Religiöser (Aber)-Glaube und Fanatismus der einfachen Bevölkerung

Mittelwalter

Mitglied
Hallo zusammen,

In welchem Maße war die mittelalterliche Dorf-/ Kleinstadtgemeinschaft aus heutiger Sicht abergläubisch ?

Wurde z. B. jedes Phänomen, was nicht auf Anhieb erklärbar war, als Werk Gottes oder des Teufels angesehen ? Und entstanden darauf auch aus heutiger Sicht extreme Handlungen, wie die Verehrung oder Verfolgung einer Person ?

Ein Beispiel: Ein Kind wird geistig behindert zur Welt gebracht. Darin sieht die Dorfgemeinschaft inklusive des Dorfpfarrers ein Werk des Teufels und tötet das Kind.
Regel oder absoute Ausnahme in der mittelalterlichen Dorfgemeinschaft ?
 
In einigen Threads zur Hexenverfolgung sind solche Punkte bereits angesprochen worden, schau sie dir doch mal an. Da werden sicher schon viele deiner Fragen beantwortet. Die großen Verfolgungen, etwa von Hexen, sind übrigens eher in der frühen Neuzeit anzusiedeln als im Mittelalter. Und was meinst du mit Verehrung - die Verehrung von Leuten, die für Heilige gehalten werden?

Gerade wenn du dir ganz kleine gesellschaftliche Räume wie Dörfer anschaust, wirst du diese Extreme - gerade die Verehrung - nicht so oft finden, einfach weil die Distanz fehlt, die für solche Projektionen nötig ist. Nicht umsonst trifft es bei Verteufelungen wie bei Verehrungen meistens Leute, die abseits stehen und von denen wenig wirklich Intimes bekannt ist. Das hat man dann eher, wenn sich Lebensräume ändern, oder wenn verstärkt Wanderer, fahrende Händler oder Armeen durchkommen. Auch diese ganzen Hexenprediger waren ja in der Regel Wanderprediger (und könnten durchaus teilweise als "Verehrte" gelten).

Zu deinem Beispiel Soweit ich informiert bin, waren geistig und körperlich Behinderte im Mittelalter weniger "problematisiert" als in der Neuzeit, deswegen überrascht mich dein konkretes Beispiel. Hast du eine Quelle dafür? Von wann genau ist dein Beispiel, und in welchem Land/Kontext findet es genau statt?

Grundsätzlich wäre zu sagen, dass du dem Mittelalter unrecht tust, wenn du es dir als Zeit abergläubischer Hohlköppe vorstellst. Die mittelalterliche Wahrheit war nun mal theologisch strukturiert, ungefähr so wie unsere wissenschaftlich strukturiert ist. Das sagt noch nichts darüber aus, welcher gedankliche Rahmen jetzt "naiver" ist und vor allem, wie der Rahmen im einzelnen genutzt wurde.

Ich habe daher auch ein Problem damit, dass du von "Aberglauben" sprichst. Im Rahmen einer theologisch strukturierten Welt wie dem Mittelalter von Aberglauben zu sprechen ist ein bisschen wie in einer wissenschaftlich-quellenbasierten Welt Plagiate anzuprangern. Irgendwie ist es schon das gleiche in Grün wie das, was die anderen machen, historisch ist der Vorwurf schon mal überhaupt sehr unterschiedlich definiert und umgesetzt, und irgendwie bleibt man doch am Ende sitzen und muss sagen, letztendlich ist es immer auch eine politische Entscheidungen, was unter diesen Begriff fällt und was nicht.

Schau dir mal in der katholischen Geschichte die ganzen Glaubensspaltungen an, und was da für hochkomplexe Gedanken unter "Aberglaube" laufen. Das ist schon was anderes als "gehe dreimal um Mitternacht um den dicken Baum und weg ist die Warze." Von daher ist Aberglaube für das Mittelalter vielleicht nicht das einfachste Thema. Man sollte sich zumindest sehr bewusst sein, was man genau damit meint.
 
Danke für die ausführliche Antwort.
Den Gedankengang bekam ich durch einen historischen Roman von Rebeca Gable, in dem eine Gruppe Behinderter durch England zieht und oft auf (gewalttätige) Ablehnung stößt.

Die Bezeichnung Aberglauben sollte gar nicht so wertend gedacht sein, sondern ging es mir eher darum zu erfahren, wie strikt sich die einfache Bevölkerung an den damaligen "religiösen Kodex" hielt.
Und vor allem, wie sie sich Personen gegenüber verhielt, die die mittelalterliche religiöse Vorstellung als böse verurteilte ( Andersgläubige, geächtete Berufe etc. ).

Denn, wenn sich die gemeine Bevölkerung strikt nach diesen religiösen Vorstellungen richtete, musste doch theoretisch das Ausstoßen und Misshandeln von religiös geächteten Personen normal gewesen sein, oder ?

War es zum Beispiel normal, dass eine Dorfbevölkerung annahm, dass einer aus ihrer Mitte von einem Dämon besetzt sei und daher versuchte diesen gewaltsam auszutreiben ?
 
Schau dir mal in der katholischen Geschichte die ganzen Glaubensspaltungen an, und was da für hochkomplexe Gedanken unter "Aberglaube" laufen. Das ist schon was anderes als "gehe dreimal um Mitternacht um den dicken Baum und weg ist die Warze." Von daher ist Aberglaube für das Mittelalter vielleicht nicht das einfachste Thema.
Wäre auch meine Meinung!

Der Glaube, dass eine Handlung zukünftige Ereignisse sagen wir mal übernatürlich beeinflussen kann, ist wahrscheinlich genauso alt, wie der Mensch den Tod fürchtet. Aber wie der Name schon sagt, ist Aberglaube ein der herrschender Religion widersprechender Glaube. Zu Deinem kleinen Zusatz “aus heutiger Sicht” könnte man hinzufügen, dass heute immer weniger eine einzig gültige Religion ‘herrscht’, sodass strenggenommen “nach heutiger Sicht” auch nicht die Rede vom Aberglauben sein kann. Oder aber - will man der Logik folgen - muss man wohl oder übel, trotz drohender Unbequemlichkeiten die Religionen einbeziehen.

Dennoch: will man den Ball tief halten, kann man es auch (ein klein wenig) einfacher angehen und nach Aberglaube im Sinne des heute allgemein gültigen Veständnisses suchen: heute gelten als Aberglaube unbegründete Rituale und Handlungen zur Beinflussung der Zukunft, sowie irreale Interpretationen von Geschehnissen, die im Bewusstsein scheinbar völlig grundlos herumgeistern. Viele davon (wenn nicht das meiste) sind entwurzelte Überreste aus früheren Zeiten, sodass die Suche nach Aberglauben in der Vergangenheit präzise Definitionen erfordert. Wer sagt denn, dass die mittelalterliche Hexe ihre Rituale nicht aufgrund eines festen Glaubens durchführte? Ab wann kann man solche Rituale und Gedankengut als im Bewusstsein unbegründet ausmachen?

Trotzdem: willst Du ein bisschen tiefer stöbern, empfehle ich Dir, statt bei den fesselnden Besprechungen der Hexenverfolgungen mitzuschaudern, in Büchern über Bräuche und Legenden zu suchen. Wo ich wohne z.B. gibt es fast über jedes Dorf dicke Bücher mit solchen Sammlungen, voll mit schauerhaften Begebenheiten und unerklärlichen Bräuchen.


übrigens: die Tötung von behinderten Neugeborenen ist ein anderes Thema - die Beweggründe vielfältiger als die angegebenen Motive. Würd’ ich die Finger davon lassen, bezüglich Aberglaube.
 
Schau dir mal in der katholischen Geschichte die ganzen Glaubensspaltungen an, und was da für hochkomplexe Gedanken unter "Aberglaube" laufen. Das ist schon was anderes als "gehe dreimal um Mitternacht um den dicken Baum und weg ist die Warze." Von daher ist Aberglaube für das Mittelalter vielleicht nicht das einfachste Thema. Man sollte sich zumindest sehr bewusst sein, was man genau damit meint.
hilfreich hierfür (wenn mit Bedacht genossen!) kann auch sein:
Handwörterbuch des deutschen Aberglaubens ? Wikipedia
 
Ok, danke erstmal bis dahin.

Ich denke auch, dass man die Hexenverfolgungen eher gesondert sehen muss, wenn es um dieses Thema geht.
Schwierig wird es wahrscheinlich, herauszufiltern, was an Verhaltensweisen von Menschen religiös motiviert, und was eher auf das Brauchtum und den Kulturkreis zurückzuführen ist.
 
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