Pardon vorab. ich kann nichts dafür, dass ich gleich mal wieder einen Faden mit unangebrachtem Festungskrempel zumülle, das ist ein Reflex, kann ich nichts dagegen tun, und der Reflex wird hier durch dieses Stichwort
in beschleunigten Verfahren
ausgelöst.
Das beschleunigte Verfahren, auch "beschleunigter Angriff" genannt, ist quasi ein alter Hut, schon vor der Brisanzkrise tauchte es auf und sorgte mancherorts für respektzollende Gegenmaßnahmen: z.B. 1886 wurde in Warschau der
innere Festungsring (sic! prominente Exempel sind Fort Mokotow und Fort Bema inklusive verbindendem Grabensystem) gebaut, als Gegenmaßnahme falls ein beschleunigter Angriff eine Lücke im paar Jahre älteren
äußeren Festungsring bewirken sollte.
Um das nachvollziehbar zu machen ein im ersten Moment kurios-skurriler Blick in die Deutschtümelei von Felix Dahn, den historischen Roman "Kampf um Rom" aus dem Jahr 1876 (an dieser Stelle kann man den Festungsfreak nun für endgültig verrückt halten, denn Dahns Gotenschmöker kann nichts mit der Militärhistorie des Ersten Weltkriegs zu tun haben) Das Jahr 1876 befindet sich noch gegen Ende in einer rasanten Militärkontroverse*) : einerseits hatte das "Festungssterben" infolge der Artillerie, welche die veralteten französischen Festungen 1870/71 zerniert hatte, begonnen, andererseits orientierte sich der Festungsbau neu (weniger, dafür umso größere und stärkere Festungen)
Klassisch sozusagen war, eine Festung bei einer Belagerung
komplett zu umschließen, sich ihr dann peu a peu zu nähern und den Hauptwall zu breschieren: genau das versuchen die Witichis Goten mit der
riesigen Festung Rom. Da deren Umfang aber gewaltig war, musste sich der
Hauptangriff auf einzelne Abschnitte zentrieren und
Scheinangriffe sollten davon ablenken - der Verteidiger Cethegus in der Stadt hat den Vorteil des
besseren Überblicks (Beobachtungsposten) und der ausgebauten und
kürzeren Kommunikationslinien (klar: innerhalb des Festungsgürtels sind die Wege kürzer als außerhalb und gar außen ganz drumherum) und dank
Spionage/Verrat weiß er immer, wo was geplant ist, sodass er seine
Truppen optimal gegen den jeweiligen Angriff zusammenscharen kann - - - die
unterstrichenen Wörter markieren das, was in Dahns Erzählen militärisch zeitgenössisch ist! Der beschleunigte Angriff verbirgt sich im Hauptangriff, Truppen- & Artilleriebewegungen in der immens umfangreichen Festung, Beobachtung, Spionagekatastrophen (vgl. Koblenz) - das Arsenal der Festungskriegüberlegungen vor 1885 (Brisanzkrise)
An anderer Stelle rät General Narses seinem Kaiser (Justinian), bevor er die Goten angreift, möge er im Südosten gegen die Perser "einen siebenfachen Gürtel von Festungen" bauen - die sieben ist übertrieben, aber ein Gürtel von Festungen ist inspiriert a) von den Fortgürteln und Fortlinien der 70er Jahre und b) die beginnenden Planungen des "eisernen Riegels" Barrière de fer
Held Belisar wie auch Götterliebling Totila sind immer für eine stramme Hurra-Attacke zu haben, als wären sie die Personifizierung des beschleunigten Angriffs - Cethegus und Narses sind weniger heldenhaft, perfektionieren Truppenverlagerungen, Strategien und defensive Konzepte (und weil sie keine Lichtgestalten sind, präferieren sie diplomatische Ränke, Verrat und Spionage), als wären sie die Personifizierung des Geniecorps (Festungsbauer)
Zuletzt sei zu Dahns Militärvokabular noch erwähnt, dass allerorts von Schanzen und Forts anstelle von Castellen etc die Rede ist - der Roman ist voll von um 1875 aktuellem Militärvokabular!
Kurzum: der beschleunigte Angriff als Konzept ist dem immens gewachsenen Umfang großer zentraler (bzw Kommunikationsknoten sperrender) Festungen geschuldet**), entspricht psychologisch der Haudrauf-Mentalität schneidiger Offiziere, wie es sie nicht nur bei den Preussen gab (schon bei Kleist kann man über diesen Typus lesen), und überschätzt typisch für ab 1871 die Durchschlagskraft von Artillerie mit nachfolgendem Infanterieangriff auf feste Plätze.
Ab 1885 erhielt diese Anschauung zunächst erneut Auftrieb: die Brisanzmunition/Brisanzgranaten inklusive weiter gesteigerter Reichweite der Artillerie! Erneut setzte Festungssterben ein, diesmal gravierender. Gegen die neuartige Sprengmunition erwies sich jedes bisherige Mauerwerk (Ziegel- oder Steingewölbe unter Erdschicht) als zu schwach, d.h. jede noch so große/umfangreiche Festung aus Erddeckung und Mauerwerk konnte in Kürze zerstört werden bzw. sturmreif geschossen werden - der beschleunigte Angriff mit Brisanzmunition hatte die Oberhand, scheinbar. Die Militäringenieure verwendeten als neuen Baustoff Stahlbeton, die Festungsartillerie wurde beschussfest Genacht (Panzerung - Panzerforts, Panzerbatterien) und die Festungen/Festungsbereiche wurden
noch größer/umfangreicher und tiefer gestaffelt; Artillerie und Infanterie wurden getrennt und zugleich beweglicher gemacht (die nicht stationäre (Panzertürme) Festungsartillerie wurde je nach Lage schnell disloziert, konnte via Straßen- oder Bahnnetz umgruppiert werden (Festungsbahnen vgl. Köln, Metz, Mainz) - - hier folgt nach 1890 eine sonderbare Widersprüchlichkeit: einerseits hielt man Festungen für unzeitgemäß und nutzlos, andererseits baute man einige extrem teure, starke, moderne (s.o.) und setzte viel auf diese, z.B. Metz, Mainz, Kiel in D, Verdun, Toul in F, Modlin, Brest, Wladiwostok in R, Przemysl, Pola in Ö usw usw
Der Schlieffenplan setzte auf die monströse Festung Metz als Angelpunkt und auf Mainz als Rückversicherung, auch einem Falkenhayn war klar, dass eine monströse Anlage wie Metz nicht per "Handstreich" (beschleunigtem Angriff) geknackt werden konnte***) - hinzu kommt die Erfahrung von Port Arthur: dort ging nicht mit beschleunigten Angriffen!! Die Festungsbaustelle musste 1905 monatelang unter immensen Verlusten belagert werden, die neuartige Konzeption mit MG-Nestern, gesplitteten Befestigungsanlagen erwies sich als sehr aufhaltsam. Das Militär nach 1905 wusste sehr wohl, dass riesige Befestigunsgruppen (a la Metz) mit beweglicher Artillerie, Vorfeld- & Zwischenraumverteidigung, kilometertief gestaffelten Stellungssystemen, bombensicherer gepanzerter weitreichender Artillerie etc etc (was so alles zu Festungen gehörte) sich nicht auf die Schnelle platt machen ließen. Verdun war nur teilweise so modern und stark ausgebaut wie Metz, aber da Verdun als Teil der Front nicht umschlossen werden konnte und permanent aus dem Hinterlang versorgt war, erfolgte der irrwitzige Plan, dort per beschleunigtem Angriff mittels massivem Artillerieeinsatz die feste Stellung zu knacken, wider besseres Wissen!
(ein beschleunigter Angriff kann nur Erfolg haben, wenn:
a) die stärksten Artilleriestellungen (Panzerforts, Panzerbatterien) und Hindernisse (Grabensysteme, Traditoren etc) des angegriffenen Abschnitts zerniert werden können, wozu man
b) wissen muss, wo sich diese befinden (entweder durch Verrat/Spionage oder durch Beobachtung ("Luftaufklärung" etc)
c) die Belagerungsartillerie selber eine feste und nicht rasch auszuspähende Position einnimmt
zu a) und b) sei erwähnt, dass ein zu durchbrechender Abschnitt mehrere Kilometer tief (!) und nicht nur breit gestaffelt ist, über viel bewegliche aber auch getarnte Artillerie verfügt und a priori so günstig wie möglich an das Gelände angepasst ist, also ohnehin Vorteile gegenüber dem Angriff hat.
Es war schon nicht einfach, im "Grabenkrieg" eine Front zu durchbrechen - die tief gestaffelten, eingegrabenen Stellungen im Grabenkrieg waren ziemlich haltbar: im mehrere Kilometer tief gestaffelten Festungsbereich muss man sich optimal ins Gelände eingebrachte, betonverstärkte, getarnte Stellungen a la Schützengrabensysteme vorstellen, also ungleich haltbarer und umfangreicher als bei den Grabenkriegfronten, dazu massive Stahlbetonstellungen (Batterien, Forts, Zwischenwerke/Ouvrages usw)
es war militärisch Irrsinn vor Verdun, Irrsinn aus Überheblichkeit.
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*) die Bundesfestungen (Polygonalsystem nach Montalembert) wie Köln, Ulm, Mainz, Koblenz, Ingolstadt usw konnten sich nach den Erfahrungen von 70/71 nicht mehr auf ihre Polygonalenciente mit nah gelegenen einzelnen Forts verlassen, die Reichweite und Durchschlagkraft der Artillerie machte es nötig, durch weiter vorgeschobene Forts und Zwischenwerke die Artillerie des Angreifers vom Stadt- oder Festungskern fern zu halten - die Ära der Gürtelfestungen mit polygonaler Enceinte und älterem innerem Fortgürtel und weit ausgelagerten Biehler Forts als äußerem Gürtel hatte begonnen.
**) nur noch an solchen wurden gigantische Festungsanlagen modernisiert - da aber eine Umfassung/Abschnürung nur unter immensem Aufwand machbar war (das liegt am riesigen Umfang: z.B. der jüngste Festungsring um Mainz befindet sich heute noch außerhalb der Großstadt) stellte das Konzept "konzentrierte Brisanzartillerie als Einleitung des beschleunigten Angriffs" quasi die Angriffsideologie dar, im Vertrauen auf die artilleristische Ausrüstung und Logistik...
***) nicht einmal eine kleine moderne Anlage in günstigem Gelände wie Osowiecz konnte erobert werden