten und Staaten musste doch zum Kollaps führen, oder nicht? Dabei handelt es sich doch nur um eine Neubearbeitung eines älteren Titels. :trompete:
Den Hauptautor konnte ich leider nicht entziffern…
(Sorry, musste ich einfach reinsetzen. Die Staffelung des Titels samt Untertitel ist wie im Buch wiedergegeben... Kein echter Diskussionsbeitrag, aber wie mit der Zeitmaschine ein Blick auf eine uns heute weitgehend fremde... Einstellung)

Doch, das ist ein schöner Diskussionsbeitrag, faßt der Titel doch übersichtlich zusammen, wogegen der Nationalismus, als Übersteigerung der Nationalstaatsidee, ursprünglich kämpfte.

Aber eines scheint mir auf der anderen Seite dennoch auch klar zu sein:
Ohne dieses nationale Selbstverständnis hätte es wohl nie ein einheitliches Deutschland gegeben. Zumindest für Deutschand scheint mir diese Aussage zu stimmen, doch da es in Deutschland erst 1871 zur Einheit kam, mußte hier ein besonderes Augenmerk auf die Erziehung zu treuen Staatsbürgern des Kaiserreiches gelegt werden, um die regionalen Identitäten zu überwinden.

Soweit bin ich noch nicht, um die Alternativlosigkeit für Deutschland zu akzeptieren. Da die Entwicklung nun einmal so und nicht anders abgelaufen ist, kann ich schlecht das Gegenteil belegen, jedenfalls nicht für Mitteleuropa.

So würde ich das nach einigem Überlegen (und nachlesen) sehen. Aber, rena8, wie kommt man auf die Arbeitsthese, Nationalstaaten seien ein "Irrweg der Geschichte"?
Nun ja, erstmal braucht man im GF eine provokante These, um die Diskussion in Schwung zu bringen. :winke:
Und außerdem meinte ich Irrweg im Hinblick auf die nationalistischen Sortierungsorgien bis hin zum Völkermord im frühen 20. Jhd.
Die Bezeichnung als Umweg scheint mir angebracht, wenn ich mir die neuere Geschichte der letzten 50 Jahre ansehe.
Nationalstaaten extremer Ausprägung schotteten sich autarkisch ab. Heutige Staaten schließen sich zu größeren Gebilden zusammen, vom räumlichen Ergebnis nicht so viel anders wie ein hypothetisch politisch reformiertes HRR oder UdSSR.
 
Die Untertanen des vereinigten Königreichs waren und sind teilweise noch heute ein mit der Donaumonarchie durchaus vergleichbares soziokulturelles Gemisch aus Iren, Walisern, Schotten und Engländern. Reicht es denn aus, um die Anfänge eines Nationalstaats zu vermuten, wenn es einem Herrscherhaus gelingt, benachbarte Herrschaften mitsamt Gebiet und Untertanen zu übernehmen?
Oder sprechen wir von Nationalstaat, wenn das durch ein Herrscherhaus und seine Gefolgschaft dominierte Gebiet nicht auseinanderbrach, sondern sich dieses erfolgreich den Veränderungen gemeinsam anpaßte?

In der Literatur gelten Frankreich, Spanien und England zu Beginn der Neuzeit als frühe Nationalstaaten. Was die Britischen Inseln betrifft, so bezieht sich dieser Begriff nur auf England, nicht aber auf das Königreich Schottland, auf Wales oder Irland.

Die in angelsächsischer Zeit vorgenommene, für Rechtsprechung und Verwaltung maßgebliche gebietsmäßige Gliederung des Landes hat offenbar einen Vorgang gefördert, den man als Territorialisierung des Lebenszusammenhangs bezeichnen kann. Blutsmäßige Bande traten ... zurück. Die Engländer betrachteten sich eher als Bewohner eines Gebietes und als Mitglieder einer nicht durch Verwandtschaft konstituierten lokalen Gemeinschaft [...}

Zusammenfassend lässt sich sagen, dass sich England schon im Mittelalter durch eine relativ starke Staatsgewalt und eine - abgesehen von den Grenzgebieten im im Westen und Norden - intensive territoriale Integration austeichnete.

(H.C. Schröder, Englische Geschichte, München 1997, S. 11 f., 18 f.)

Im 15. Jahrhundert, am Ende des Mittelalters, waren mächtige Nationalstaaten, wie Frankreich, England und Polen-Litauen, entstanden. Die Kirche dagegen hatte viel von ihrer Macht durch Korruption, innere Meinungsverschiedenheiten und die Ausbreitung der Kultur verloren, die zur Weiterentwicklung von Kunst, Philosophie, Wissenschaft und Technik im Renaissance-Zeitalter führte.
Die neuen Nationalstaaten waren im Kampf um die Vormachtstellung in Europa andauernd in einem Zustand politischer Veränderung und in Kriege verstrickt. Besonders mit dem Losbrechen der Reformation (nach gesamteuropäischer Betrachtung ab 1520),

http://de.wikipedia.org/wiki/Geschichte_Europas
 
Zuletzt bearbeitet:
Der König wendet sich an sein Volk und nimmt eine Bestandsaufnahme vor.

Dann folgt dieser Satz:
"Jetzt ist der Augenblick gekommen, wo alle Täuschung über unsern Zustand aufhört. – Brandenburger, Preußen, Schlesier, Pommern, Litthauer! Ihr wißt, was Ihr seit fast sieben Jahren erduldet habt; Ihr wißt, was euer trauriges Loos ist, wenn wir den beginnenden Kampf nicht ehrenvoll enden."

Das wirkt wie ein Doppel der Losung aus der franz. Revolution: "Das Vaterland ist in Gefahr!"

Preußen, Schlesier ... werden als gleich (gestellt) ins Boot geholt. Gleiches Interesse wird suggeriert und damit werden die Hoffnungen der Bürger auf die Grundrechte geweckt, die mit der franz. Rev. als Idee über den Kontinent gekommen sind.

"Aber, welche Opfer auch von Einzelnen gefordert werden mögen, sie wiegen die heiligen Güter nicht auf, für die wir sie hingeben, für die wir streiten und siegen müssen, wenn wir nicht aufhören wollen, Preußen und Deutsche zu seyn. Es ist der letzte, entscheidende Kampf, den wir bestehen, für unsere Existenz, unsere Unabhängigkeit, unsern Wohlstand."

Der König fordert nicht nur, er stellt auch Ziele, Interessen in Aussicht.
Warum tut er das? Er, der noch 1806 durch Graf Schulenburg verkünden ließ: "Der König hat eine Bataille verloren ... ".
Ohne die Möglichkeiten der franz. Revolution zur Mobilisierung von Massenarmeen durch die neuen Ideen der Interressierung des Bürgers am Vaterland, an der Nation, hätte er keinen Grund und keine Grundlage gehabt, diesen Aufruf zu platzieren, um dadurch durch einen Volkskrieg zum Sieg zu gelangen. Er hätte weiter in der alten Strategie der Kabinettskriege agiert.

Grüße
excideuil

Danke für den Hinweis auf die Unterschiede zwischen Kabinettskrieg ? Wikipedia , Religions- und Volkskriegen.

Könnte man darüberhinaus sagen, dass es auch Ursprung der Idee des Nationalstaats war, den Auswirkungen der französischen Revolution, dem "Aufmucken" der unteren Schichten etwas entgegenzusetzen. Das Großbürgertum wurde im Laufe des 19.Jhd. politisch beteiligt. Die Wünsche und Bedürfnisse der unteren Schichten wurden jedoch nur marginal berücksichtigt, die dazu nötigen Veränderungen sind vielleicht als zu stark empfunden worden.
Brauchte man auch dazu ein Abgrenzungsfeindbild als Identitätsbildner, nicht nur zur Mobilmachung von Wehrpflichtigen?
 
Könnte man darüberhinaus sagen, dass es auch Ursprung der Idee des Nationalstaats war, den Auswirkungen der französischen Revolution, dem "Aufmucken" der unteren Schichten etwas entgegenzusetzen. Das Großbürgertum wurde im Laufe des 19.Jhd. politisch beteiligt. Die Wünsche und Bedürfnisse der unteren Schichten wurden jedoch nur marginal berücksichtigt, die dazu nötigen Veränderungen sind vielleicht als zu stark empfunden worden.
Brauchte man auch dazu ein Abgrenzungsfeindbild als Identitätsbildner, nicht nur zur Mobilmachung von Wehrpflichtigen?

Betrachtet man die deutschen Staaten, dann wohl eher nicht. Preußen bediente sich der Reformen und solchen - aus Fürstensicht - Teufelszeugs wie der Wehrpflicht (Gneisenau nannte sie einmal "Griff in das Zeughaus der Revolution") doch nur, weil das Land durch Napoleon auf einen Staat 2. Ranges gedrückt worden war und mit Mitteln der Kabinettskriege nicht annähernd in der Lage gewesen wäre, ein Heer auf die Beine zu bringen, das Preußen den Rang eines gleichberechtigten Partners z.B. mit Rußlands eingebracht hätte. Dass diese Mittel auch nur für den Zeitraum des Krieges und der Wiederherstellung der Großmacht Preußen gedacht waren, zeigt sich z.B. auch daran, dass F.W. III. eine versprochene Verfassung eben nicht einführte.

Der Wiener Kongress "erfand" den Deutschen Bund. Keiner der weiterhin "absoluten" Fürsten hatte ein Interesse an einer deutschen Nation.
Und die Heilige Allianz war eine Verbindung der Fürsten gegen die Auswirkungen der Revolution.

Grüße
excideuil
 
...Soweit bin ich noch nicht, um die Alternativlosigkeit für Deutschland zu akzeptieren. Da die Entwicklung nun einmal so und nicht anders abgelaufen ist, kann ich schlecht das Gegenteil belegen, jedenfalls nicht für Mitteleuropa.
Hmm - na es ist doch tatsächlich so, daß die Entstehung der Nationalstaaten auch (nicht nur) durch plebizitäre Elemente geprägt war.
Beispiel Deutschland:
Gerade am Beispiel Deutschlands sieht man, daß Geschichte keinesfalls geradlinig verläuft, sondern beliebig oft "Haken schlagen" kann.
Bis etwa zum 30-jährigen Krieg scheint es in Deutschland die Chance gegeben zu haben, daß ein deutscher Nationalstaat unter der Regie der Aristokratie entstehen hätte können. Wichtige Anzeichen dafür waren z. B. die Aufnahme des Namenszusatzes "...Deutscher Nation" in die Bezeichnung für das HRR. Auch die "Wahlkapitulation" 1519, die bei jeder neuen Wahl den Kandidaten zur Unterschift vorgelegt wurde, sprach eine klare Sprache.
Die Entwicklung zu einem Nationalstaat wurde jedoch durch die Religionskriege und besonders durch den 30-jährigen Krieg jäh unterbrochen - die Fürsten waren nun quasi unabhängige Herrscher ihres Herrschftsbereiches, die Habsburger bauten ihre Hausmacht im Reich nicht mehr weiter aus und spätestens seit Ludwig IV. von Frankreich spach man auch in Deutschland bei Hofe ausschließlich französisch.
Das waren alles Entwicklungen, die zeigten, daß der deutsche Adel kein Interesse mehr daran hatte, Vorreiter bei der Entwicklung zum Nationalstaat in Deutschland zu sein.
Damit kommen wir zum plebizitären Element.
Bereits die urspüngliche Bedeutung des Namens "deutsch" bedeutet nichts weiter, als "Spache des Volkes". Dabei blieb es in weiten Teilen der deutschen Geschichte auch. Die Könige/Kaiser orientierten sich über weite Stecken mehr auf die Außenpolitik, als auf die Innenpolitik. Durch Heiratspolitik und Expansionen kam es dazu, daß Vertreter urspünglich deutscher Fürstenhäuser eine andere Sprache als die deutsche deren Muttersprache war. Das alles behinderte bzw. verzögerte die Entstehung eines deutschen Nationalstaates. Als nach dem 30-järigen Krieg die Aristokratie erneut von der "Volkssprache" abrückte, blieb diese Sprache endgültig die Spache des Volkes und auch die Entstehung einer deutschen Nation konnte nur durch das Volk oder durch den Druck aus dem Volk entstehen. Dies wäre in der Revolution von 1848/49 auch beinahe so geschehen, doch die Revolution wurde niedergeschlagen.
Daß eine Einheit Deutschlands dann doch noch "von oben" zustande kam, war vor allem das Verdienst von Bismarck - weniger von Wilhelm I., der laut den Überlieferungen lieber gern ausschließlich preußischer König geblieben wäre. Bismarck erkannte anscheinend die "Zeichen der Zeit" und konnte eine erneute Revolution durch seine Politik abwenden.
So würde ich das für Deutschland einschätzen.


Nun ja, erstmal braucht man im GF eine provokante These, um die Diskussion in Schwung zu bringen. :winke:
*Lach* - ok...
Und außerdem meinte ich Irrweg im Hinblick auf die nationalistischen Sortierungsorgien bis hin zum Völkermord im frühen 20. Jhd.
Die Bezeichnung als Umweg scheint mir angebracht, wenn ich mir die neuere Geschichte der letzten 50 Jahre ansehe.
Nationalstaaten extremer Ausprägung schotteten sich autarkisch ab. Heutige Staaten schließen sich zu größeren Gebilden zusammen, vom räumlichen Ergebnis nicht so viel anders wie ein hypothetisch politisch reformiertes HRR oder UdSSR.
Du spielst hier auf den immer radikaler werdenden Nationalismus im Verlauf des 19. Jh. an. Diese Radikalisierung war wohl das Ergebnis einer gegeseitigen Aufstachelung der jeweiligen Bevölkerung in den Nationalstaaten. Es war in meinen Augen keine zwangläufige Entwicklung. Ein interessantes Beispiel für diese Entwicklung ist wohl die "Rheinkrise": Rheinkrise ? Wikipedia

Darauf bin ich bei meinen Recherchen für die Diskussion zufällig gestoßen und kannte diese Krise vorher auch noch nicht.
 
Hmm - na es ist doch tatsächlich so, daß die Entstehung der Nationalstaaten auch (nicht nur) durch plebizitäre Elemente geprägt war.
Beispiel Deutschland:
Gerade am Beispiel Deutschlands sieht man, daß Geschichte keinesfalls geradlinig verläuft, sondern beliebig oft "Haken schlagen" kann.
Bis etwa zum 30-jährigen Krieg scheint es in Deutschland die Chance gegeben zu haben, daß ein deutscher Nationalstaat unter der Regie der Aristokratie entstehen hätte können. Wichtige Anzeichen dafür waren z. B. die Aufnahme des Namenszusatzes "...Deutscher Nation" in die Bezeichnung für das HRR. Auch die "Wahlkapitulation" 1519, die bei jeder neuen Wahl den Kandidaten zur Unterschift vorgelegt wurde, sprach eine klare Sprache.
Die politische Geschichte des Mittelalters und der frühen Neuzeit ist in meinem Kopf nur in groben Zügen präsent, Einzelheiten muß ich jeweils nachlesen.
Durch den Fokus auf die Nationalstaatsidee und die bisherigen Beiträge betrachte ich allerdings bekannte Entwicklungen neu und anders und komme nun erst richtig ins grübeln. :grübel:
Bisher war das HRR ab Karl dem Großen für mich eine Anlehnung bzw der Versuch einer Wiederbelebung des Römischen Reichs unter christlichen Vorzeichen. Unter Karl befand es sich ja auch auf dem erreichbaren Teilgebiet des römischen Imperiums. Durch die Erbteilungen setzte sich der westliche Teil früh von dieser Konstruktion ab. Zusätzlich etablierte sich durch die (germanischen/fränkischen?) Belehnungen eine weitere Hierarchieebene mit dem Adel unter dem gewählten HRR-Kaiser. Diese schon recht unstraffe Organisation wurde durch den weltlichen Machtanspruch der Kirche noch komplizierter. Nach den Stauferkaisern kamen dann große Teile Italiens abhanden. http://de.wikipedia.org/wiki/Ludwig_IV._(HRR)
Wurde nicht deshalb der Zusatz "deutsche Nation" angehängt?

Die Entwicklung zu einem Nationalstaat wurde jedoch durch die Religionskriege und besonders durch den 30-jährigen Krieg jäh unterbrochen - die Fürsten waren nun quasi unabhängige Herrscher ihres Herrschftsbereiches, die Habsburger bauten ihre Hausmacht im Reich nicht mehr weiter aus und spätestens seit Ludwig IV. von Frankreich spach man auch in Deutschland bei Hofe ausschließlich französisch. ....
Das waren alles Entwicklungen, die zeigten, daß der deutsche Adel kein Interesse mehr daran hatte, Vorreiter bei der Entwicklung zum Nationalstaat in Deutschland zu sein.

Da gebe ich dir Recht, ich bin sogar unsicher, ob die Entwicklungen bis zum 30-jährigen Krieg im deutschsprachigen Gebiet zu einem Nationalstaat führen sollten, also ob diese Absicht bestand?
Bis zu Buchdruck und Reformation fehlte wahrscheinlich bei der einfachen Bevölkerung das Bewußtsein dafür, dass ihre Dialekte sich ähnelten.
Der Adel dagegen hatte andere Interessen, da ging es um Gebiets- und Untertanenerweiterung durch Fehden, Krieg und zunehmend durch Heirat. Man stand sich innerhalb seiner Schicht näher als schichtenübergreifend. Ein gemeinsames Identitätsbewußtsein konnte es schon deshalb nicht geben.

Den 2. Teil deines Beitrags muß ich noch überdenken.

Du spielst hier auf den immer radikaler werdenden Nationalismus im Verlauf des 19. Jh. an. Diese Radikalisierung war wohl das Ergebnis einer gegeseitigen Aufstachelung der jeweiligen Bevölkerung in den Nationalstaaten. Es war in meinen Augen keine zwangläufige Entwicklung. Ein interessantes Beispiel für diese Entwicklung ist wohl die "Rheinkrise": Rheinkrise ? Wikipedia

Darauf bin ich bei meinen Recherchen für die Diskussion zufällig gestoßen und kannte diese Krise vorher auch noch nicht.

Ich meinte ursprünglich den Nationalismus im 20. Jhdt, mit der Rheinkrise haben wir dann beide dazugelernt, danke.:winke:
 
...Durch den Fokus auf die Nationalstaatsidee und die bisherigen Beiträge betrachte ich allerdings bekannte Entwicklungen neu und anders und komme nun erst richtig ins grübeln. :grübel:
Bisher war das HRR ab Karl dem Großen für mich eine Anlehnung bzw der Versuch einer Wiederbelebung des Römischen Reichs unter christlichen Vorzeichen. Unter Karl befand es sich ja auch auf dem erreichbaren Teilgebiet des römischen Imperiums. Durch die Erbteilungen setzte sich der westliche Teil früh von dieser Konstruktion ab. Zusätzlich etablierte sich durch die (germanischen/fränkischen?) Belehnungen eine weitere Hierarchieebene mit dem Adel unter dem gewählten HRR-Kaiser. Diese schon recht unstraffe Organisation wurde durch den weltlichen Machtanspruch der Kirche noch komplizierter. Nach den Stauferkaisern kamen dann große Teile Italiens abhanden. http://de.wikipedia.org/wiki/Ludwig_IV._(HRR)
Wurde nicht deshalb der Zusatz "deutsche Nation" angehängt?
(...)
Da gebe ich dir Recht, ich bin sogar unsicher, ob die Entwicklungen bis zum 30-jährigen Krieg im deutschsprachigen Gebiet zu einem Nationalstaat führen sollten, also ob diese Absicht bestand?
Bis zu Buchdruck und Reformation fehlte wahrscheinlich bei der einfachen Bevölkerung das Bewußtsein dafür, dass ihre Dialekte sich ähnelten.
Der Adel dagegen hatte andere Interessen, da ging es um Gebiets- und Untertanenerweiterung durch Fehden, Krieg und zunehmend durch Heirat. Man stand sich innerhalb seiner Schicht näher als schichtenübergreifend. Ein gemeinsames Identitätsbewußtsein konnte es schon deshalb nicht geben...
Wirklich "abhanden" kam Reichsitalien ja - zumindest formal - bis zum Schluß nicht. Das Thema hatten wir ja schon.
Ansonsten stimmt das schon, daß der Kaisertitel der Franken natürlich der antike römische Kaisertitel war, den dann auch die Ostfranken erbten. Karl der Große mußte sogar viele Jahre mit Konstantinopel um die Anerkennung seines Titels verhandeln. Der Reichsname "Heiliges Römisches Reich" dokumentiert diese Anlehnung auch. Dennoch blieb der Schwerpunkt des Reiches immer der ostfränkische/deutsche Reichsteil - die Königshäuser hatten hier stets ihren Ursprung, die Kurfürsten waren - mit wenigen Ausnahmen - Deutsche und auch der wichtigste Wahl- und Krönungsort lag hier. Ich denke, diese Konzentration auf nur einen der drei Reichteile führte zum Namenszusatz "...Deutscher Nation". Ein weiteres Indiz für diese "Nationalisierung" des Reiches war die bereits angesprochene Wahlkapitulation der Wahl von 1519. Bei dieser Wahlkapitulation mußte sich Karl V. (und alle folgenden) verpflichten, Reichsämter ausschließlich mit Deutschen zu besetzen, in offiziellen Dokumenten nur die deutsche oder die lateinische Sprache zu verwenden und keine fremden Truppen ins Reich zu bringen. Reichstage sollten nur an Orte innerhalb des Reichsgebietes einberufen werden und Bündnisse nur mit Zustimmung der Kurfürsten gelten. Weiterhin wurden die Bestimmungen der "Goldenen Bulle" von 1356 bekräftigt und weiterführend mußte sich Karl verpflichten, den Kurfürsten aller ihrer Rechte und Privilegien zu belassen und sie gegen Erhebungen des Adels und des "gemeinen Mannes" zu schützen.
Von besonderer Wichtigkeit war die Bestimmung, keinen Untertanen des Reiches ohne Verhör durch deutsche Richter fremden Gerichten zu überstellen.

Der eigentliche Anlaß für diese Bestimmungen war der, daß sich mit den Kandidaten aus England, Frankreich und Spanien gleich 3 ausländische Bewerber um den Thron bemühten, dennoch sind diese Klauseln schon bemerkenswert - verstand sich das Reich doch eigentlich als christliches Reich mit universalem Machtanspruch.
 
Zuletzt bearbeitet:
Bis etwa zum 30-jährigen Krieg scheint es in Deutschland die Chance gegeben zu haben, daß ein deutscher Nationalstaat unter der Regie der Aristokratie entstehen hätte können.

Eine territorialen Vorherrschaft des Adels hemmt die Entstehung von Nationalstaaten, wofür Deutschland und Italien gute Beispiele sind. Wo allerdings frühzeitig der Adel durch die Krone entmachtet wurde oder territorial keine Rolle spielte wie in Frankreich, Spanien und England, da gab es günstige Bedingungen für die Entstehung von Nationalstaaten.

Das waren alles Entwicklungen, die zeigten, daß der deutsche Adel kein Interesse mehr daran hatte, Vorreiter bei der Entwicklung zum Nationalstaat in Deutschland zu sein.

Diese Denkweise ist insofern unhistorisch. als sie impliziert, dass Adel oder Königtum beabsichtigt hätten, einen "Nationalstaat" zu schaffen oder zu verhindern. Davon kann natürlich keine Rede sein. Frühneuzeitliche Nationalstaaten entstanden, weil eine Reihe innen- und außenpolitischer Faktoren dafür günstig waren, nicht aber durch einen Willensakt. Anders sieht das allerdings im 19. Jh. aus, wo bekanntlich große Teile der Bevölkerung für einen Nationalstaat votierten.

Zum deutschen Nationalstaat kam es nicht, weil über 300 Territorien eifersüchtig über ihre Selbstständigkeit wachten, die Fürsten nach dem Westfälischen Frieden 1648 volle Landeshoheit erhielten und sofar Bündnisse mit ausländischen Mächten abschließen durften, sofern sie nicht gegen Reichsinteressen gerichtet waren.

Eine entscheidende Weiche gegen einen späteren Nationalstaat stellt bereits das Statutum in favorem principum von 1231, mit dem der König zentrale Regalien aus der Hand gab, wie z.B. das Geleit-, Münz- und Befestigungsrecht. Ferner gab es Gerichtsbestimmungen zu gunsten der Landesherren, der domini terrae. Die Landesherren bauten ihre selbstständigen Territorien auf, was zu einer Schwächung des Königtums führte und - anders als in Spanien oder Frankreich - einen frühen Nationalstaat verhinderte.

Damit schlug das Heilige Römische Reich und somit Deutschland einen anderen Weg ein als die übrigen europäische Staaten (ausgenommen Italien), nämlich den einer föderalen Ordnung. Das Statutum wirkt in unserer föderalen Ordnung bis heute nach.
 
Zuletzt bearbeitet:
Eine territorialen Vorherrschaft des Adels hemmt die Entstehung von Nationalstaaten, wofür Deutschland und Italien gute Beispiele sind. Wo allerdings frühzeitig der Adel durch die Krone entmachtet wurde oder territorial keine Rolle spielte wie in Frankreich, Spanien und England, da gab es günstige Bedingungen für die Entstehung von Nationalstaaten.

Das ist der Punkt, mit dem ich nicht klar komme. Was macht es für einen Unterschied, ob wie in Frankreich nur der König das souveräne Sagen hat oder wie im HRRDN eine ganze Reihe von souveränen Fürsten? Der Adel herrscht doch territorial, ob als König in Frankreich oder aber als Graf, Herzog, Kurfürst im HRRDN. Und die wirtschaftliche Abhängigkeit vom Grundherren war doch überall die gleiche! Worin besteht daher die Definition? Nur in der territorialen Ausdehnung? Weil es z.B. Frankreich damit möglich war, sich mit England "anzulegen", was z.B. Bayern nicht möglich war? Aber das ist doch im Grunde nur eine machtpolitische Komponente, die mit Nation doch wenig zu tun hat. Und die Sprache allein kann es doch auch nicht sein, denn dann dürften hist. betrachtet Deutschland und Österreich ... auch nicht als Nationalstaaten betrachtet werden. Oder?

Grüße
excideuil
 
Über den Menschen, die zwischen Schlei, Rhein, Elbe/Oder und den Alpen lebten schwebte zumindest in adligen und bürgerlichen Schichten schon seit dem Mittelalter ein grundsätzliches Zusammengehörigkeitsgefühl als "Deutsche", auch wenn dieses meist hinter territorialpolitischen Absichten zurückstehen musste. Deshalb kann man Sachsen, Bayern, Württemberg oder andere Kleinstaaten nicht als Nationalstaaten bezeichnen. Es fehlt das "Nationalgefühl" - ein Begriff, der oft von braunen Gruppierungen missbraucht wird, aber im Prinzip nur genau das beschreibt, was er aussagt: Das Gefühl, zu einer "Nation" zu gehören, auch wenn keiner genau weiß, was das eigentlich sein soll. Keiner hätte sich wohl ernsthaft als "Reußer jüngerer Linie" bezeichnet.

Zu Österreich: Bis ins 19. Jahrhundert war die Zugehörigkeit Österreichs zu den "deutschen Landen" überhaupt keine Frage; der Kaiser des HRRDN stammte ja seit dem 16. Jahrhundert aus Österreich! Ein eigenes österreichisches "Nationalgefühl" entwickelte sich erst langsam seit der Auflösung des Reiches, und noch Mitte des 20. Jahrhunderts sah sich manch ein Österreicher selber insgeheim als Deutscher.
 
Über den Menschen, die zwischen Schlei, Rhein, Elbe/Oder und den Alpen lebten schwebte zumindest in adligen und bürgerlichen Schichten schon seit dem Mittelalter ein grundsätzliches Zusammengehörigkeitsgefühl als "Deutsche",...... Es fehlt das "Nationalgefühl" - ein Begriff,.....aber im Prinzip ...genau das beschreibt, was er aussagt: Das Gefühl, zu einer "Nation" zu gehören

1. Was soll denn da geschwebt sein? Wer hat das produziert, was da geschwebt sein sollte und durch wen wurde es distribuiert als "Sinnwelt"? Vor allem in welcher Bedeutung wurde es, auch im Vergleich zu der späteren Denotation bzw. Konnotation (auch in Bezug auf die Mythen) benutzt?

2. So wie oben formuliert ist es einfach nicht richtig. Und es wurde im GF schon ausführlich diskutiert (vgl, ausführlich Dikussion über die Schweiz als Nationalstaat). Auch unter Hinweis von aktuellen Studien zum Nationalismus und zur kollektiven Identität.

3. Ansonsten: Auf welchen Historiker stützt sich diese obige Aussage?
 
Zuletzt bearbeitet:
Hm, wenn du einen höher gestellten Bewohner des Reiches, etwa einen Adligen oder Bürger, zu der Zeit, von der wir sprechen, gefragt hättest, ob er sich als Angehöriger eines Volks, einer Nation oder etwas ähnlichem fühlen würde, so würde er sicher sagen "ich bin Baier", "ich bin Sachse" oder "ich bin Westfale", aber in gewissem Sinne auch "ich bin Deutscher". Das zeigt der häufige Gebrauch des Begriffs "deutsch" in spätmittelalterlichen bzw. frühneuzeitlichen Quellen: Barbarossa verkündet dass die "Deutschen" das Erbe Roms angetreten hätten; Luther gebraucht das Wort geradezu inflationär und im 30jährigen Krieg verwüsten Söldnerhorden laut damaligen Autoren die "deutschen Lande". Der Begriff "deutsch" ist nun weißgott keine Erfindung der Moderne; er existiert, seit man eine Bezeichnung brauchte, um die Bewohner des Heiligen Römischen Reiches nördlich der Alpen zusammenzufassen.
 
Das ist der Punkt, mit dem ich nicht klar komme. Was macht es für einen Unterschied, ob wie in Frankreich nur der König das souveräne Sagen hat oder wie im HRRDN eine ganze Reihe von souveränen Fürsten? Der Adel herrscht doch territorial, ob als König in Frankreich oder aber als Graf, Herzog, Kurfürst im HRRDN. Und die wirtschaftliche Abhängigkeit vom Grundherren war doch überall die gleiche!
excideuil

Der König von Frankreich gehörte nicht dem Adel (2. Stand) an. Als Souverän stand er über den Ständen.

Der Unterschied zwischen Frankreich und Deutschland (HRR) bestand darin, dass in Frankreich der König (bes. Philipp II., Ludwig IX., Philipp IV.) spätestens ab dem 13. Jahrhundert nach der Überwindung der "feudalen Anarchie" in der Lage war alle seine Untertanen, ob Adel oder Bauern, seiner herrscherlichen Gewalt (Monarchie) untertan zu machen. Das heist, er konnte den Geltungsbereich seines herrscherlichen Handelns über das gesamte Königreich und seiner Bewohner ausdehnen, sei es in politischen, wirtschaftlichen oder jurisdiktionellen Angelegenheiten. Mit der Bildung zentralstaatlicher Behörden wie einem Gerichtshof (Parlement), eines Regierungsrats (Conseil), eines Rechnungshofes (Cour des comptes) und natürlich eines landesweit eingerichteten Verwaltungsapperates wurden dazu geeignete Werkzeuge geschaffen um diese monarchische Ordnung zu festigen.

In Deutschland fand nahezu zeitgleich eine gegenläufige Entwicklung statt indem der König/Kaiser Friedrich II. innerhalb kürzester Zeit zentrale königliche Kompetenzen (Regalien) an die weltlichen und geistlichen Feudalfürsten abtrat, wie die Rechtssprechung und das Münzwesen. Von da an begannen die deutschen Feudalherren als rechtlich autonome Landesfürsten aufzutreten, gegenüber denen der Kaiser allenfalls eine Stellung als primus inter parens einnahm. Die Macht eines Königs/Kaisers hing seither vor allem davon ab, inwieweit er selbst als Landesfürst etabliert war (Stichwort Hausmacht). Die deutschen Landesfürsten ihrerseits aber waren im Unterschied zum französischen König nicht vollständig souverän, da sie mit dem König/Kaiser noch immer eine Autorität formell über sich stehen hatten und weil sie noch immer Teil eines Staatenverbandes (HRR) waren.

Wie Dieter schon schrieb wurden somit zwei unterschiedliche Entwicklungen begünstigt. In Frankreich die des zentralstaatlichen Monarchismus (den die Republik insgesamt fortführt) und in Deutschland die des landesherrlichen Förderalismus, heute noch im Grundgesetz verankert.

Übrigens waren vom Universalanspruch ausgehenden Standpunkt des römischen Kaisers alle christlichen Monarchien diesem Untertan. Allerdings relativierte sich dies im Mittelalter ganz schnell. Der französische König bespielsweise bekam in der Decretale Per Venerabilem von Seiten des Papstes versichert, dass er niemanden Untertan ist.
 
Einverstanden, dass mit dem König über den Ständen war mir entfallen. Ändert aber nichts daran, dass er souveräner Fürst im Sinne der absoluten Monarchie war.

Mir ist völlig klar, dass z.B. Frankreich und die deutschen Staaten eine andere Entwicklung nahmen. Nur, und ich komme wieder darauf zurück, für den Bewohner Frankreichs oder z.B. Bayern machte das doch keinen Unterschied. Der Bauer - und damit der größte Teil der Bevölkerung - war da und dort seinem Grundherren untertan, musste Frondienste leisten, den 10ten, was auch immer. Wo soll es für ihn eine Bedeutung gehabt haben, ob der Landesherr der bayrische Kurfürst oder der franz. König war? Er, dessen Tellerand - sprich die Welt - vllt. die nächste Stadt war, dem ein Reisender aus München oder Paris wie ein Mensch von einem anderen Stern anmuten musste, was konnte er denn für ein nationales Interesse gehabt haben? Wenn ein Interesse, dann doch der nächste Winter, den es zu überleben galt. Wenn aber ein nationales Interesse der Bürger gar nicht vorhanden sein konnte, warum spricht man vom Nationalstaat?

In Nationalstaat steckt Nation. Wenn aber z.B. der franz. König nur Interessen der Monarchie verficht, kann man da von einem Nationalstaat sprechen, wenn die Interessen der Nation gar keine Rolle spielen? Und noch dazu, wenn das Land quasi mit einer horrenden Verschuldung an den Rand der Belastbarkeit gebracht wird, dass eine Revolution ausbricht?

Aber nehmen wir die Revolution. War es tatsächlich so, dass die Unruhen nationalem Interesse oder der Erringung der Macht galten? Oder ging es schlicht um Brot?
Nationale Interessen waren doch erst später interessant: "Das Vaterland ist in Gefahr!" Aber der Satz bekam erst nach der Verkündung der Grundrechte Bedeutung!

Grundrechte ist der Punkt. Wird mit ihnen nicht erst ein nationales Interesse deutlich, überhaupt möglich? M.M.n. beruht damit die Definition eines Nationalstaates auf der Idee, dass sich die Bürger eines Landes auch darin wiederfinden können.

Es ist richtig, dass große territoriale Staaten z. Z. des ancien régime eine größere Macht ausüben konnten, aber sind sie deshalb automatisch (frühe) Nationalstaaten? Kann es sein, dass vllt. zuviel Nationalstaat hineingesteckt wird als wirklich drin ist?

Grüße
excideuil
 
Konditionierung durch den Adel

Einverstanden, dass mit dem König über den Ständen war mir entfallen. Ändert aber nichts daran, dass er souveräner Fürst im Sinne der absoluten Monarchie war.

Mir ist völlig klar, dass z.B. Frankreich und die deutschen Staaten eine andere Entwicklung nahmen. Nur, und ich komme wieder darauf zurück, für den Bewohner Frankreichs oder z.B. Bayern machte das doch keinen Unterschied. Der Bauer - und damit der größte Teil der Bevölkerung - war da und dort seinem Grundherren untertan, musste Frondienste leisten, den 10ten, was auch immer. Wo soll es für ihn eine Bedeutung gehabt haben, ob der Landesherr der bayrische Kurfürst oder der franz. König war? Er, dessen Tellerand - sprich die Welt - vllt. die nächste Stadt war, dem ein Reisender aus München oder Paris wie ein Mensch von einem anderen Stern anmuten musste, was konnte er denn für ein nationales Interesse gehabt haben? Wenn ein Interesse, dann doch der nächste Winter, den es zu überleben galt. Wenn aber ein nationales Interesse der Bürger gar nicht vorhanden sein konnte, warum spricht man vom Nationalstaat?...

Ich denke dass Dieter in Beitrag #49 und Joinville in Beitrag #54 hier wesentliche Wirkprinzipien angesprochen/sich ergänzt haben, wodurch die Bedeutung des Königtums für die Entwicklung eines Nationalstaats (vor allem am Beispiel Frankreichs) sehr gut herausgestrichen wurden! Die Nachfragen von excideuil suchen nach Ursachen, warum der (ab einem gewissen Level) so viel stärker von der königlichen Macht „befreite“ Adel im HRR eine solche Entwicklung verhindert haben sollte, da letztlich die persönliche Abhängigkeit der „gemeinen Bevölkerung“ von den jeweiligen Adeligen vor Ort doch gleich gewesen sei. Die Bemerkung ist fraglos richtig, verengt den Blick aber zu sehr auf das „einfache Volk“. Der Schlüssel zum Verständnis liegt beim Adel als selbstständigen und dominierenden Stand dieser Zeit!
Volk wie Adel mögen sich einem gewissen Volk zugehörig gefühlt haben oder nicht. Ein solches Gefühl völlig mit einem „Nationalgefühl“ gleichzusetzen verkennt m.E., dass beides nicht komplett deckungsgleich sein muss. Der Adel als bevorrechtigter Stand machte sich eben nicht mit dem Volk gemein, genauso wenig wie der ferne König oder Kaiser, aber er war vor Ort verwurzelt und bestimmte die Geschicke über viele Generationen zu einer Sonderentwicklung. Ob sich die einzelnen (West-)Europäer heute jeweils als Deutsche, Franzosen… oder Europäer sehen mag ja im Detail noch fraglich sein - ich denke aber, dass sich die Meisten mit einem sehr viel schwammigeren Begriff anfreunden können: Der „Westlichen Welt“ zugehörig zu sein. Man sieht, Identifikation läuft auf verschiedenen Ebenen ab. Was machte den europäischen Adel des MA so besonders?

1. Die Macht des Adels basierte auf seinem Grundbesitz und seinen Privilegien, was ihn zum wichtigsten Stand für Jahrhunderte machen sollte. Biologisch basierte dies auf Erbrecht, wie bei dynastischen Königreichen. Hochzeiten waren hochpolitische Angelegenheiten, Basis für Bündnisse und Verbindungslinien quer durch alle Länder. Es ging um den Erhalt und den Ausbau der Macht, sowie gute Kontakte. Als Ehepartner kamen nur solche „von Stand“ in Frage – und auch nur im entsprechenden Level innerhalb der Adelshierarchie selbst! Die Verheiratungen fanden weniger innerhalb einer Region, als innerhalb der Hierarchie statt. Welcher Partner in Frage kam war außerdem von Interessenlage, Konfession und Reichtum bedingt: Die „Nationalität“ des Partners war von weitgehend untergeordneter Bedeutung! Besonders der Hochadel im HRR war international ausgerichtet: Wir wissen, dass heutige Königshaus von GB führt sich auf das Geschlecht des einstigen Kurfürstentum Hannovers zurück, welches ein Zweig der mittelalterlichen Welfen ist – „Jüngeres Haus“ allerdings! Denn eigentlich sind die Welfen im Mannesstamm seit 1070 von einem italienischen Marktgrafen abstammend… Dieser angedeutete Exkurs sollte nur die Verzweigung und Internationalität des europäischen Adels aufzeigen. Wie sollte ein solcher Adel grundsätzlich Stütze für eine allgemeine Nationalitätsbildung werden? Man parlierte in allen möglichen Sprachen miteinander, aber kaum in der „Volkssprache“ jener, über welche man doch Herrschte! Warum sollte sich ein Graf oder auch nur Ritter seinem Schweinehirten näher fühlen als seinen Standesgenossen – oder gar seinen Verwandten in Italien oder Polen? Der Abstand des Adels zu seinen Grundsassen war im Gegenteil in jeder Beziehung stark und wurde eifrig gepflegt!

2. Identifikation MIT einer Herrschaft: Jetzt wird es komplizierter: Wenn der Adel also auf Besitz, Stand und seinen Verbindungen beruhte, so beruhte die Bindung der einfachen Leute in fast jeder Beziehung auf seinen Grundherren. Dies trug auch zur inneren Territorialisierung (adäquat zu den politisch- räumlichen Ambitionen des Grundbesitzenden Adel) der Bevölkerung bei. Man war vom Adel in jeder Beziehung abhängig: Er herrschte politisch und war weitgehend auch Richter in Rechtsfragen, er hatte offiziell seine Untertanen zu beschützen, besteuerte ihn und diktierte spätestens seit der Reformation auch die religiöse Konfession dieser Untertanen! Da viele (besser die meisten!) seiner Untertanen an die Scholle gebunden und ihm leibeigen waren, kontrollierte der Adel auch den Bewegungskreis dieser Leute und damit auch in welchem „Umkreis“ sie auch nur heiraten durften. Auch die persönlichen Familiengeflechte der Untertanen konnten damit durch die Territorialisierung eines Adelshauses direkt für Generationen bestimmt werden. Das begünstigte eine Sonderentwicklung hin zur Regionalisierung der eigenen Identifikation. Für den Adel war der Stand wichtig, aber für einen Bauern aus Bayern oder Lippe gab es diese Gemeinsamkeit nicht, das meist sind eher sozialrevolutionäre Wunschvorstellungen! Man war der engeren Heimat sehr verpflichtet und damit dem regierenden Geschlecht. Im Unterschied etwa zu Frankreich, wo die Krone gleichzeitig eine allzu enge Bindung der Bevölkerung an seinen regionalen Adel verhindern konnte, blühte vor allem im HRR diese Regionalisierung, die auch die Entstehung einer Vielzahl von sprachlichen Dialekten fördern musste: Eine Diversifikation nach Regionen in allen Ebenen also: Familienbande, rechtliche Orientierung, Lebensmittelpunkt, religiös- bis hin zu vielfältigen sprachlichen Einflüssen! Man kann einwenden, dass die meisten Faktoren in Frankreich ähnlich waren, doch zog sich hier die Krone niemals so vollständig aus der Lebenswelt des vielbeschworenen „Kleinen Mannes“ zurück, da die königlichen Regalien nicht aus der Hand gegeben wurden. Auch war der Zugriff der Krone auf die einzelnen Adelsgeschlechter immer weitaus direkter, so dass dessen Territoralisierungstendenzen niemals das Ausmaß und Dauer erreichen konnte, wie im HRR.

3. Wen wundert vor diesem Hintergrund, dass gerade die eher „mobilen“ und aus der feudalen Ordnung/Konditionierung herausgenommenen Menschengruppen unter diesen Umständen am Ehesten Anzeichen für ein Nationalbewusstsein entwickeln konnten – und teils auch artikulieren konnten? Es waren „reisende Menschen“ wie Händler, Kaufleute, Bürger…! Die freien Gemeinwesen der Städte, besonders der Reichsstädte waren der Idee einer Nation weitaus aufgeschlossener gegenüber, als der Adel. Und auch beim Adel kann differenziert werden: Der international agierende Hochadel mit seiner Macht stand solchen Ideen kaum wohlwollend gegenüber. Blickt man dagegen in die Zeit von Renaissance und Reformation zeigt sich besonders beim niederen Adel durchaus ein gewisser, nationaler Ansatz (wie etwa in der Reichsritterschaft)! Gut abzulesen an den durch Ulrich von Hutten vertretenen Ideen, oder Franz von Sickingen. Bei diesen Männern verstärkte sich dieser „Sonderweg“ des niederen Adels noch durch die Hinwendung zur Reformation, die von Luther angestoßen worden war. Auch bei Martin Luther rührt sich Überdeutlich eine nationale Komponente, die sich auch im Aufstand der Bauern während des Bauernkrieges artikulierte.
Ulrich von Hutten ? Wikipedia
Franz von Sickingen ? Wikipedia

Man wandte sich gegen den örtlichen Adel und den Hochadel. Den Kaiser jedoch wollte man gerne akzeptieren. Das daraus resultierende Dilemma zeigte sich besonders stark in süddeutschen & österreichischen Bauernkriegen, wo die regierenden Habsburger gelichzeitig Kaiserhaus, wie lokalen Landesherrn repräsentierten…
 
Nur, und ich komme wieder darauf zurück, für den Bewohner Frankreichs oder z.B. Bayern machte das doch keinen Unterschied. Der Bauer - und damit der größte Teil der Bevölkerung - war da und dort seinem Grundherren untertan, musste Frondienste leisten, den 10ten, was auch immer. Wo soll es für ihn eine Bedeutung gehabt haben, ob der Landesherr der bayrische Kurfürst oder der franz. König war? Er, dessen Tellerand - sprich die Welt - vllt. die nächste Stadt war, dem ein Reisender aus München oder Paris wie ein Mensch von einem anderen Stern anmuten musste, was konnte er denn für ein nationales Interesse gehabt haben? Wenn ein Interesse, dann doch der nächste Winter, den es zu überleben galt. Wenn aber ein nationales Interesse der Bürger gar nicht vorhanden sein konnte, warum spricht man vom Nationalstaat?

Wie tejason bereits zutreffend geschildert hat, stellte der gemeine Bauer das Mittelalter und die Neuzeit über einen politisch irrelevanten Faktor dar. Er hatte kein politisches Gewicht gegenüber den privilegierten Ständen des Adels und des Klerus, egal ob nun in Frankreich oder Bayern, und folglich hatte er auch keinen Einfluss an der Gestaltung des Staates. Innerhalb des 3. Standes konnte erst ab Ende des 13. Jahrhunderts das städtische Bürgertum aufgrund seiner wirtschaftlichen Potenz ein gewisses Gewicht erlangen, dass z.B. in Frankreich abhängig der jeweiligen politischen Großwetterlage mal mehr oder weniger hoch war.

Diese gesellschaftliche Ordnung herrschte vom Mittelalter bis zur Revolution in allen Ländern Europas vor. Staat wurde von oben gemacht, von den herrschenden Eliten, von denen es abhing wie sich ein Staat gestaltete, ob nun zentralistisch-monarchistisch (Frankreich) oder föderativ-ständisch (HRR). Aber eben die Ausprägung eines Staates konnte letztlich das nationale Zusammenhörigkeitsgefühl all seiner Untertanen beeinflussen, vom Adel bis zum Bauern, wobei es allerdings von dem oder den jeweils Herrschenden abhing, inwieweit sein Staat seinen Untertanen zugänglich und dienlich war.

Wie schon geschildert, konnte der französische Königsstaat ab dem 13. Jahrhundert sein gesamtes Königreich institutionell erfassen, vom Kanal bis zu den Pyrenäen. Ein Bauer bspw. im südfranzösischen Gévaudan mag vielleicht ein politisch uninteressanter Faktor gewesen sein, allerdings hatte er schon die Möglichkeit sich in Streitfällen an einen örtlichen Vertreter des Königs (Senechall, Bailli ect.) zu wenden. Er konnte seine vom König verbrieften Rechte vor einem örtlichen Gericht (Parlement) einfordern und im Zweifelsfall (seit Ludwig IX. 1226-1270) sich gar an übergeordnete Appellationsgerichte wenden.

Inwiefern aber war nun für einen bayrischen Bauern (oder Untertan im Allgemeinen) der königlich/kaiserliche Staat erreichbar. Konnte er sich an einen örtlichen Vertreter des Kaisers wenden, z.B. in einem Streitfall mit dem Herzog? Erst in der frühen Neuzeit wurde im HRR der Versuch unternommen, dem Untertan dies mit dem Reichskammergericht (1495) zu ermöglichen. Hier aber wurden schon bald neue Grenzen aufgezogen, indem bspw. den Kurfürsten (wie dem Herzog von Bayern) das Privileg zugestanden wurde, nicht unter die Appellationsgerichtsbarkeit (Privilegium de non appellando) des Kaisers zu fallen um seine landesherrliche Souveränität zu wahren. Für einen bayrischen Untertan war also letztlich sein Herzog die letzte weltlich relevante Instanz, er war sein Landesherr der die Rechtsordnung bestimmte, der einen bayrischen Staat gestaltete.

Im Rückschluss ist also durchaus eine unterschiedliche Ausprägung von Nationalstaatlichkeit zwischen Frankreich und Deutschland schon im hohen Mittelalter erkennbar. Das Königreich der Kapetinger vereinte fast das gesamte französisch sprechende Volk (mit einigen Randgebieten im HRR noch ausgenommen) in einem dem ihren Staat, womit mMn grundlegende Kriterien für einen Nationalstaat erfüllt sind. Durch eine gemeinsame Sprache, einer auf dem Königtum fußenden staatlichen Einheit und einer mit ihm verbundenen Geschichte stellte sich hier wesentlich früher unter den Menschen ein nationales Zusammengehörigkeitsgefühl ein als in Deutschland. Nur hier konnte z.B. ein Guillaume le Breton(!) im frühen 13. Jahrhundert die Schlacht bei Bouvines (1214) als Waffentat des französischen Volkes verherrlichen. In Deutschland aber war die Sprachnation zwar in einem losen Verbund von Territorialstaaten (HRR) zusammengefügt, besaß aber keine gesamtstaatliche Einheit und keine gemeinsame Geschichte.

excideuil schrieb:
In Nationalstaat steckt Nation. Wenn aber z.B. der franz. König nur Interessen der Monarchie verficht, kann man da von einem Nationalstaat sprechen, wenn die Interessen der Nation gar keine Rolle spielen? Und noch dazu, wenn das Land quasi mit einer horrenden Verschuldung an den Rand der Belastbarkeit gebracht wird, dass eine Revolution ausbricht?

Wie äußert sich den das „Interesse einer Nation“? Vielleicht durch die Verfassung ihrer staatlichen Organisation? Frankreich war vom 13. bis zum Ende des 18. Jahrhunderts ein Königsstaat (Monarchie), die staatliche Ordnung ging vom König aus, legitimiert durch das Gottesgnadentum. Diese an sich schon absolute Ordnung wurde zwischen ihrer Etablierung und der Revolution nur einmal in Frage gestellt, während der Revolte des Etienne Marcel im 14. Jahrhundert.

excideuil schrieb:
Aber nehmen wir die Revolution. War es tatsächlich so, dass die Unruhen nationalem Interesse oder der Erringung der Macht galten? Oder ging es schlicht um Brot?
Nationale Interessen waren doch erst später interessant: "Das Vaterland ist in Gefahr!" Aber der Satz bekam erst nach der Verkündung der Grundrechte Bedeutung!

Grundrechte ist der Punkt. Wird mit ihnen nicht erst ein nationales Interesse deutlich, überhaupt möglich? M.M.n. beruht damit die Definition eines Nationalstaates auf der Idee, dass sich die Bürger eines Landes auch darin wiederfinden können.

Es ist richtig, dass große territoriale Staaten z. Z. des ancien régime eine größere Macht ausüben konnten, aber sind sie deshalb automatisch (frühe) Nationalstaaten? Kann es sein, dass vllt. zuviel Nationalstaat hineingesteckt wird als wirklich drin ist?

Eine staatliche Ordnung kann letztlich nur solang Aufrechterhalten werden, wie sie von den gesellschaftlich relevanten Kreisen akzeptiert oder zumindest geduldet wird. Das französische Königtum hatte sich in seinem überbordenden Absolutismus bis zum Ende des 18. Jahrhunderts soweit vom Konsens mit den Eliten entfernt, vor allem dem Bürgertum, dass diese die alte Ordnung (ancien regime) nicht mehr im Einklang mit dem Willen der Nation sahen. Der König herrschte seit Ludwig XIII. ja noch nicht einmal mehr unter zu Rateziehen der Generalstände, sozusagen dem höchsten Vertretungsorgan des französischen Volkes. Die Revolution war vor allem ein Verfassungskonflikt, indem ein von jeder Kontrolle befreites königliches Gottesgnadentum durch den Willen der Nation begrenzt werden sollte, die Gewalt des Königtums sollte also in Zukunft nicht mehr von Gott sondern von der Nation legitimiert werden („König der Franzosen“ statt „König von Frankreich“), vertreten durch die aus dem 3. Stand hervorgegangene Nationalversammlung. Verfassungsrechtlich bedeutete dies faktisch den Übergang vom Absolutismus hin zu einem Parlamentarismus.

Die Französische Revolution brachte damit in gewisser Weise eine Vollendung des Nationalstaates hervor, in der die Verfassung des Staates nicht mehr nur von der Nation akzeptiert sondern auch direkt bestimmt wird.
 
Mir ist völlig klar, dass z.B. Frankreich und die deutschen Staaten eine andere Entwicklung nahmen. Nur, und ich komme wieder darauf zurück, für den Bewohner Frankreichs oder z.B. Bayern machte das doch keinen Unterschied. Der Bauer - und damit der größte Teil der Bevölkerung - war da und dort seinem Grundherren untertan, musste Frondienste leisten, den 10ten, was auch immer. Wo soll es für ihn eine Bedeutung gehabt haben, ob der Landesherr der bayrische Kurfürst oder der franz. König war?

Es geht hier um Identitäten. Am Anfang der deutschen Geschichte standen die Stämme und die aus ihnen hervorgehenden fürstlichen Territorialstaaten. Ein bayerischer Bauer aus Neufraunhofen identifizierte sich zunächst mit seinem Heimatort und der zugehörigen Grundherrschaft, danach mit Bayern und seinen herzoglichen Landesfürsten.. Mit diesen beiden Herrschaftsträgern hatte er zeit seines Lebens direkt zu tun. Das Dach des Heiligen Römischen Reichs war ein ferner Horizont, ebenfalls die "teutschen lante".

Der französische Bauer identifizierte sich ebenfalls zunächst mit seinem Grundherrn. Danach aber, da es keine landesfürstlichen Territorialstaaten gab, war Frankreich mit den französischen Königen an der Spitze der nächste zentrale Ort der Identifikation. Im Gegensatz zu Deutschland entfiel in Frankreich eine ganze Herrschaftsebene, sodass sich statt einer bayerischen oder sächsischen Identität eine französische herausbildete.
 
@ tejason, Joinville und Dieter

Vielen Dank für eure Beiträge, die mir jetzt doch "auf die Sprünge" geholfen haben. Mein Denkfehler war, dass ich zuviel Nation - in Form von Interesse der Bevölkerung - in einen Nationalstaat gelegt habe. Wieder etwas gelernt!
Nochmals vielen Dank!

Grüße
excideuil
 
@ tejason, Joinville und Dieter

Vielen Dank für eure Beiträge,

Gern! :winke:

Ein noch extremeres Beispiel als Deutschland ist Italien. Über den italienischen Stadtstaaten und Signorien gab es überhaupt kein verbindendes Herrschaftsdach, denn den Kaiser des Heiligen Römischen Reichs würde ich nicht als solchen betrachten. De facto war Italien seit dem hohen Mittealter ein Konglomerat aus einer Fülle kleiner und mittelgroßer Territorien, zudem später durchzogen von Armeen der Habsburger und Franzosen, die um die Vorherrschaft stritten.

Auch dort wirkte die Französische Revolution wie ein Katalysator, der im 18. Jh. die Forderung nach einem italienischen Nationalstaat befeuerte. Das gelang dann ebenso wie in Deutschland, allerdings im Unterschied dazu nicht auf föderaler Basis.
 
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