Plutarch stellt verschiedenen Orts, aber vor allem in seiner Schrift „Über den Aberglauben“ bemerkenswerte Überlegungen über 'Atheismus' und 'Aberglaube' an, um diesen vermeintlichen Irrungen ein philosophisches Gottesbild und ein seiner Meinung nach gesundes, positives Verständnis von den Göttern entgegenzusetzen:
[...] Meinst Du nicht, daß zwischen der Verfassung von Atheisten und Abergläubischen der gleiche Unterschied besteht? Die einen sehen die Götter überhaupt nicht, die anderen glauben, sie seien böse; die einen übersehen sie, den anderen gilt das wohlwollende Wesen als angsterregend, das väterliche als tyrannisch, das fürsorgliche als schadenstiftend; das nachsichtige halten sie für bösartig wie ein wildes Tier.
Sodann glauben sie den Bronzekünstlern, den Steinmetzen, den Wachsbildnern, die die bilder der Götter menschengestaltig bilden, plastisch formen und ausschmücken, und vor solchen Bildern werfen sie sich nieder; aber auf Philosophen und Staatsmänner geben sie nichts, wenn sie darlegen, dass Gott erhaben und dabei gütig ist, weltüberlegen und dabei wohlwollend und fürsorglich.
Du siehst nun, wie die Abergläubischen von den Göttern denken, wenn sie ihnen Launenhaftigkeit, Untreue, Wandelbarkeit Rachsucht, Brutalität, Reizbarkeit zuschreiben. Das hat zwangsläufig zur Folge, daß der Abergläubische die Götter haßt und fürchtet. Wie könnte es anders sein, wenn er meint, daß sie ihm die größten Übel zugefügt haben und in Zukunft erneut zufügen werden? Wenn er aber die Götter haßt und fürchtet, ist er ihr Feind. Aber er fällt doch vor ihnen nieder, opfert ihnen und sitzt an Heiligtümern! […]
Aber wie Tantalos froh wäre, unter dem hängenden Felsen wegzukommen, würde auch der Abergläubische froh sein, der furcht zu entkommen, von der er bedrängt wird, und er würde die Haltung des Atheisten als Befreiung preisen.
Auch in seiner Schrift „Über Isis und Osiris“ kommt er zwischendrin auf das Verhältnis von philosophischem Religionsverständnis und jenem „Aberglauben“, nun im Besonderen den der Ägypter, zu sprechen:
Nichts Sinnloses, nichts Fabulöses und nichts auf abergläubischer Furcht Beruhendes nahmen die Ägypter in ihre religiösen Riten auf; es ist ein Irrtum, wenn manche das annehmen. Manches hat praktische und sittliche Gründe, anderes entbehrt nicht eines feinen Bezuges auf Tatsachen der Geschichte oder der Natur.
Immer, wenn man die mythischen Göttergeschichten der Ägypter hört, die von Umherirren, Zerstückelung und vielen Widerfahrnissen dieser Art handeln, muß man sich das oben Gesagte in Erinnerung rufen und darf nicht meinen, daß davon etwas wirklich so geschehen und vollbracht worden sei, wie es erzählt wird. […] Wenn du also in dieser Art und Weise die Überlieferung über die Götter verstanden hast, sie von den frommen und philosophischen Auslegern des Mythos aufnimmst und die religiösen Bräuche zwar stets ausführst und bewahrst, dabei aber überzeugt bist, daß du mit allen Opfern und Handlungen nichts Gottgefälligeres tun kannst als damit, daß du eine wahrheitsgemäße Auffassung von ihnen hegst, dann wirst Du einem Übel entgehen, das nicht geringer ist als Gottlosigkeit: der abergläubischen Götterfurcht.
In Ägypten aber verehrt das Volk die Tiere selbst und umsorgt sie wie Götter; das hat nicht nur dazu geführt, daß ihre heiligen Handlungen mit Gelächter und Spott überschüttet wurden – das ist nur der geringste Teil dieser Einfältigkeit -, sondern es setzt sich dadurch eine gefährliche Meinung fest, die Schwache und Harmlose in schieren Aberglauben versinken läßt, während sie bei den eher energischen und kühnen Charakteren in gottloses, tierhaftes Denken umschlägt. So ist es denn nicht unangebracht, auch bei diesen ägyptischen Bräuchen zu erörtern, was wahrscheinlich ihr Sinn ist [...]
Plutarch selbst beurteilt die ägyptischen Göttermythen und -kulte sehr positiv, weil er in ihnen gewissermaßen Sinnbilder für bestimmte philosophische Grundwahrheiten erblickt. Andererseits aber wird seine Ansicht deutlich, dass der Großteil der Ägypter diese Sinnbildhaftigkeit gar nicht erfasse, sondern die Mythen für Realität halte, in abergläubischer Bedrückung und quälender Angst vor den vermeintlich unberechenbaren Göttern lebe, von denen man Gutes erhoffe und zugleich Schreckliches erwarte. Plutarch mag dieses 'negative' Element der ägyptischen Volksreligion überbetonen; und ich will auch gar nicht behaupten, dass Plutarch sich unbedingt gut in die Glaubenswelt des kleinen ägyptischen Bauern hineinzuversetzen vermochte. Aber dass die ägyptische Götterwelt – sofern man sie nicht philosophisch 'entschlüsselte' – keine war, in der man sich besonders geborgen, sicher und beruhigt fühlen konnte, ist für mich schon nachvollziehbar.
Ich bin nicht der Meinung – und Plutarch sagt das auch nicht –, dass ausnahmslos alle altgläubigen Ägypter in dauernder Angst und Furcht vor ihren Göttern lebten. Zumindest der hellenisierte Teil der ägyptischen Bevölkerung dürfte vieles in der einheimischen Religion und an seinem Kult als symbolisch und sinnbildlich begriffen haben (ähnlich wie anderswo in der hellenistisch-römischen Welt auch). Aber das düstere Bild, welches Plutarch von den „Abergläubischen“ zeichnet, wird letztlich schon ein Stück weit auf eigenen Erfahrungen und zeitgenössischem Wahrnehmen basieren. Es ist deshalb vermutlich nicht übertrieben, wenn man sagt, dass so mancher Ägypter seine Götter nicht aus Freude und Zuneigung heraus verehrte, sondern gewissermaßen aus dem 'Zwang des Aberglaubens' heraus.
Plutarch stellt ja auch die beiden Alternativen für jenen vom 'Aberglaube' Geplagten dar:
1.) Er konnte Atheist werden (was Plutarch natürlich nicht empfiehlt, aber scheinbar immer noch für besser als ein Verharren im Aberglauben befindet).
2.) Er konnte sich philosophisches Wissen erwerben, um in die eigentlichen Bedeutungen der religiösen Mythen und Religionsbräuche einzudringen und wahre Gotteserkenntnis zu erwerben (Plutarch macht zu Anfang in „Isis und Osiris“ deutlich, dass es Denken und Wissen, Erkennen und Erkenntnis sind, die zur Glückseligkeit führen).
Sich in die „Gottlosigkeit“ zu stürzen, war sicherlich für viele Menschen keine wirkliche Alternative. Aber auch die Beschäftigung mit Philosophie, wozu man Bildung brauchte, lesen können musste, Zeit und Geld für Unterricht oder Bücher haben musste, dürfte für viele einfache Leute gar keine realistische Alternative gewesen sein. Jetzt kommt diese m. E. nicht unrichtige Bemerkung ins Spiel:
Die Attraktivität des Christentums bestand also - letztlich - in seiner Einfachheit und intellektuellen Anspruchslosigkeit [...]
Das erscheint mir auch so. Für die einfachen Leute war das recht einfache Christentum vermutlich eine echte, attraktive Alternative. Attraktiv dürfte es auch im Kontrast zum von Plutarch dargestellten „Aberglauben“ gewesen sein, wenn man sich manche Elemente dieser neuen Botschaft vergegenwärtigt:
Es gibt nur einen Gott. Er ist kein willkürlicher Gott, hat nicht gute und schlechte Seiten, sondern er ist durch und durch gut und liebt die Menschen als seine Geschöpfe. Er pflegt kein Ansehen der Person; er liebt die Schwachen, Kranken, Armen und Sklaven nicht weniger als die Starken, Gesunden, Reichen und Herren. Vielmehr solidarisiert er sich in Jesus Christus mit den Schwachen und verabscheut jedes Unrecht, das ihnen zugefügt wird.
Da es außer diesem Gott keinen Gott gibt und auch keine anderen Mächte, ob im Himmel oder auf Erden, die unabhängig von ihm schalten und walten könnten, wird Gott letztendlich jedes Unrecht beseitigen und vollkommene Gerechtigkeit schaffen. Er hält alles in seiner Hand, nichts kann gegen seinen Willen geschehen.
Leid, Krankheit, Tod und Unrecht in dieser Welt entspringen nicht undurchsichtiger, willkürlicher und mitleidsloser Herrscherpraxis der Götter, denen man ausgeliefert ist, vor denen man Angst haben müsste und die man versuchen müsste irgendwie zu besänftigen, sondern es sind Folgen der Sünde der Geschöpfe, der Menschen und Engel, Wirkungen einer gefallenen Schöpfung. Aber jeder sündige Mensch, auch der Mörder, kann umkehren und sich Gott zuwenden. Egal wie er gelebt hat, egal was er getan hat. Wenn er aufrichtig umkehrt, vergibt Gott ihm seine Sünden und empfängt ihn mit offenen Armen. Im Himmel herrscht über diesen Umkehrenden Freude. Jeder hat in jeder Sekunde seines Lebens die Möglichkeit, neu anzufangen, mit dem allmächtigen Gott ins Reine zu kommen. Gott richtet die sündige Schöpfung nicht zugrunde, sondern er richtet sie wieder auf. Vollständig wird das zwar erst am Ende der Zeiten geschehen, aber schon jetzt heilt er Kranke, lässt Witwen und Weisen durch seine Gemeinden versorgen, ruft Herren auf, ihre Sklaven gerecht zu behandeln und ruft Sklaven auf, ihre Herren nicht zu hassen. Er ruft auf, einander Gutes zu tun, Gott, den Nächsten, sogar den Feind zu lieben, Böses mit Gutem zu vergelten und für diejenigen, die einem Böses antun, um Vergebung zu bitten, ohne Verbitterung das eigene Kreuz zu tragen, Gott auch im Leid zu vertrauen und sich seiner Nähe und Liebe bewusst zu sein. Gott sieht den einzelnen. Man ist nicht von Gott vergessen, sodass man Unrecht selbst rächen müsste, um nicht der Dumme und Leidtragende zu sein, sondern Gott sagt: „Mein ist die Rache“.
Das ist ein völlig neuartiges und innovatives Programm! Ein Programm, das einen von Furcht und Angst vor der Willkür der Götter frei macht und endlich durchatmen lässt, ein Programm, das freilegt, wie wichtig, wertvoll und geliebt jeder einzelne Mensch in Gottes Augen ist, egal wie unbedeutend, abgeschrieben und vergessen er in dieser Welt zu sein scheint, ein Programm, das verspricht, dass Gott Versöhnung und Heil für die Menschen im Sinn hat, dass diese Tatsache schon auf Erden im Glauben an Jesus Christus erfahrbar sei. Der Sohn Gottes sprengte die Ketten der Sünde, indem er Vergebung zusprach, heilte Kranke, machte Blinde sehend, trieb Dämonen aus, tat Wunder, weckte sogar Tote auf. Und all das geschehe im kraftvollen Namen des Auferstandenen auch jetzt noch nach wie vor. Erlösung, Heilung, Heiligung und Heil waren möglich und greifbar. Wäre ich damals ein 'altgläubiger' Ägypter gewesen, und jemand hätte mir solch eine Botschaft gepredigt, hätte ich vermutlich zu diesem Gott gehören wollen. Ist es von mir zu einfach gedacht, dass das Evangelium in den Ohren vieler damaligen Menschen schlicht und einfach tatsächlich eine endlich „Frohe Botschaft“ war? Schon alleine das Moment der Empathie Gottes mit den Menschen, wofür Jesus Christus laut christlicher Botschaft das Zeugnis schlechthin ist, dürfte doch bei nicht wenigen der damaligen Menschen Sympathie für diesen Gott, für diesen Glauben geweckt haben?
Klar ist, dass Botschaft und Selbstanspruch der Christen und Christengemeinden sich nicht immer und überall mit ihrer Lebenspraxis und ihrem Verhalten gedeckt haben werden, dass Erfahrungen mit Christen und Gemeinden nicht immer und für jeden nur positiv gewesen sein müssen. Es wird deshalb zweifelsohne auch Enttäuschung, Skepsis und Ablehnung gegenüber den Christen gegeben haben. Aber das allzu menschliche Element war ja kein Patent dieser Religionsgemeinschaft, sondern wird überall anders in nicht geringerem Maße ebenso zu finden gewesen sein. Deshalb bleibt für mich die Frage, ob nicht die christliche Botschaft, das Evangelium als eine frohe Botschaft in der Tendenz ganz einfach einen Vorteil gegenüber der herkömmlichen ägyptischen Religion hatte, die eben nicht in solchem Maße frisch, neu und froh-machend war, sondern vermutlich ein Stück weit als bedrückend und erdrückend empfunden werden konnte.