Ich fasse zusammen, was mir von dem Vortrag von Neitzel - "Kriegsverbrechen unvermeidlich?" - und der anschließenden Diskussion in Erinnerung geblieben ist. Eigene Anmerkungen dazu in []; für Missverständnisse bitte ich vorsorglich um Entschuldigung.
Der Referent (R.) wählt als Einstieg den Bericht von Kurt Lewin, wie stark sich seine Wahrnehmung dadurch verändert habe, dass er Soldat wurde. Das Buch/Projekt "Soldaten" handelt zu einem guten Teil von ebendiesen veränderten Wahrnehmungen und den daraus resultierenden veränderten Verhaltensweisen.
Krieg ist die Fortsetzung der Politik mit anderen Mitteln. Jeder Krieg hat Regeln, auch wenn sie nicht auf den ersten Blick erkennbar sind. Diese Regeln konstituieren einen gewissen Legitimitätsrahmen. Im Zweifelsfall richtet der Soldat jedoch sein Handeln nicht primär an irgendwelchen Regeln aus, sondern entscheidet situativ. Er gewöhnt sich an das Schreckliche, was er als Soldat erlebt, und kommt zu der Überzeugung, das dieses Schreckliche "normal" ist und auch nicht weiter hinterfragt werden muss.
R. wendet sich drei Teilbereichen zu: Seekrieg, Luftkrieg, Partisanenkrieg.
(a) Der Seekrieg ist ein Gebiet, welches schon relativ früh "geordnet" wurde. Im Ersten Weltkrieg wurden die Regeln aber - nach Diskussionen - sukzessive außer Kraft gesetzt werden, von einem Restbestand abgesehen. Im Zweiten Weltkrieg fand gar keine Diskussion mehr statt; Deutsche wie Japaner wie Amerikaner haben sich vielfach über die Regeln hinweggesetzt.
(b) Der Luftkrieg konnte von Anfang an nicht "geordnet" werden bzw. nur sehr widersprüchlich: Verbot, einen abgeschossenen Flieger zu töten; kein Verbot, mittels Bombenabwurf Frauen und Kinder zu töten.
(c) Der Partisanenkrieg ist eine Form der Auseinandersetzung, in der das Handeln der Beteiligten am stärksten "entgrenzt" ist in dem Sinne, dass alle Regeln und Hemmungen, die im zivilen Leben gelten, außer Kraft gesetzt sind. Selbst die Frage nach dem "Sinn" wird dann vollständig ausgeblendet. R. erwähnt in diesem Zusammenhang die Einrede des Generals Reinhardt im OKW-Prozess, der - vergeblich - damit argumentiert hat, dass ja auch im Bombenkrieg, genau wie im Partisanenkrieg, wahllos getötet wird.
Jeder Krieg entwickelt eine eigene Signatur der Gewalt. Was die Wahrnehmung betrifft, so macht das empirische Material deutlich: Soldaten glauben praktisch alles, was ihnen "von oben" oder per Gerücht über den Feind, dessen Unmenschlichkeit usw. zugetragen wurde; reflektiert wird darüber kaum, Zweifel werden relativ selten geäußert ("das ist eben so").
An dieser Stelle kommt R. [etwas überraschend] auf die Studienreform ("Bologna-Prozess") zu sprechen: Fast alle Sachverständigen wissen, dass dabei nichts Gutes herauskommen kann, aber niemand geht wirklich auf die Barrikaden.
Gegen Ende plädiert R. dafür, den Begriff "Naziverbrechen" nicht mehr zu verwenden. Experimente wie das von Milgram haben gezeigt, dass buchstäblich jedermann bereit und in der Lage ist, schwerste Verbrechen zu begehen und anschließend ohne weiteres in das bürgerliche Leben zurückzukehren. Dies trifft auf die 17 Millionen deutschen Wehrmachtsgehörigen auch zu.
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Ich habe Gelegenheit, drei Fragen zu stellen:
1. Wenn es zur "Arbeitsplatzbeschreibung" gehört, dass Soldaten in "entgrenzten" Situationen Menschen ermorden - trifft dann der umstrittene Satz "Soldaten sind Mörder" zu?
Antwort: Nein, denn natürlich muss man zwischen Mord und Totschlag unterscheiden. Richtig ist aber, dass es die Aufgabe von Soldaten ist, zu töten. [Hieran entzündet sich eine Nebendiskussion über Afghanistan, die ich hier weglasse.]
2. Viele Historiker meinen, dass man sich moralischer Urteile enthalten muss; wenn überhaupt, muss eine historische Person "aus seiner Zeit heraus" beurteilt werden - ist der "Referenzrahmen" im Grunde ein Ansatz, der auf das Gleiche hinausläuft?
Antwort: Das kann man so sehen; die Arbeit am "Soldaten"-Projekt hat allein das Ziel, Verhalten zu erklären.
3. Wenn das Referenzsystem das Verhalten von Soldaten in derart hohem Maße beeinflusst - wird es dann nicht sehr schwierig, jemanden für seine Taten verantwortlich zu machen bzw. zu bestrafen?
Antwort: Die Hauptschwierigkeit besteht darin, dass die "Regeln" des Krieges einem ständigen Wandel unterworfen sind.
[Frage 4 konnte ich nicht mehr stellen: Zu welchem Ergebnis würde man kommen, wenn das Konstrukt "Referenzsystem" auf die SS-Mannschaft in einem KZ angewendet würde?]
Andere wichtige Fragen von Teilnehmern:
4. Handelt es sich bei der Verfolgung von Kriegsverbrechen grundsätzlich um Siegerjustiz? R. verweist [bejahend?] auf die Prozesse nach 1918 und nach 1945 und auf Ereignisse in Vietnam und Irak. Auf eine entsprechende Zusatzfrage äußert R.: Man kann nicht sagen, dass es für den Zweiten Weltkriegs eine andere/bessere völkerrechtliche Beurteilungsbasis gibt als für frühere Kriege, eben weil die Festlegung von Regeln zu willkürlich erfolgt. [Es gibt also keinen Unterschied insoweit zwischen WK-2 und z.B. dem 30-jährigen Krieg.]
5. Muss bei der Beurteilung soldatischen Handelns nicht unterschieden werden, ob es sich um einen Angriffskrieg oder einen Verteidigungskrieg handelt? R. hält das für keine taugliche Unterscheidung, denn der Charakter eines Krieges läßt sich - ähnlich wie die Einhaltung von "Regeln" - im Zweifelsfall nicht zuverlässig genug bestimmen.
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Ein Teilnehmer fasste so zusammen: Er habe den Eindruck, dass die Erkenntnisse der "Soldaten"-Studie im Wesentlichen darauf hinausliefen, Kriegsverbrechen zu relativieren. Dieser Ansicht schlossen sich beim anschließenden Smalltalk weitere Zuhörer an.
Mein eigenes Unbehagen formuliere ich so: Dieser Abend hat mich noch nicht überzeugt, dass das Konstrukt des "Referenzrahmens", wenn man es auf Kriegsverbrechen anwendet, zu wirklich neuen Einsichten führt. Denn wenn z.B. festgestellt wird, dass - bei entsprechendem Refererenzrahmen - jedermann jederzeit zum Verbrecher werden kann, das dann kommt man irgendwann auf den Satz:
"Aus so krummem Holze, als woraus der Mensch gemacht ist, kann nichts ganz Gerades gezimmert werden".
Der hat freilich keinen Neuigkeitswert, sondern stammt von Immanuel Kant.