Franklin Delano Roosevelt, Rede in Chicago am 5.10.1937 (sog. "Quarantäne-Rede")
Quelle: "Roosevelt spricht", 1945, Bermann-Fischer-Verlag, Stockholm
Es freut mich, dass ich wieder einmal nach Chicago kommen konnte, und ganz besonders, dass ich wieder Gelegenheit habe, an der Einweihung eines so bedeutenden gemeinnützigen Werkes teilzunehmen.
Auf meiner Reise kreuz und quer über den Kontinent habe ich viele Beweise dafür gesehen, was eine vernünftige Zusammenarbeit wischen den Kommunalbehörden und der Bundesregierung zuwege bringen kann. Zehntausende von Amerikanern haben mich begrüßt und mir mit jedem Blick und jedem Wort zu verstehen gegeben, dass in den letzten paar Jahren ihr materielles und seelisches Wohlbefinden große Fortschritte gemacht hat.
Aber als ich mit meinen eigenen Augen die blühenden Farmen, die prächtigen Fabriken und den lebhaften Eisenbahnverkehr sah, als ich das Glück und die Sicherheit und den Frieden sah, die in unserem großen Lande herrschen, war ich fast unvermeidlich gezwungen, unsere friedlichen Zustände mit recht anders gearteten Szenen zu vergleichen, die in anderen Gegenden der Welt sich abspielen.
Da das Volk der Vereinigten Staaten unter den heutigen Umständen, im Interesse seiner eigenen Zukunft, auch an die übrige Welt denken muß, habe ich als verantwortlicher Chef der Exekutive diese große Stadt im Zentrum des Landes und diesen feierlichen Anlaß gewählt, um über ein Thema zu sprechen, das für uns selber von wesentlicher Bedeutung ist.
Die politische Weltlage hat sich in der letzten Zeit immer mehr verschlimmert und ist nun geeignet, allen den Völkern und Ländern, die mit ihren Nachbarn in Frieden und Eintracht leben wollen, ernste Besorgnisse und Befürchtungen einzuflößen.
Vor etwa fünfzehn Jahren, als über sechzehn Nationen sich feierlich verpflichteten, nie mehr zur Förderung ihrer nationalen und politischen Ziele zu den Waffen zu greifen, stiegen die Hoffnungen der Menschheit auf eine dauerhafte Friedensära zu den höchsten Höhen. Die im Briand-Kellogg-Pakt verkörperten hohen Erwartungen und die durch diesen Pakt erweckten Friedenshoffnungen sind in der letzten Zeit einer schleichenden Angst vor kommenden Katastrophen gewichen. Das Gewaltregime und die internationale Gesetzlosigkeit, denen wir heute begegnen, haben eigentlich erst vor wenigen Jahre eingesetzt.
Es begann damit, dass man sich ohne Berechtigung in die inneren Angelegenheiten anderer Völker einmischte oder im Widerspruch zu geltenden Verträgen fremdes Gebiet besetzte, und nun ist ein Stadium erreicht, da die eigentlichen Grundlagen der Zivilisation ernstlich bedroht sind. Die Marksteine und Traditionen, die die Entwicklung der Zivilisation zur Gesetzlichkeit, Ordnung und Gerechtigkeit kennzeichneten, werden allmählich zerschlagen.
Ohne Kriegserklärung, ohne irgendwelche Warnung, ohne irgendwelche Berechtigung wird die Zivilbevölkerung, einschließlich der Frauen und Kinder, rücksichtslos durch Luftbombardements hingemordet. In sogenannten Friedenszeiten werden ohne Anlaß oder Warnung Schiffe von U-Booten angegriffen. Völker schüren den Bürgerkrieg – und ergreifen Partei – in fremden Ländern, die ihnen nie etwas zuleide getan haben. Völker, die für sich selber die Freiheit fordern, verweigern sie anderen.
Unschuldige Völker und Länder werden grausam hingeopfert für eine Machtgier und ein Herrschaftsbestreben, die kein Gerechtigkeitsgefühl und keine menschlichen Rücksichten kennen.
Wie neulich ein Verfasser schrieb: "Vielleicht gehen wir einer Zeit entgegen, da die Menschen schwelgend in der Technik des Mordens, mit solcher Raserei über die Welt hinwegstürmen werden, dass alle Kostbarkeiten in Gefahr sind, jedes Buch, jedes Bild, jede Harmonie, alle die Schätze, die unter zwei Jahrtausenden angehäuft wurden, alles Kleine, alles Zarte, alles Wehrlose – dass alles verloren geht, zerstört oder völlig ausgetilgt wird."
Wenn so etwas in anderen Gegenden der Welt passiert, dann soll niemand sich einbilden, dass Amerika entrinnen werde, dass es Pardon erwarten dürfe, dass die westliche Hemisphäre keinen Angriff zu befürchten habe, dass sie auch weiterhin ruhig und friedlich die Traditionen der Moral und der Zivilisation bewahren könne.
Wenn dieser Tag kommt, "dann wird man von den Waffen keine Sicherheit zu erwarten haben, keine Hilfe von den Behörden, keine Antwort von der Wissenschaft. Der Sturm wird so lange wüten, bis alle Blüten der Kultur zu Boden geschlagen und alle menschlichen Wesen in ein ungeheures Chaos aufgelöst worden sind."
Wenn dieser Tag nicht kommen soll – wenn wir eine Welt haben wollen, in der wir frei atmen können und in Eintracht leben, ohne Furcht -, dann müssen die friedliebenden Nationen sich gemeinsam anstrengen, um die Gesetze und Grundsätze aufrechtzuerhalten, die die einzigen sicheren Grundlagen des Friedens sind.
Die friedliebenden Nationen müssen sich gemeinsam bemühen, Front zu machen gegen die Vertragsbrüche und diese Verachtung für menschliche Gefühle, die einen Zustand der internationalen Anarchie und Unsicherheit schaffen, dem man nicht einfach durch Isolierung oder Neutralität entrinnen kann.
Alle, die ihre Freiheit lieben und ebenso ihren Nachbarn das Recht zubilligen, frei zu sein und in Frieden zu leben, müssen gemeinsam für den Sieg des Rechtes und der Moral wirken, damit Friede, Gerechtigkeit und Zuversicht in der Welt vorherrschen. Es muss wieder dahin kommen, dass man an das gegebene Wort und an den Wert eines unterzeichneten Vertrages glaubt. Es muß als eine Tatsache gelten, dass ein moralisches Verhalten für die Nation genauso wichtig ist wie für den einzelnen.
Neulich hat mir ein Bischof folgendes geschrieben: "Ich halte es für sehr notwendig, dass jemand im Namen der einfachsten Menschlichkeit gegen die neueste Methode protestiert, die Zivilbevölkerung, besonders Frauen und Kinder, den Schrecken des Krieges zu unterwerfen. Vielleicht werden viele, die sich Realisten nennen, einen solchen Protest für zwecklos halten. Aber sind nicht vielleicht die Herzen der Menschen so erfüllt von Entsetzen vor diesen überflüssigen Leiden, dass diese innere Kraft in genügendem Ausmaß mobilisiert werden könnte, um künftighin solche Grausamkeiten zu mildern? Wenn es auch, was Gott verhüten möge, vielleicht zwanzig Jahre dauern wird, bevor der gemeinsame Protest der zivilisierten Welt gegen diese Barbarei sich geltend macht, können doch sicherlich kraftvolle Stimmen den Tag näherrücken."
In der modernen Welt existiert, sowohl technisch wie auch moralisch, eine zwangsläufige Solidarität und gegenseitige Abhängigkeit, die es keinem Volk gestatten, sich von den wirtschaftlichen und politischen Umwälzungen in der übrigen Welt völlig zu isolieren, besonders wenn diese Umwälzungen allem Anschein nach nicht einschlafen, sondern weitergehen. Weder im Innern eines Landes noch zwischen den Ländern können Stabilität und Friede herrschen, wenn nicht alle sich zu denselben Gesetzen und moralischen Richtlinien bekennen. Internationale Anarchie zerstört die Grundlagen des Friedens, gefährdet die unmittelbare oder künftige Sicherheit jeder einzelnen Nation, mag sie groß oder klein sein. Daher ist es für das amerikanische Volk von vitaler Bedeutung, dass man wieder dahin gelangt, die internationalen Verträge zu achten und die internationale Moral zu bewahren.
Die Völker und Länder der Welt in ihrer überwiegenden Mehrzahl wollen in Frieden leben. Sie wollen die Handelsschranken beseitigt sehen. Sie wollen in der Industrie, in der Landwirtschaft, im Geschäftsleben ihre Kräfte auf die Herstellung solcher Produkte konzentrieren, die den Wohlstand steigern und damit das Nationalvermögen – statt nach der Erzeugung von Waffen zu streben, von Kriegsflugzeugen, Bomben, Maschinengewehren und Geschützen, die nur den einen Zweck haben, Menschenleben und nützlichen Besitz zu zerstören.
In den Ländern, die sich nicht genug tun können in ihren Aufrüstungsbemühungen, weil sie mit Angriffsplänen umgehen, und ebenso auch in den anderen Ländern, die einen Angriff auf ihre Grenzen und auf ihre Sicherheit befürchten, wird ein großer Teil des Nationaleinkommens unmittelbar für die Rüstungszwecke verwendet, zwischen dreißig und fünfzig Prozent.
Für uns in den Vereinigten Staaten ist der Prozentsatz ein sehr viel geringerer – elf oder zwölf.
Wie glücklich müssen wir uns schätzen, dass die augenblicklichen Umstände es uns erlauben, unser Geld für den Bau von Brücken und Straßen, für die Errichtung von Dämmen, für die Wiederaufforstung, für Bodenmelioration und viele andere nützliche Arbeiten zu verwenden, statt gewaltige stehende Heere und riesige Kriegsvorräte zu schaffen.
Aber wir sind gezwungen, in die Zukunft zu blicken. Friede, Freiheit und Sicherheit für neunzig Prozent der Weltbevölkerung werden durch die restlichen zehn Prozent bedroht, die drauf und dran sind, die gesamte internationale Rechtsordnung zu zerschlagen. Die neunzig Prozent, die im Frieden leben wollen, im Einklang mit Gesetzen und moralischen Prinzipien, die im Laufe der Jahrhunderte fast allgemeine Geltung erlangt haben, können und müssen einen Weg finden, um ihren Willen durchzusetzen.
Die Probleme, um die es sich heute handelt, sind ohne Zweifel universeller Art. Hier geht es nicht nur um die Verletzung einzelner Bestimmungen in besonderen Verträgen, hier geht es um Krieg und Frieden, um das Völkerrecht und besonders um die Grundsätze der Humanität. Freilich sind eindeutige Vertragsbrüche vorgekommen, vor allem soweit es sich um die Bestimmungen des Völkerbundes, um den Briand-Kellogg-Pakt und den Neunmächtevertrag handelt. Aber es geht gleichzeitig auch um Probleme der Weltwirtschaft, der allgemeinen Sicherheit und der Humanität.
Freilich muss das Weltgewissen einsehen, wie wichtig es ist, Ungerechtigkeiten zu beseitigen und wohlbegründeten Beschwerden nachzugeben. Gleichzeitig aber gilt es, das Weltgewissen wachzurütteln, damit es begreift, wie unerhöht notwendig es ist, die Heiligkeit der Verträge zu schützen, die Rechte und Freiheiten der anderen zu achten und allen Angriffshandlungen ein Ende zu machen.
Es scheint leider zuzutreffen, dass die Epidemie der allgemeinen Gesetzlosigkeit immer mehr um sich greift.
Wenn eine anstrengende Krankheit sich auszubreiten beginnt, verordnet die Gemeinschaft eine Isolierung der Patienten, um die eigene Gesundheit vor der Epidemie zu schützen.
Ich bin entschlossen eine Politik des Friedens zu führen und alle zu Gebote stehenden Mittel anzuwenden, um den Krieg von uns fernzuhalten. Es sollte eigentlich undenkbar sein, dass in dieser modernen Welt und angesichts aller bisherigen Erfahrungen ein Volk so töricht und rücksichtslos sein könnte, die Gefahr eines allgemeinen Weltkrieges heraufzubeschwören, indem es unter Missachtung aller Verträge das Territorium anderer Völker, die ihm eigentlich gar nichts angetan haben und die zu schwach sind, um sich entsprechend zu schützen, überfällt und besetzt. Aber gerade das ist es, was heute den Weltfrieden und den Wohlstand und die Sicherheit eines einzelnen Landes bedroht.
Eine Nation, die sich weigert, Nachsicht zu üben und die Freiheit und die Rechte anderer Völker zu respektieren, kann nicht auf die Dauer ihre Stärke behalten und das Vertrauen und die Achtung der anderen genießen. Keine Nation vergibt sich etwas oder schädigt die eigene Position, wenn sie bereit ist, alle Schwierigkeiten gütlich zu bereinigen, wenn sie große Geduld an den Tag legt und die Rechte anderer Nationen berücksichtigt.
Krieg – ob mit oder ohne Kriegserklärung – ist ansteckend. Er kann Staaten und Völker erfassen, die von dem ursprünglichen Kriegsschauplatz weit entfernt sind. Wir sind entschlossen, uns nicht in einen Krieg verwickeln zu lassen, aber es gibt keine wirksame Versicherung gegen die verheerenden Auswirkungen eines Krieges und gegen die Gefahr, mit hineingezogen zu werden. Wir treffen alle Maßnahmen, die geeignet sind, unser Risiko auf ein Mindestmaß zu reduzieren, aber in einer verwirrten Welt, in der das Vertrauen und die Sicherheit zusammengebrochen sind, kann es keinen vollständigen Schutz geben.
Wenn die Zivilisation weiterleben soll, müssen die Grundsätze des Friedensfürsten wieder zu Ehre kommen. Das erschütterte Vertrauen zwischen Volk und Volk muß wieder ins Leben gerufen werden.
Und das allerwichtigste ist: der Friedenswille der friedliebenden Völker muß sich so deutlich geltend machen, dass diejenigen Nationen, die in Versuchung geraten, ihre Verträge zu brechen und die Rechte anderer zu verletzen, von ihren Vorhaben abstehen. Positive Anstrengungen sind notwendig, um den Frieden zu bewahren.
Amerika verabscheut den Krieg. Amerika hofft auf Frieden. Deshalb ist Amerika nach Kräften bemüht, an der Sache des Friedens mitzuwirken.