Potsdamer Protokoll

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In unserem Geschichtsbuch gibt es eine Aufgabe: Vergleiche Theorie und Praxis der Bestimmung des Potsdamer Protokolls. Leider weiß ich überhaupt nicht, was ich dazu schreiben soll. Gibt es Ansätze ?
 
also; ich denke mal, dass du die potsdamer konferenz meinst. In der Potsdamer Konferenz wurde über die Zukunft Deutschlands diskutiert. Teilnehmer waren Churchill, Truman und Stalin. Über einige Dinge waren sich alle Siegermächte einig; Demilitarisierung, Denazifizierung, Dezentralisierung und noch eine Sache. Es wurde außerdem noch beschlossen, dass Deutschland unter eine demokratische Ordnung gesteckt werden sollte. Hierbei ergab sich ein Problem, da die Siegermächte (explizit Stalin9 etwas Anderes von Demokratie verstanden und dieser außgemachte Punkt in der Praxis wohl nicht realisiert werden konnte.

Am Besten ist, dass du dir die Beschlüsse durchliest. Dann wirst du schon feststellen, in welchen Punkten sich die Siegermächte nur theoretisch einig waren.
 
Die "5 Ds": Denazifizierung, Demokratisierung, Dezentralisierung, Demilitarisierung, Dekartellisierung (Großindustrie zerschlagen, man findet auch manchmal Demontage als Begriff, den halte ich aber nicht für wirklich zutreffend).
 
Die "5 Ds": Denazifizierung, Demokratisierung, Dezentralisierung, Demilitarisierung, Dekartellisierung (Großindustrie zerschlagen, man findet auch manchmal Demontage als Begriff, den halte ich aber nicht für wirklich zutreffend).

Der Begriff ist absolut zutreffend, sowohl in Westdeutschland als auch im Gebiet der ehemaligen DDR wurden rießige Werte abgebaut, in Ostedeutschland z.B. großflächig das zweite Gleis im Eisenbahnverkehr. Die Zerschlagung der Großindustrie war sicherlich auch ein Aspekt, aber die Demontage ist von hoher Bedeutung, insbesondere für die 49 entstandene DDR, die massiv unter den sowjetischen Demontagen litt. Z.B. wurden auch wichtige Betrieb in SAGs umgewandelt, Sowjetische Aktiengesellschaften. Das sollte man auf keinen Fall unterschätzen.

Ein anderer Beschluss war die Vertreibung der deutschen Bevölkerung aus den abgetrennten Ostgebieten.
 
Wenn Du schon über Begriffe streiten möchtest, die "Vertreibung" wurde NICHT beschlossen, die Ostgebiete nicht "abgetrennt".

Die Ostgebiete wurden unter polnische bzw. sowjetische Verwaltung gestellt, näheres sollte ein Friedensvertrag regeln, der dann wegen des kalten Krieges etwas länger auf sich warten ließ.

Bei "Vertreibung" hat man ganz bestimmte Bilder im Kopf und was wirklich geschah, war wohl auch eine Vertreibung. Beschlossen in Potsdam hatte man:

"Die drei Regierungen haben die Frage unter allen Gesichtspunkten beraten und erkennen an, daß die Überführung der deutschen Bevölkerung oder Bestandteile derselben, die in Polen, Tschechoslowakei und Ungarn zurückgeblieben sind, nach Deutschland durchgeführt werden muß. Sie stimmen darin überein, daß jede derartige Überführung, die stattfinden wird, in ordnungsgemäßer und humaner Weise erfolgen soll."

Nun kann man natürlich darüber diskutieren, ob eine zwangsweise Überführung und eine Vertreibung nicht das Gleiche sind, aber in Potsdam wurde beschlossen, dass dies auf "humane Weise" erfolgen sollte - etwas, das bei der tatsächlichen Vertreibung nicht unbedingt eingehalten wurde. Somit wäre ich vorsichtig, davon zu sprechen, dass in Potsdam die "Vertreibung" beschlossen wurde, da man leicht darunter verstehen könnte, die Vertreibung mit allen Ungerechtigkeiten und Gräuel, die passiert sind.

Darüber hinaus ist zu beachten, dass die Vertreibung zu diesem Zeitpunkt schon begonnen hatte und die polnische und tschechische Regierung durch die Potsdamer Protokolle sogar ersucht wurden, diese Vertreibungen zunächst einzustellen.
 
Wenn Du schon über Begriffe streiten möchtest, die "Vertreibung" wurde NICHT beschlossen, die Ostgebiete nicht "abgetrennt".

Die Ostgebiete wurden unter polnische bzw. sowjetische Verwaltung gestellt, näheres sollte ein Friedensvertrag regeln, der dann wegen des kalten Krieges etwas länger auf sich warten ließ.

Bei "Vertreibung" hat man ganz bestimmte Bilder im Kopf und was wirklich geschah, war wohl auch eine Vertreibung. Beschlossen in Potsdam hatte man:

"Die drei Regierungen haben die Frage unter allen Gesichtspunkten beraten und erkennen an, daß die Überführung der deutschen Bevölkerung oder Bestandteile derselben, die in Polen, Tschechoslowakei und Ungarn zurückgeblieben sind, nach Deutschland durchgeführt werden muß. Sie stimmen darin überein, daß jede derartige Überführung, die stattfinden wird, in ordnungsgemäßer und humaner Weise erfolgen soll."

Nun kann man natürlich darüber diskutieren, ob eine zwangsweise Überführung und eine Vertreibung nicht das Gleiche sind, aber in Potsdam wurde beschlossen, dass dies auf "humane Weise" erfolgen sollte - etwas, das bei der tatsächlichen Vertreibung nicht unbedingt eingehalten wurde. Somit wäre ich vorsichtig, davon zu sprechen, dass in Potsdam die "Vertreibung" beschlossen wurde, da man leicht darunter verstehen könnte, die Vertreibung mit allen Ungerechtigkeiten und Gräuel, die passiert sind.

Darüber hinaus ist zu beachten, dass die Vertreibung zu diesem Zeitpunkt schon begonnen hatte und die polnische und tschechische Regierung durch die Potsdamer Protokolle sogar ersucht wurden, diese Vertreibungen zunächst einzustellen.


Im Potsdamer Abkommen stand auch allerhand zur DeNazifizierung und zur Demokratie. Wie das in den einzelnen Länder umgesetzt wurde war dann wieder Ansichtssache, siehe z.B. die Bodenreform in der SBZ oder die Entnazifizierung in allen Zonen, wo das Engagement ja auch zunehmend immer schwächer wurde.

Daher sollte man die Wendungen im Abkommen, wie du ja schon angedeutet hast, durchaus hinterfragen.
 
Das wäre mir eine zu grobe Vereinfachung, vor allem, wenn die Behauptung war, es wäre die "Vertreibung" beschlossen worden.
 
Das wäre mir eine zu grobe Vereinfachung, vor allem, wenn die Behauptung war, es wäre die "Vertreibung" beschlossen worden.


Natürlich haben sie das nicht wortwörtlich beschlossen, aber es geschah in ihrem Machtbereich und sie haben nicht wesentlich ordnend eingegriffen, also fällt es zum größten Teil in ihre Verantwortung.

Bzw. wurde es mehr oder weniger initiiert, denn die Westveschiebung Polens resultiert ja hauptsächlich daraus, dass die UDSSR ihre Gewinne aus dem Hitler-Stalin-Pakt sichern wollte.
 
Es geschah im Machtbereich der Sowjetunion, die zum Zeitpunkt als die Vertreibung begann, noch ganz andere Sorgen hatte. Wenn überhaupt, hätte die SU "ordnend" eingreifen können.

Gerade, weil die Fragestellung hier in die Richtung geht, was denn beschlossen wurde und was dann genau geschah, halte ich es für wichtig, genau zu trennen, was im Protokoll steht und was passierte:

- "ordnungsgemäße Überführung auf humane Art" gegen "Vertreigung"

- "Gebiete unter polnische Verwaltung gestellt bis zur Regelung durch Friedensvertrag" gegen "Abtrennung" und "Westverschiebung Polens"

Auf mich macht das Protokoll durchaus den Eindruck, dass GB und USA mit dem, was tatsächlich geschah, NICHT einverstanden waren, es aber nicht ändern konnte bzw. zu dem Zeitpunkt andere Dinge für zu wichtig erachteten, als mit der SU über diese Fragen in Konflikt zu geraten. Auffällig ist, dass auf der Potsdamer Konferenz vergleichsweise wenige endgültige Entscheidungen getroffen wurden, man sehr viel auf einen späteren Friedensvertrag schob. Man konnte sich also in den Detailfragen schon gar nicht mehr einigen, sah sich aber gezwungen, ein Übereinkommen zu unterschreiben.
 
Auf mich macht das Protokoll durchaus den Eindruck, dass GB und USA mit dem, was tatsächlich geschah, NICHT einverstanden waren, es aber nicht ändern konnte bzw. zu dem Zeitpunkt andere Dinge für zu wichtig erachteten, als mit der SU über diese Fragen in Konflikt zu geraten.

Eine andere Sicht der Dinge hier [1]:
"Die vom Potsdamer Abkommen im XIII. Abschnitt dokumentierte Hinnahme der Praxis von Massendeportationen war von verheerender politisch-moralischer Auswirkung und hat es insgesamt entwertet. Besonders schwerwiegend war die Behandlung der damit verbundenen Praxis des Territorialerwerbs. In bezug auf das deutsche Staatsterritorium waren 8 bis 9 Millionen deutsche Staatsbürger betroffen, von denen ca. 7 Mio. vertrieben wurden. Die Idee der Westverschiebung Polens erhielt, verbunden mit der Massendeportation der Menschen, geradezu apokalyptische Züge. Daß die Grenzfrage zwischen Deutschland und Polen durch den Zwei-plus-Vier-Vertrag von 1990 rechtlich nunmehr erledigt wurde, nimmt der Art und Weise der Territorialveränderung im Jahre 1945 ff. nichts von ihrer Völkerrechtswidrigkeit. Das gesamte Völkerrecht wurde von der Staatenpraxis der Potsdamer Konferenz in seiner Entwicklung zurückgeworfen auf den Zustand einer machtpolitisch zugelassenen Barbarei. [...]
Damit ist zugleich eine Beurteilung des gesamten Konferenzergebnisses ausgesprochen. Denn so sehr die Vertragspartner ursprünglich eine Grundlage für eine künftige Friedensordnung beabsichtigt haben mochten, so überaus fragwürdig wurde das Dokument verbunden mit der zwar fehlenden rechtlichen, aber um so wirksameren politisch fortwirkenden Ermöglichung einer überaus verwerflichen Staatenpraxis nach dem Ende der Kampfhandlungen."


[1] SAARBRÜCKER BIBLIOTHEK
 
Ich sehe jetzt gerade nicht so ganz, wo die andere Sicht der Dinge bzw. der Widerspruch zu meinem Beitrag sein soll. Über die Ansichten der Amerikaner und Engländer sagt Fiedler gar nichts (wenn überhaupt, so klingt es auch bei ihm an, dass das, was man wollte nicht das war, was heraus kam). Er schreibt, dass man die Praxis der Vertreibung hinnahm. Dem würde ich auch nicht widersprechen (beschlossen hat man etwas anderes, man hat den Beschluss aber nicht umgesetzt - meiner Ansicht nach von Seiten der Amerikaner und Engländer, weil man nicht konnte - das Gebiet war im sowjetischen Einflussbereich - und es aus ihrer Sicht wichtigere Punkte auf der Agenda gab ... z.B., es sich nicht gleich mit der Sowjetunion zu verderben).

anderes Zitat aus dem gleichen Aufsatz Fiedlers (Hervorhebungen von mir):

"Die westlichen Teilnehmer der Konferenz verteidigten sich mit dem Argument, man habe sich nur den bereits geschaffenen Tatsachen gebeugt. Die Literatur weist darauf hin, daß die Westmächte, insbesondere W. Churchill durchaus mäßigend gewirkt hätten, was vor allem im Wortlaut des XIII. Abschnitts zum Ausdruck gekommen sei.[25]

In der Tat zeigt eine sorgfältige Nachzeichnung der Konferenz-Vorgänge insgesamt "das Bemühen der westlichen Alliierten, den Umfang der Umsiedlungen auf ein Minimum zu beschränken, den gesamten Vorgang hinauszuzögern und über einen möglichst langen Zeitraum zu erstrecken und vor allen Dingen unter internationaler Kontrolle auf der Grundlage internationaler Vereinbarungen in geregelter und humaner Weise durchzuführen."[26] Ebenso deutlich war, daß die als "Potsdamer Abkommen" bezeichneten Dokumente keine Vertreibungs-Anordnung bedeuteten oder sogar als entsprechender "Befehl" der drei Regierungschefs aufgefaßt werden könnten.[27] Im Blick auf die Einwirkung der Konferenzergebnisse auf die Entwicklung des Völkerrechts läßt sich aber auch ein anderer Gesichtspunkt herausheben. O. Kimminich hat vorsichtig formuliert: "Eine internationale Konferenz, die vor vollendeten Tatsachen kapituliert, ist kein Ruhmesblatt in der Geschichte der Diplomatie".[28]"
 
Ich sehe jetzt gerade nicht so ganz, wo die andere Sicht der Dinge bzw. der Widerspruch zu meinem Beitrag sein soll. Über die Ansichten der Amerikaner und Engländer sagt Fiedler gar nichts (wenn überhaupt, so klingt es auch bei ihm an, dass das, was man wollte nicht das war, was heraus kam). Er schreibt, dass man die Praxis der Vertreibung hinnahm. Dem würde ich auch nicht widersprechen (beschlossen hat man etwas anderes, man hat den Beschluss aber nicht umgesetzt - meiner Ansicht nach von Seiten der Amerikaner und Engländer, weil man nicht konnte - das Gebiet war im sowjetischen Einflussbereich - und es aus ihrer Sicht wichtigere Punkte auf der Agenda gab ... z.B., es sich nicht gleich mit der Sowjetunion zu verderben).

anderes Zitat aus dem gleichen Aufsatz Fiedlers (Hervorhebungen von mir):

"Die westlichen Teilnehmer der Konferenz verteidigten sich mit dem Argument, man habe sich nur den bereits geschaffenen Tatsachen gebeugt. Die Literatur weist darauf hin, daß die Westmächte, insbesondere W. Churchill durchaus mäßigend gewirkt hätten, was vor allem im Wortlaut des XIII. Abschnitts zum Ausdruck gekommen sei.[25]

In der Tat zeigt eine sorgfältige Nachzeichnung der Konferenz-Vorgänge insgesamt "das Bemühen der westlichen Alliierten, den Umfang der Umsiedlungen auf ein Minimum zu beschränken, den gesamten Vorgang hinauszuzögern und über einen möglichst langen Zeitraum zu erstrecken und vor allen Dingen unter internationaler Kontrolle auf der Grundlage internationaler Vereinbarungen in geregelter und humaner Weise durchzuführen."[26] Ebenso deutlich war, daß die als "Potsdamer Abkommen" bezeichneten Dokumente keine Vertreibungs-Anordnung bedeuteten oder sogar als entsprechender "Befehl" der drei Regierungschefs aufgefaßt werden könnten.[27] Im Blick auf die Einwirkung der Konferenzergebnisse auf die Entwicklung des Völkerrechts läßt sich aber auch ein anderer Gesichtspunkt herausheben. O. Kimminich hat vorsichtig formuliert: "Eine internationale Konferenz, die vor vollendeten Tatsachen kapituliert, ist kein Ruhmesblatt in der Geschichte der Diplomatie".[28]"

Ich verstehe nicht, wieso du so auf den Wortlauf fokussiert bist. Die Besatzungsmächte haben sich auch auf gemeinsame demokratische Grundsätze usw. geeinigt, dass das in der SBZ überhaupt nicht ernstgenommen bzw. in geradezu konträer Weise interpretiert worden ist, dürfte den Alliierten doch von vorneherein klar gewesen sein.

Die waren doch selber von einem Anti-Bolschewismus erfüllt, der kam doch nicht erst plötzlich 47 mit Truman zutage.

Die Hinnahme der Vertreibung, die du ja selber anerkennst, lässt sich doch nicht vom Wortlaut eines Dokuments kaschieren. Dass das ganze in einem Friedensvertrag geregelt werden sollte ändert an der eigentlichen Änderung der Grenze gar nichts. Denn das man eine umgekehrte "Umsiedlung" dann nochmal durchgeführt hätte, stand damals und erst Recht nicht 1990, berechtigter Weise, zur Disposition.
 
Ich bin erstens deshalb auf den Wortlaut fokussiert, weil die Ausgangsfrage genau auf diesen Unterschied zwischen Worten und Taten abzielte.

Zweitens: Von einem "es wurde die Vertreibung BESCHLOSSEN (DEINE Worte)" zu "Sie nahmen die Vertreibung hin" ist es ein riesiger Unterschied. Wer das anders sieht, betreibt keine GeschichtsWISSENSCHAFT.

Drittens: Ich bin mir gar nicht so sicher, dass DEN Alliierten, die in Potsdam das Protokoll unterschrieben so genau klar war, mit wem sie es in Gestalt Stalins zu tun hatten - Roosevelt war gestorben, Truman noch nicht allzu lange im Amt. Churchill wurde ja noch während der laufenden Konferenz von Attlee abgelöst.

Viertens: Die Grenzziehung bedingt nicht notwendigerweise zwingend eine Umsiedlung (vgl. nach dem Ersten Weltkrieg, als das Sudetenland an die Tschechoslowakei kam).

Die Vertreibung hatte schon begonnen, als man sich in Potsdam traf. Ich sehe nicht so ganz, wie es den Amerikanern und Engländern möglich gewesen wäre, sie zu unterbinden. Das Potsdamer Protokoll würde ich als Versuch sehen, sie in geregeltere Formen zu bringen. Gleiches gilt für die Westverschiebung Polens. Auch hier hatte Stalin schon Tatsachen geschaffen. Und meiner Ansicht nach zeigt genau der Wortlaut, dass die Amerikaner und Engländer das zähneknirschend hinnahmen bzw. noch erreichten, dass das zumindest theoretisch als Übergangslösung gesehen werden soll - von beschließen kann da keine Rede sein.
 
Ich sehe jetzt gerade nicht so ganz, wo die andere Sicht der Dinge bzw. der Widerspruch zu meinem Beitrag sein soll.
Von "Widerspruch" habe ich nix geschrieben, d.h. ich sehe keinen grundlegenden Dissenz zwischen uns. Die "andere Sicht" bezog ich auf die von Fiedler artikulierte Botschaft, die von Potsdam ausging. In meinen eigenen Worten, etwas grobschlächtig:
Amerikaner und Briten führten den Krieg gegen Nazideutschland, das sich u.a. schlimmster Verbrechen gegen die Menschlichkeit schuldig gemacht hatte, mit dem Ziel einer künftigen Friedensordnung, die solche Verbrechen ausschließt. Da passt es wie die Faust aufs Auge, dass im gleichen Zuge die schon vor Kriegsende angelaufenen "ethnischen Säuberungen" [1] "hingenommen" werden.

Die Problematik liegt - laut Fiedler - "in der grundsätzlichen rechtlichen Einstufung des Vorgangs der Vertreibung und Deportation, im erkennbar geringen Stellenwert der humanitären Grundfrage. Daß das Schicksal der betreffenden Bevölkerung während der Konferenz und in den vorbereitenden Konferenzpapieren kaum eine Rolle spielte, ist bezeichnend für den Tiefstand des Rechtsbewußtseins für den damaligen Zeitpunkt." Das Potsdamer Protokoll lieferte für die nachher erfolgten Massendeportationen "zwar keine ausdrücklich rechtliche, politisch dafür aber eine um so effektivere Grundlage", es hat "dazu beigetragen, Massendeportationen und Massentötungen mit dem Anschein der Rechtmäßigkeit zu versehen, auch wenn dies einer exakten juristischen Bestandsaufnahme gerade nicht entspricht."

Über die Ansichten der Amerikaner und Engländer sagt Fiedler gar nichts (wenn überhaupt, so klingt es auch bei ihm an, dass das, was man wollte nicht das war, was heraus kam). Er schreibt, dass man die Praxis der Vertreibung hinnahm. Dem würde ich auch nicht widersprechen (beschlossen hat man etwas anderes, man hat den Beschluss aber nicht umgesetzt - meiner Ansicht nach von Seiten der Amerikaner und Engländer, weil man nicht konnte - das Gebiet war im sowjetischen Einflussbereich - und es aus ihrer Sicht wichtigere Punkte auf der Agenda gab ... z.B., es sich nicht gleich mit der Sowjetunion zu verderben).
"Hinnehmen" ist ein untechnischer Begriff, der nach deutschem Recht wohl am besten mit "Unterlassung" qualifiziert werden kann. [2] Ob sich Amerikaner und Briten anders hätten verhalten können, ist natürlich eine hochspekulative Frage. Welche "wichtigeren Punkte" (wichtiger als der Kampf für Menschlichkeit und für eine neue Friedensordnung) standen zum fraglichen Zeitpunkt auf der Agenda? Das "Verderben" mit der Sowjetunion folgte bekanntlich schon sehr bald.

Aber wollten sich die Westmächte anders verhalten? Fiedler meint, dass z.B. Churchill "durchaus mäßigend gewirkt" hätte. Das begegnet Zweifeln [3]:
Der Entschluss zur Vertreibung wurde auf polnischer und tschechoslowakischer Seite ja lange vor Kriegsende gefasst, und natürlich wurden Roosevelt und Churchill dazu konsultiert. "Churchill behandelte das Thema besonders ungerührt. Schon am 9. Oktober 1944 bemerkte er zu Stalin, sieben Millionen Deutsche würden im Krieg umkommen, damit wäre im Rumpfdeutschland genug Platz für die Deutschen aus Schlesien und Ostpreußen." In Jalta entspann sich zwischen den beiden folgender Wortwechsel:
"Stalin: Dort [im deutschen Osten] werden keine Deutschen mehr sein, denn wenn unsere Truppen kommen, laufen die Deutschen weg.
Churchull: Dann ist da das Problem, was man in Deutschland mit ihnen macht. Wir haben sechs oder sieben Millionen getötet und werden bis Ende des Krieges wahrscheinlich noch eine Million töten.
Stalin: Eine oder zwei?
Churchill: Oh, da ziehe ich keine Grenze nach oben. Es wird also Platz genug sein in Deutschland für die, die die Lücke füllen müssen."

Was den zitierten Art. XIII betrifft, darf bezweifelt werden, dass tatsächlich humanitäre Erwägungen im Vordergrund standen [4]: "Amerikaner und Briten machten sich immer mehr Sorgen über die Kosten für ihren Staatshaushalt, wenn die [deportierten] Deutschen in ihren Besatzungszonen ernährt und untergebracht werden mußten. Dies hatte eine wichtige Auswirkung auf die Diskussionen über deutsche Reparationen und weckte auch ihre Sorgen über den ständigen Zustrom von Deutschen aus Polen und der Tschechoslowakei. Aus diesem Grund bestanden die Westalliierten darauf, der Prozeß der Deportation müsse gebremst werden und geregelt ablaufen. Die Sowjets stimmten zu, und Artikel XIII des Potsdamer Abkommens besiegelte diese Übereinkunft [...]."


[1] Wenn ich hier auch "Verbrechen" schriebe, röche es nach Aufrechnung - das liegt mir völlig fern. Siehe zum Tatbestand VStGB - Einzelnorm.
[2] Vielleicht am adäquatesten: "Ein Verbrechen oder Vergehen kann auch durch pflichtwidriges Untätigbleiben begangen werden." (§ 11 schweizerisches Strafgesetzbuch).
[3] Das Folgende nach Naimark: Flammender Hass. Ethnische Säuberungen im 20. Jahrhundert. Liz. Bonn 2009, S. 140f.
[4] aaO, S. 142 (Hervorh. von mir)
 
Dazu einige quellenkritische Mutmaßungen:

Der Hinweis von Naimark bezieht sich - gemäß CWIHP - auf die russischen Archive zu dem Protokoll. Das ist beachtenswert.

Ein CWIHP-Bulletin vom Winter 2000 gibt es nicht. Die Ausgabe vom Fall/Winter 2001 enthält dieses Protokoll nicht. Aber vielleicht suche ich nicht richtig:
Cold War International History Project : Publications :

Die behauptete Churchill-Äußerung bzgl. der 6-7 Mio. Toten widerspricht mE der britischen Informationslage und den zeitgenössischen Einschätzungen zum Bombenkrieg im Westen. Er hätte Stalin also angelogen (wieso?) und zugleich die Aktionen Stalins einladungsweise forciert. Die allierte Auffassung vom Februar 1945 spiegelte das Kriegsende in wenigen Wochen/Monaten, dies ist widersprüchlich zu den genannten Folgezahlen 1-2.

Prima vista erscheint mir die Passage wenig glaubwürdig.
 
Nur als Anmerkung: "Hinnehmen" ist für mich nicht neutral - mein Synonymwörterbuch spuckt da u.a. aus:
"ertragen, sich abfinden mit, durchmachen, erdulden, erleiden, leiden, sich ergeben in, sich fügen in, sich schicken in, tragen, verschmerzen, aushalten, ausstehen".

Wichtigere Punkte für England und USA? Als die Vertreibungen begannen, war noch Krieg (bitte auch den pazifischen Krieg bedenken - man befand sich auch nach der Konferenz von Potsdam noch im Krieg). Da schien es wohl zunächst wichtiger, den Krieg erfolgreich zu beenden - und auch wenn ein Konflikt mit Stalin absehbar war, sollte dieser wohl zumindest noch solange hinausgeschoben werden, bis man Japan besiegt hatte.

Zu Naimark und den Aussagen Churchills hat Silesia ja schon etwas geschrieben.
 
Der Hinweis von Naimark bezieht sich - gemäß CWIHP - auf die russischen Archive zu dem Protokoll. Das ist beachtenswert.

Da muss ich mich korrigieren:

Für das Churchill-Zitat wird als Quelle angegeben: Foreign Relations of the United States-Diplomatic Papers: The Conference at Malta and Yalta 1945, aus 1955, S. 720.
 
In Jalta entspann sich zwischen den beiden folgender Wortwechsel:
"Stalin: Dort [im deutschen Osten] werden keine Deutschen mehr sein, denn wenn unsere Truppen kommen, laufen die Deutschen weg.
Churchull: Dann ist da das Problem, was man in Deutschland mit ihnen macht. Wir haben sechs oder sieben Millionen getötet und werden bis Ende des Krieges wahrscheinlich noch eine Million töten.
Stalin: Eine oder zwei?
Churchill: Oh, da ziehe ich keine Grenze nach oben. Es wird also Platz genug sein in Deutschland für die, die die Lücke füllen müssen."

Ich habe die bei Naimark zitierte Quelle nachgesehen. Das Zitat entspricht den sog. "Matthew Minutes" (Teilnehmer US-Delegation):

Stalin: There will be no more Germans there for when our troops come in the Germans run away and no Germans are left.
Churchill: Then there is a problem of how to handle them in Germany. We have killed six or seven million and probably will kill another million before the end of the war.
Stalin: One or two?
Churchill: Oh I am not proposing any limitation on them. So there should be room in Germany for some who will need to fill the vacancy. I am not afraid of the problem of the transfer of population as long as it is in proportion to what the Poles can manage and what can be put in the place of the dead in Germany.


Allerdings gibt es eine zweite Aufzeichnung desselben Gesprächs, die sog. "Bohlen Minutes" (ebenfalls US-Delegation):


Stalin remarked that most Germans in those areas had already run away from the Red Army.
The P.M. said this, of course, simplified the problem, and in regard to the question of space in Germany for those deported persons he felt that the fact that Germany had six to seven million casualties in this war and would probably have a million more would simpilify that problem.
Stalin replied, that the Germans might well have one or possibly two million more casualties.
The P.M. said that he wasn´t afraid of the problem of the transfer of populations provided that it was proportionend to the capacity of the Poles to handle and the capability of the Germans to receive them. He felt, however, that it needs study, not only in principle but as a practical matter.


Damit gibt es zwei Versionen des Gesprächs, die sich eben nicht nur nuancenhaft unterscheiden. Diese nicht abzuwägen bzw. beide Versionen zu zitieren, ist ein handwerklicher Fehler des Autors. Ergänzend: die "Bohlen-Minutes" sind wesentlich umfangreicher.


Nicht genug damit, es gibt eine dritte Variante, die "Hiss-Minutes" (ebenfalls US-Delegation): ;)

Stalin: Says there are no more Gers there. Where our troops come in they find no Gers.
Church: We have killed 5 or 6 mi. prob. another million before the end. There ought to be room in Ger. for people transferred They will be needed to fill vacancies So not afraid of prob. of transferring pop. so long as proportioned.
 
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