Scheer: Gefechtskehrtwenden in der Skagerrak-Schlacht 1916

Die Frage des nahen finanziellen Kollapses von England wird von Christopher Clark in seinem Buch auf Seite 306 f. angesprochen.

Die übliche Verbiegung, wie wir sie hier schon mehrfach hatten. Die - unbelegte, auch falsche - These Clarks spricht von einen "näher als", nicht von nahe.

...John Milton Cooper,...
In Kürze: Seit 1917 konnten die Engländer keine Sicherheiten für neue Kredite anbieten (S. 419). Man muss nicht näher erläutern, was ein ungesicherter Kredit in einer Situation bedeutet, sowohl für den Schuldner (er bekommt keinen) wie für den Gläubiger (das Ausfallrisiko ist exorbitant). Daher argumentierten einige, der Kriegsgrund für die USA war die Alliierten vor dem finanziellen Kollaps zu retten (oder wie einige Linke – nicht Rechte wie in #...fälschlich gesagt wird – meinten, um die Darlehns von J.P. Morgan zu retten, S. 419). Cooper ist nicht dieser Ansicht; er meint sogar, dass die USA nicht wußten, dass sie die Alliierten vor der Niederlage retteten (S. 441). Die Engländer taten alles um ihre desolate finanzielle Situation zu verbergen (S. 423).

Es lohnt sich nicht, über das Ende einer logischen Kette nachzudenken, wenn bereits die erste Aussage falsch ist. Den Anleihen unmittelbar vor Kriegseintritt der USA lagen bis zuletzt Sicherheiten zugrunde.

Bzgl. des Zitates sind die Worte "Such fears, some have argued" nicht unerheblich. Bzgl. der einschlägigen Verwendung der Diskussion sind nicht die zeitgenössischen US-Kritiken gemeint, aber das ist @admiral sicher klar.



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Leider ergibt sich aus diesem Artikel nicht genau was es bedeutet, wenn England keine Sicherheiten mehr bieten kann.
Die Spekulation erübrigt sich, da die Januar-Anleihen mit "securities" unterlegt waren.

Das Problem waren im Übrigen nicht fehlendes Vermögen, sondern
- geeignete Sicherheiten (bei britischen Auslandsvermögen von etwa 4.500 Mio. GBP etwa 50%)
- "Mobilisierung" der Sicherheiten unter staatlicher Kontrolle
- die Finanzproblematik Frankreichs (dessen "geeignete" Sicherheiten nur etwa 10% der Auslands-Investments ausmachten, was auch durch die 5fach höhere Goldreserve ggü. Großbritannien nicht ausgeglichen wurde).
- die Frage alternativer Nahrungsmittelimporte (zB Südamerika).

@mhorgran hat den richtigen Punkt angesprochen, indem er die (behauptete) Golddeckung problematisiert. Der Kern der Diskussion seit 1915 drehte sich um die Akzeptanz von Sicherheiten - die Goldzahlungen hatten den oben beschriebenen zweifachen nachteiligen Effekt für die Westalliierten: der Ursprung des Anleihensystems und der "security schemes".

(vielleicht könnte @admiral übrigens hier mal erläutern, welche Quote Gold bei den "securities" stellte, und welche Bedeutung es dagegen bei der Bezahlung der Importe hatte)

Einige Daten mit Quellen:
http://www.geschichtsforum.de/473586-post4.html
 
Zuletzt bearbeitet:
In der neuen Publikation "Conways Warship 2010" findet sich ein Aufsatz zur Entfaltung von Jellicoes Grand Fleet, die zum Crossing-the-T führen sollte, unmittelbar vor Scheers 1. Gefechtskehrtwende. Der Aufsatz problematisiert die Entfaltungsmöglichkeiten und Handlungsoptionen von Jellicoe, abgerundet durch eine Betrachtung der Übungen der großen Schlachtflotte bis 31.5.1916. Der Titel betrifft das von Jellivoe gegebene Signal:

McLaughlin, Stephen: "Equal Speed Charlie London" - Jellicoes Deployment at Jutland, S. 122-140. Warship 2010.

"Equal Speed Charlie London"

Abgedruckt sind auch einige Fotos aus dem IWM, die eindrucksvolle Bilder von den schwierigen Sichtverhältnissen zeigen (31.5.196, 19.14 - 2nd BS in Action, 3rd BS).

In der neueren Literatur kommt auch das hier diskutierte Thema "Baltic Fleet" von Fisher/Churchill ...

http://www.geschichtsforum.de/472069-post95.html
Zu den Ostseeplänen gab es in der britischen Admiralität folgenden Verlauf:
Im Winter 1905/06 gab es umfangreiche planerische Ansätze, die sich mit dem Fall eines Krieges gegen Deutschland beschäftigten. Fisher setzte hierzu mehrere Kommissionen ein, und beauftragte auch das (dafür ungeeignete) War College mit Untersuchungen. Hintergrund dieser Aktivitäten waren die von ihm forcierten Bauprogramme (dreadnoughts und battlecruisers), deren Notwendigkeit dokumentiert werden sollte.

... wieder zu Ehren:

Journal of Military History, Vol. 74, No. 2, April 2010
Shawn Grimes: The Baltic and Admiralty War Planning, 1906–1907.
 
Zuletzt bearbeitet:
Ein weiterer Nachtrag zur erfolgreichen Flucht von Scheer während der Nacht 31.5./1.6.1916. Jason Hines: Sins of Omission and Commission - A Reassessment of the Role of Intelligence in the Battle of Jutland, in JoMH 2008, S. 1117-1153.

Hines analysiert die Aufklärungsdaten, die Jellicoe von "Room 40" (auch bekannt über das Abfangen des Zimmermann-Telegramms) vor und während der Schlacht am Skagerrak übersandt wurden.

Die inadäquaten Informationen waren darauf zurückzuführen, dass starke Geheimhaltung betrieben wurde, um das Entschlüsselungssystem nicht zu gefährden und die Enttarnung nicht zu riskieren.

Das führte schließlich dazu, dass die (aufgrund abgefangener deutscher Signale) richtige Erkennung von Scheers Rückzugsweg Jellicoe zwar übersandt wurde, dieser aber in seinem Misstrauen aufgrund früher beschränkter und wegen Geheimhaltung zeitverzögerter Informationen den Angaben ausdrücklich nicht folgte.

Scheer entkam danach nicht, weil falsche oder keine Informationen vorlagen, sondern weil Geheimhaltung in einer entscheidenden Phase des Seekriegs für Verwirrung und Misstrauen gegen die Angaben und die Technik provozierten.
 
Das führte schließlich dazu, dass die (aufgrund abgefangener deutscher Signale) richtige Erkennung von Scheers Rückzugsweg Jellicoe zwar übersandt wurde, dieser aber in seinem Misstrauen aufgrund früher beschränkter und wegen Geheimhaltung zeitverzögerter Informationen den Angaben ausdrücklich nicht folgte.

Scheer entkam danach nicht, weil falsche oder keine Informationen vorlagen, sondern weil Geheimhaltung in einer entscheidenden Phase des Seekriegs für Verwirrung und Misstrauen gegen die Angaben und die Technik provozierten.

Das habe ich anders in Erinnerung (also ich war ja nicht dabei), aber ich erinnere mich gelesen zu haben, daß die Minensperren um Horns Riff doch sehr intesiv verlegt worden sind. Die Verfolgung der dt. Hochseeflotte bei Nacht, schon allein, Risiken mit sich brachte, Stichwort Black Prince oder Pommern; die RN sich in feindlichen Gebiet befand und der Zustand der Hochseeflotte auch mit einem Room 44 nicht genau definiert werden konnte, wohl aber die eigenen Verluste und Schäden klar waren.

Ich denke, der Versuch der RN, der dt. HF nachzustellen, wurde vor allem bei Nacht nicht mit allem Nachdruck durchgeführt, immerhin hatten die Engländer noch die Explosionen der Schlachtkreuzer Qeen Mary und co im Gedächtnis.

Die große Frage nach noch weiteren Verlusten an Menschenleben nur getrieben von Rache, spielte sie letzlich eine Rolle, bei diversen Entscheidungen beider Seiten?
 
Die Sperren waren durchaus lückenhaft, auch wenn sie in den Zeichnungen beim Marinearchiv "massiv" aussehen. Die breiten Passierwege waren britischerseits bekannt, u.a. auch aufgrund abgefangener deutscher Funksprüche.

Jellicoe ging es nicht um eine Nachtschlacht, sondern um das Stellen von Scheer beim Morgengrauen.
 
Jellicoe ging es nicht um eine Nachtschlacht, sondern um das Stellen von Scheer beim Morgengrauen.

Was hat er draus gemacht? Ohne Positionwechsel und Kenntnis der Position der dt. HF war es ein Spiel mit Glück. Macht ein Admiral sowas?

Und noch wichtiger, bestand die Notwendigkeit, eines weiteren schweren Gefechtes am folgenden Tag? Welchen Erfolg sollte es bringen?
 
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Was hat er draus gemacht?

Er ist um 3 Uhr morgens abgedreht, den Aufklärungen von Room 40 (die nur kryptisch und zeitversetzt herausgegeben wurden) nicht vertrauend.

Diese hatten zwischen 22 Uhr und 2 Uhr insgesamt 3 mal die korrekte Route von Scheer weiter gemeldet. Scheer passierte morgens dann auch das britische Minenfeld nordwestlich Sylt.


Postion und Richtung der HSF waren komplett und richtig aufgeklärt.
 
Er ist um 3 Uhr morgens abgedreht, den Aufklärungen von Room 40 (die nur kryptisch und zeitversetzt herausgegeben wurden) nicht vertrauend.

Diese hatten zwischen 22 Uhr und 2 Uhr insgesamt 3 mal die korrekte Route von Scheer weiter gemeldet. Scheer passierte morgens dann auch das britische Minenfeld nordwestlich Sylt.

Spekulativ, aber was hätte der RN ein weiter Kampf, so nah an der dt. Küste und deren Minenfelder gebracht? Die Engländer wussten um ihren schlechnte Unterwasserschutz seit dem Untergang der Audacious 1914 ...
 
Der Erfolg Jellicoes hätte in der Vernichtung der Hochseeflotte gelegen, die er zuvor 2mal verpasste.

Die Auswirkungen auf den weiteren Verlauf des Weltkrieges sind spekulativ, nicht abzuschätzen.

Das Rätsel der 2. Gefechtskehrtwende von Scheer scheint damit auch einer neuen Interpretation zu unterliegen. Der am 28.5.1916 von Room 40 abgefangene deutsche Funkspruch belegt klar, dass Scheer nur über Horns Riff entkommen konnte, da ihm die Straße zur Ems als vermint gemeldet worden war. Die 2. Wende muss damit dem Ziel gedient haben, die Grand Fleet rückwärtig zu passieren, um zur Passage von Horns Riff zu gelangen.

Umgekehrt hätte damit Jellicoe klar gewesen sein müssen, welchen Weg er nehmen würde. Offenbar führte hier das Misstrauen gegen die Arbeit von Room 40 dazu, dass die Information nicht genügend Beachtung fand.
 

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Ergänzend ist auf zwei instruktive Aufsätze hinzuweisen, die in den Jahresbänden von Warship 2010 und 2016 erschienen sind.

Sie behandeln die technischen Grenzen der Kommandogewalt über die manöverierenden Großflotte der Home Fleet vor dem Skagerrak und zeigen recht klar die immensen Schwierigkeiten im "Handling" dieser Schiffsdivisionen.

Gleichzeitig werden die Grenzen aufgezeigt, solche "Manöver" zu üben, wenngleich bestimmte Abläufe einstudiert waren. Solche "Pläne" überlebten aber - wie von Moltke schon für Landschlachten treffend ausgedrückt - nicht die erste Gefechtsberührung.

Warship 2010: McLaughlin, "Equal Speed Charlie London": Jellicoe's Deployment at Jutland
(gerade erschienen) Warship 2016: derselbe, Divide and Conquer: Divisional Tactics and the Battle of Jutland

Die Massen in einer Großflotte, gesteigert durch den Vorkriegs-Rüstungswettlauf, haben hier offenbar die Möglichkeiten der Steuerung, der Kommandogewalt, der Gefechtssignale, etc. schlicht überholt.

Bei bestimmten "deployments" war es Jellicoe nicht möglich, ad hoc und "situativ" die Schlachtflotte zu führen, sondern Schiffs-Divisionen mussten nach einmal eingeleiteten, eingeübten und im Vorkrieg "simulierten" Manövern "blind" dem Gros folgen. Jellicoe hatte mehr unter der Hand, als führungstechnisch beherrschbar war.

OT: Ironischerweise gleicht das doch dem deutschen Generalstab unter Moltke an der Marne, der zwar die Kampagne einleiten bzw. auslösen und somit "den Pfeil abschießen" konnte, danach aber begrenzte und zeitverzögerte Einfluss auf die Bewegungen hatte.
 
In der Animation wird deutlich, wie gravierend das Führungs- und das Informationsproblem war.

Die unzureichende Versorgung mit wichtigen Informationen verhinderte auf britischer Seite wichtige Entscheidungen.

Und diese Informationen lagen ja eigentlich vor, sind aber nicht gegeben worden, weil das seemännische Verhalten und das Informationsverhalten in der "Linie" einen so hohen Anpassungsdruck erzeugte, dass individuelle Initiative nicht ausreichend möglich war, weil nicht erwünscht.

Insofern waren die technischen Möglichkeiten im Schiffsbau, den Möglichkeiten zur kommunikativen Führung dieser Verbände vorausgeeilt und behinderten faktisch den "optimierten" Einsatz.
 
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Richtig, interessant aber, dass es zu solchen Untersuchungen 100 Jahre brauchte.

Vielleicht sind das Ergebnisse einer Neuinterpretation von Militärgeschichte, wie sie auch als Trend zB beim MGFA seit 3 Jahrzehnten zu beobachten ist.

Logistik, technische Infrastruktur, Militärökonomie, (und zwar nicht nur das stupide Betrachten - Beispiel Skagerrak - von "Geschützen, Breitseitengewichtem, Panzerung, Geschwindigkeit"), Verhalten, biographische Hintergründe von Entscheidungen, viele denkbare Blickwinkel für die Abläufe ...

statt Feldzugsskizzen und ein paar Zahlen mit Gewichten, anschließend "Inventur" des Ergebnisses.
 
..., weil das seemännische Verhalten und das Informationsverhalten in der "Linie" einen so hohen Anpassungsdruck erzeugte, dass individuelle Initiative nicht ausreichend möglich war, weil nicht erwünscht.

Insofern waren die technischen Möglichkeiten im Schiffsbau, den Möglichkeiten zur kommunikativen Führung dieser Verbände vorausgeeilt und behinderten faktisch den "optimierten" Einsatz.

Zugespitzt oder salopp gesagt hat sich in der Zeit zwischen Trafalgar* und Skagerak dann eigentlich nichts geændert, "bloss" die Technik.
Die Zäsur kam dann erst weit nach dem 1.Weltkrieg, als man z.B. auch die Bedeutung des Flugzeuges mehr erkannte.
Erstaunlich, dass man in der Seefahrt nicht experimentierfreundlicher war, auch auf taktisch-strategischer Ebene. Da hinkte man sogar den Kollegen vom Heer hinterher. Die haben -spæt, aber immerhin- im Laufe des 1.Weltkrieges den Einsatz ihrer Truppen an die neuen Techniken angepasst, gut: anpassen muessen.

Aus dem Link:
Für mich überraschend war die weitgehende Harmlosigkeit der Torpedo-Boote. Wenn ich das richtig verstanden habe, konnten sogar die grossen Pøtte in der Regel den Torpedos rechtzeitig ausweichen. Das Potential dieser Boote hatte ich als grøsser eingeschætzt.

(*)Trafalgar hier nur als Schlagwort, die selbe Seekriegsführung hat man ja auch schon früher angewendet)

Gruss, muheijo
 
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