Es geht mir eigentlich weniger um die Stärke der Armee und vielmehr um die Stärke des Staates.
Wie ist dieses Russland am Vorabend der Katastrophe beinander? ...Und welche inneren Zwänge könnten außenpolitische Entscheidungen beeinflusst haben?
Von hatl und von Turgot sind ja bereits eine Reihe von Aspekten angesprochen bzw. beantwortet worden. Und jetzt ein weiterer Versuch zur Einschätzung.
Teil 1:
Eine sehr spannende Frage, die vor allem die – objektive - Situation in Russland betrifft, aber auch die subjektive Wahrnehmung durch die anderen Mächte, die entscheidend war vor allem für das Verhalten des DR.
Russland als objektive und subjektiv zugeschriebene Großmacht Versucht man eine „objektivierende“ Darstellung der Situation der Großmächte 1914, dann bietet sich beispielsweise der Weg an, den Wohlforth gegangen ist, der einen ungewichteten Index aus Statistiken zur Gesamtbevölkerung, Stadtbevölkerung, Energieverbrauch, Stahlproduktion, Militärausgaben und Armeestärke gebildet hat [25, S. 354/355]. Im Ergebnis erhält die USA 1913 einen Indexwert von 26, Russland und das DR von jeweils 18 und GB 14, Frankreich 9 und Ö-U lediglich 6. Vor diesem Hintergrund war Russland, gemessen an der „Papierform“ eine beachtliche Großmacht, die ein nicht unerhebliches Drohpotential entfalten konnte.
Die objektivierte Beurteilung findet sich teilweise in der subjektiven Beurteilung durch die politischen Akteure wieder. Den sozialen Veränderungen nach 1905 folgend, nahmen beispielsweise sowohl KW II wie auch Bethmann eine skeptische Einschätzung vor, ob Russland in 1914 für einen Krieg vorbereitet sei [1, S. 420] und zeichnet damit ein ähnliches Bild wie Otte [19, Pos. 2610 ff]. Der Hintergrund für diese skeptische Einschätzung lag in den Berichten begründet, die der deutsche Botschafter bis zur Juli-Krise geschickt hatte und in denen er auf die Millionen von streikenden Arbeitern und die Barrikaden in Moskau hingewiesen hatte. Die Option eines Krieges hätte – so KW II – für Nikolaus den Verlust seiner Krone bedeuten können und dieses hielt er als Option für zu gefährlich für Nikolaus [1, S. 421].
An den einzelnen Aspekten, die Wohlforth herangezogen hat, erkennt man das Problem der Beurteilung des zaristischen Russlands, seine konfliktgeladene innenpolitische Situation, die zu einer differenzierten Bewertung geradezu zwingt.
Autokratie, Regierung und Duma Die einschneidendste Veränderung für Russland bildete der verlorene Krieg 1905 gegen eine bis dahin zweitrangige Großmacht und in der Konsequenz die Erfahrung des Zarismus, die durch den Krieg ausgelöste Revolution nicht unterdrücken zu können, da das Militär in Fern-Ost gebunden war. In der Konsequenz formuliert Frankel: „The Russo-Japanese War demonstrated as never before to what extent the fate oft he tsarist regime at home was tied to ist policies of war and peace abroad.“ und resümiert, dass die Legitimation der autokratischen Herrschaft auf ihrer Fähigkeit beruhte, „…to meet the challenge of armed conflict“. [27, S, 54].
Dem anhaltenden Druck von Seiten der Opposition, „Blutsonntag“ etc. begegnete Nikolaus mit Konzessionen, die im Rahmen des Oktobermanifests ausformuliert worden sind und auf die Einführung einer konstitutionellen Monarchie hinausliefen [10]. Dabei ist zu Nikolaus zu erwähnen, dass Lieven ihn beispielsweise als ein durchaus freundlichen, moralisch aufrichtigen Aristokraten, geprägt von militärischen Werten, schildert, aber auch sagt: „ The very different ethics of political life were alien to him.“, was zu einem gewissen Teil seine problematischen Entscheidungen erklärt. [13, S. 283]
Die Parteien in der Duma waren politisch sehr unterschiedlich bzw. in ihren Zielsetzungen antagonistisch. Die Sozialsten lehnten die Duma weitgehend ab, da sie in dieser Institution ein Instrument der Herrschenden sah. Die radikalen Liberalen, organisiert bei den Kadetten, hielten die Duma für verbesserungswürdig. Die moderaten Liberalen, organisiert bei den Oktobristen, sahen in der Duma eine ausreichende Plattform für ihre politische, reformorientierte Arbeit. Die Konservativen bzw. „Reaktionäre“ sahen in der Duma lediglich eine „Verlängerung“ bestehender Staatsstrukturen, die keine Veränderung der bisherigen politischen Machtstrukturen bedeutet hatte. [11, S. 243ff]. Dabei waren die auf Modernisierung der russischen Gesellschaft ausgerichteten Gruppierungen die „Oktobristen“, die „Progressiven“ und die Kadetten.
Um das von Witte angestoßene Reformprogramm umzusetzen, benötigte Stolypin (seit Juli 1906) eine zuverlässige und kooperationsbereite Mehrheit in der Duma. Die Voraussetzung dafür schuf er sich – nicht sehr demokratisch in der Wahl der Mittel - durch die Wahlrechtsreform vom 3. Juni 1907, die einen Teil der Reformen von 1905 wieder einschränkte. Gleichzeitig gewährleistete aber das System des „3. Juni“ bis zum Aufsplitten der Oktobristen in drei Fraktionen 1910, eine verläßliche Zusammenarbeit zwischen Regierung und Duma. [11, S. 244ff]. Das sie diese Funktion erbringen konnte, entsprach den konservativen Erwartungen von Stolypin. Er war der Vefechter eines eigenständigen russischen Wegs zur Industrialisierung und lehnte es explizit ab, dass Russland dem westlichen Vorbild parlamentarischer Systeme folgen könnte. Durch seinen selbstherrlichen autoritären Führungsstil zerstörte er jedoch die Kooperation mit der Duma und entzog dem System des „3. Juni“ die Grundlage und leitete damit eine Phase der „Unregierbarkeit“ von Russland ein [23, S. 115]
Nach dem Ende der zweiten Duma am 18. Juni 1914 – also kurz vor der Juli Krise 1914 !!! - berief Nikolaus eine Konferenz ein, an der alle Minister teilnahmen und er vorschlug den Status der Duma bzw. des Staatsrats (2 Kammern-System) weiter einzuschränken und auf die Rolle von beratenden Gremien zu beschränken und begründet es damit, dass es keine Kooperation mehr gab zwischen den beiden Kammern (Duma und Staatsrat) und der Regierung [11, S. 205]. Und Hosking konstatiert, dass das neue konstitutionelle System zu keinen relevanten Reformen in dem Sinne fähig war, wie ein Stolypin es noch als Ziel formuliert hatte: „Gebt uns 20 Jahre und ihr werdet das jetzige Russland nicht wiedererkennen.“[11, 215]
Die Ebene der Konflikte berührten auch das Verhältnis von Nikolaus zu seiner Regierung und er versuchte seine Abhängigkeit von der Regierung zu reduzieren, um seine autokratischen Funktionen zu stärken [15, S. 187ff] Diese Intervention in die Arbeitsweise des „United Gorvernment“ führte einerseits zum Rücktritt von Kokovtsev und andererseits verschärfte es die Rivalität zwischen den Regierungsmitgliedern, die verstärkt sich um die Gunst des Zaren bemühen mußten. [16, S, 179]
Bei der Bewertung der Unterstützung für den Krieg im Juli 1914 durch die Duma ist es sicherlich nicht unwichtig, dass es die „Modernisierer“, die konstitutionellen Kräfte im Parteienwesen waren, die ihren Pan-Slavismus als einen Akt der Emanzipation der Völker begriffen hatten, die als Unterstützer für die Entscheidung zum Krieg in Erscheinung traten. Eine Position, die vor allem Peter Struve von den Kadetten ausformuliert hatte. Allerdings darf man den Einfluss der Dums auf die Entscheidung für den Krieg, wie oben bereits angedeutet, nicht überbewerten [11, S. 216].
Das ist insofern bemerkenswert, da normalerweise eher die Konservativen, die gegen einen Krieg mit dem DR waren, ihren Einfluss bei Nikolaus – vor allem bei innenpolitischen Themen – haben geltend machen können. [11, S. 215] . Die entsprechende Sichtweise wurde im Februar 1914 durch Durnovo in einem Memorandum ausformuliert und er wies auf die unkontrollierbaren Risiken für die russische Autokratie hin, die ein industrialisierter Krieg bringen würde. Auch inspiriert von dem Fast-Zusammenbruch des Zarismus in 1905 als Konsequenz des russisch-japanischen Kriegs.
Vor diesem Hintergrund kritisierten beispielsweise 1908 vor allem die Zeitungen der Konservativen einzelne pro westliche Mitglieder der Zarenfamilie, vor allem die Zarin und Rasputin, sowie einzelne Personen aus dem Generalstab, da sie die pan.-slawistische Argumente für unrealistische emotionale Ideologie hielten [11, S. 229]
Für die Konservativen bzw. die „Reaktionäre“ stand die Unterdrückung der Revolution in Russland auf der ersten Position der politischen Agenda und keine militärischen Abenteuer, bei denen Russland nichts zu gewinnen hatte. [11, S. 231] Und bis Ende 1913 folgte die russische Außenpolitik im wesentlichen der Leitlinie von Stolypin und Kokovtse, dass Russland aufgrund seiner problematischen inneren Situation, vor allem Frieden brauchte [15, S. 151] Wenngleich Kokovtsov wie Sazonov beide als pro-westlich von den Konservativen kritisiert worden sind [23, S. 121]. Dennoch und das ist der entscheidende Unterschied auf den Witte hinwies, „With Kokovtsev gone, the last spokesman for the connection between external conflict und internal revolution disappeared.“ [16, S. 305]
Im Juni 1914 stand die konstitutionelle Monarchie des Zarismus, aus eigenem Antrieb und eigenem Verschulden, aufgrund der starken politischen Polarisierung zwischen den Parteien vor einem schweren Legitimationsproblem und ist ein entscheidender Schritt, der letztlich den Niedergang des Zarismus mit beschleunigte. [11, S. 246] In diesem Sinne resümiert Figes: „Das Wesen des zaristischen Regimes war an sich die beste Gewähr dafür, dass es politisch nicht zu reformieren war. [3, S. 251]
Es war ein „großes“ politisches Wagnis, bei dem Nikolaus parallel zum einen, einen reaktionären Kurs verfolgte und Russland wieder in die vollständige Autokratie führen wollte und zum anderen „mußte“ er einen Krieg führen, da er der „Gefangene“ einer pan-slawistischen, nationalistischen und imperialistischen Ideologie geworden ist. Dass der Wille zur innenpolitischen Autokratie nicht unwesentlich durch Teile der pro-westlichen, teils germanophoben Presse verstärkt worden ist und in der „Liman-Affaire“ Anfang 1914 sein politisches Symbol fand, ist nur ein Aspekt der inkonsistenten innenpolitischen Situation Mitte 1914 [15, S. 205]
Und es ist schon eine gewisse Form der Ironie, dass es die „Modernisierer“ waren, die westlich orientierten national-liberalen, die Nikolaus zur Kriegsführung motivierten, die er aufgrund von innenpolitischen Argumenten objektiv nicht hätte führen dürfen und subjektiv – mindestens bis Ende 1913 - auch nicht führen wollte.