@thanepower: ich höre zum ersten mal, dass Stalin bis 1943 an einem Seperatfrieden noch interessiert war. Meiner Meinung nach war er immer schon nach Moskau im Dez '41 auf eine totale Niederlage des Deutschen Reiches aus.
Hast du dazu eine Quellenangabe? (du erwähntest ciano, kann dazu aber leider im I-net direkt nix finden)
In seinem Buch „Visions of Victory“ faßt Weinberg (S. 108) den aktuellen Erkenntnisstand zur Frage eines separaten Friedens zwischen Stalin und Hitler dahingehend zusammen, dass es diese Kontakte gab, aber der reale Umfang und der Verlauf dieser Geheimgespräche derzeit nicht vollständig rekonstruiert werden kann.
Visions of Victory: The Hopes of Eight World War II Leaders - Gerhard L. Weinberg - Google Books
Es liegt dabei in der Natur der Sache, dass es sich dabei um Verhandlungen gehandelt hat, die der Vertragslage zwischen den westlichen Bündnispartner zuwiderlief und das in Casablanca im Januar 1943 formulierte „unconditional surrender“ massiv unterlief. Und gerade diese Forderung war vor allem darauf abgerichtet, ein sehr deutliches Signal an Stalin zu senden, den Krieg gemeinsam zu beenden.
Vor diesem Hintergrund durften die Kontakte zwischen der UdSSR und dem 3. Reich keinen nachweisbaren Charakter haben, wollte Stalin die Vorteile aus den LL-Lieferungen nicht gefährden.
Um die Motivation von Stalin angemessen beurteilen zu können, müssen die Kontakte zwischen Stalin und Hitler in einem grösseren Kontext betrachtet werden. Trotz der scharfen ideologischen Gegensätze beider Systeme ging Stalin von einer rationalen „Win-Win-Position“ zwischen den Staaten als potentiellem „eurasischen Block“ aus. Diese Allianz sah er als ideologisch gerechtfertigt an in der Auseinandersetzung gegen die „kapitalistischen Mächte“, von denen er sich primär eingekreist fühlte (vgl. Martin, S. 544). Und Haslam (S. 43ff) stellt heraus, dass Stalin seinerseits einen Separatfrieden der Westmächte mit dem 3. Reich und Japan befürchtete und somit unter Zugzwang stand, die Achse für sich zu gewinnen.
Diese „rationale Sichtweise“ auf die Außenpolitik unterstellte er im gleichen Maße auch Hitler. Unter anderem ersichtlich beispielsweise in der verheerenden Fehleinschätzung der politischen Ziele von Hitler im Vorfeld der „Operation Barbarossa“. Stalin hielt den Aufmarsch, trotz eindeutiger gegensätzlicher Informationen, für einen „Bluff“, um reale Forderungen an die UdSSR zu unterstützen.
Vor diesem Dreiecksverhältnis zwischen Stalin, Hitler und FDR&Churchill sind die außenpolitischen Initiativen von Stalin während der Periode zwischen 41 und 44 angemessener einzuschätzen.
Drei Themen sind für die Darstellung der Position von Stalin und Hitler zu einem separaten Waffenstillstand und einem Friedensvertrag relevant .
1. Zum einen die offiziellen Initiativen, die beispielsweise Stalin nach dem Angriff auf die SU 1941 ergriff und den Bulgarischen Botschafter bat, Friedensbedingungen bei Hitler zu erruieren (zitiert durch Kissinger in Diplomacy: Wolkogonow, Stalin, S. 565). Die japanischen Regierung bedrängte Hitler und Stalin in 42/43 einen separaten Frieden abzuschließen. Ciano wird Ende 42 von Hitler abgekanzelt als er Hitler zu einem Separatfrieden drängt, auch als Reaktion auf die Katastrophe bei Stalingrad. Im April 43 wiederholt Mussolini diesen Vorschlag gegenüber Hitler und erreicht ebenfalls nichts (Martin, S. 545).
Diese Ereignisse machen sehr deutlich, dass es innerhalb der Achse eine Friedensbereitschaft mit der UdSSR gab, die jedoch am deutlichen Widerstand von Hitler scheiterte.
2. Bei Mastny (S. 73-110) wird zusätzlich ein weiterer Strang betrachtet. Er stellt die teilweise deutlich abweichende Position von Stalin heraus, auch nach Casablanca 43, wie diese Beschlüsse im einzelnen zu interpretieren wären. Er argumentiert, dass die sowjetische Propaganda es bis nach Kursk vermied, sämtliche Brücken für einen potentiellen Dialog einzureißen. Auch weil Stalins westliche Partner in der Frage der „Zweiten Front“, dem Baltikum und Polen abweichende Positionen Stalin gegenüber vertreten haben.
3. Der relevanteste Teil der Beziehung zwischen Hitler und Stalin von 41 und 44 bilden jedoch die geheimen Kontakte zwischen den beiden Mächten. Im Gravitationszentrum steht dabei Ribbentrop und einer seiner Mitarbeiter „Peter Kleist“ alias „Edgar Klauss“ (Clauss). Ort der Kontakte ist dabei im wesentlichen das diplomatische Parkett in Stockholm. Als relevante Quellen für die Kontakte werden dabei die Aussage von Ribbentrop vor dem Nürnberger Gerichtshof (Testimony of Ribbentrop,TMWC, X, p. 299ff) und die Biographie von Peter Kleist (Zwischen Hitler und Stalin) herangezogen.
Zwischen Hitler und Stalin. The European Tragedy - Peter Kleist - Google Books
http://www.loc.gov/rr/frd/Military_Law/pdf/NT_Vol-X.pdf
Sowohl Mastny als auch Martin weisen diesen Aussagen eine gewisse Glaubwürdigkeit zu vor dem Hintergrund einer Validierung durch entsprechende historische Ereignisse.
Auf der Grundlage dieser Aussagen läßt sich somit folgende Chronologie der Ereignisse als wahrscheinlich annehmen.
- Der Botschaft in Stockholm wird im März 1942 das Angebot unterbreitet, einen sofortigen Waffenstillstand zu verhandeln. Die Basis für entsprechende Friedensverhandlungen sollten die Grenzen von 1939 sein (Martin S.544).
- Peter Kleist reist im Auftrag von Ribbentrop nach Stockholm und erhält im Dezember 1942 das erneuerte Angebot aus dem März 1942 (Martin, S. 545). So berichtet Kleist, dass Moskau bereit sei, innerhalb von 8 Tagen einen Waffenstillstand zu unterzeichnen (Mastny, S. 74ff).
- Während der Endphase der Kämpfe um Stalingrad ergeben sich direkte Kontakte der Russen zur deutschen Botschaft in Stockholm, allerdings ohne eine Reaktion zu erhalten.
- Semjonow wird als Deutschlandexperte in das Ressort „Verhandlungen mit den Deutschen“ an die sowjetische Botschaft nach Stockholm versetzt (Martin, S. 545).
- Im Juni 1943 wartet ein hoher Beamter des sowjetischen Außenministerium s auf einen deutschen Unterhändler in Stockholm (Martin, S.546). Am 16. Juni 1943 berichtete die schwedische Zeitung „Nya Dagligt Allehanda“ von entsprechenden Geheimgesprächen zwischen den Deutschen und den Sowjets (Mastny, S. 79). Und Mastny weist darauf hin, dass entsprechende US und GB Geheimdienstberichte dieses bestätigen (vgl. Mastny, FN 35 ).
Diese Ereignisse in Stockholm wurden in den USA mit hoher Aufmerksamkeit verfolgt. Im Juni 1943 liegen Colonel Clark, dem „Chief of US Army Special Branch“ diese Berichte ebenfalls vor und werden mit Sorge betrachtet. Seit bereits Februar 1943 versucht der ihm unterstellte „Signal Intelligence Service“ die entsprechenden Codes des Sowjets für die diplomatischen Kontakte weltweit im Rahmen des Projekts „Venona“ zu entschlüsseln. Man erhoffte sich, den Fortgang der diplomatischen Kontakte zwischen Stalin und Hitler auf diesem Weg zwischen Moskau und seinen Botschaften bzw. dem KGB "mitlesen" zu können. Allerdings wird der Code erst 1946 entschlüsselt und führt zur Erkenntnis, dass die Sowjets das „Manhattan Project“ und andere wichtige Institutionen in den USA infiltriert haben.
Venona: Decoding Soviet Espionage in America - John Earl Haynes, Harvey Klehr - Google Books
- Im September 43 war Dekanosow, stellvertretender Außenminister und füherer Botschafter in Berlin, in Stockholm. Au diese Gelegenheit wies Ribbentrop Hitler hin (Kissinger, S. 419). Ribbentrop sah die Möglichkeit, die Bedingungen für einen separaten Frieden zu diskutieren, auf der Basis der Grenzen von 1941. Hitler lehnte es ab, darauf einzugehen.
Diplomacy - Henry Kissinger - Google Books
- Im August schickt Ribbentrop zur Unterstützung von Peter Kleist noch Rudolf Likus, seinen persönlichen Referenten, nach Stockholm, der ebenfalls das Vorhandensein diese Kontakte bestätigt hat (Mastny, S. 81).
Das Amt und die Vergangenheit: Deutsche Diplomaten im Dritten Reich und in ... - Eckart Conze, Norbert Frei, Peter Hayes, Moshe Zimmermann - Google Books
- Mit dem Mißerfolg der Schlacht um Kursk 1943 ändert sich die geostrategische Einschätzung durch Stalin. Die Zusage der „Zweiten Front“ reduziert zusätzlich den strategischen Vorteils eines separaten Friedens für Stalin. Somit war Anfang 1944 dieses Interesse an einer separaten Lösung weitgehend erloschen und Stalin konnte seine Vorstellung von "Sicherheit" auf anderen Wegen verfolgen.
Vor diesem Hintergrund erscheint die Periode bis September 1943 als das Zeitfenster, in dem sich Stalin und Hitler über einen separaten Frieden hätten verständigen können. Allerdings fällt es schwer, sich die konkrete Ausgestaltung vorzustellen und welche Konsequenzen es für die Kriegsführung der Achse gegen die USA und GB gehabt hätte. Und es wäre schwer vorstellbar, wie das „Zünglein an der Waage“, die Militärmacht der UdSSR, nach diesem separaten Friedensschluss agiert hätte.