Die Niederschrift der Annalen erfolgte 116/117 nC, die von De vita Caesarum vermutlich zwischen 117 – 122 nC.
Das ändert doch nicht daran, dass Tacitus einen Vorfall berichtet, der 64 nach Christus stattfand.
Wie Du zutreffend bemerkt hast, waren die Kenntnisse der beiden Geschichtsschreiber, die Christen betreffend, nicht besonders gut. Zwei hochgebildete Römer wussten also zur Zeit des Entstehens ihrer Werke über die Christen, über die sie berichten, kaum Bescheid.
Es drängt sich daher der Schluss auf: Die Christen wurden von der römischen Gesellschaft des beginnenden 2. Jhs noch kaum wahrgenommen. [...]
Die Zeit der Herrschaft Neros (54-68 nC), habe ich nicht datiert, sondern als bekannt vorausgesetzt. Meine Schlussfolgerung war: Wenn die Christen von der römischen Gesellschaft am Beginn des 2. Jhs als eigenständige Religionsgemeinschaft kaum wahrgenommen wurden, darf das auch – und zwar in vermehrtem Maße - für die Zeit der Herrschaft Neros gelten.
Ich halte diese Schlussfolgerung für falsch. Natürlich wurden sie wahrgenommen, so wie wir heute ja auch Religionsgemeinschaften in unserer Gesellschaft wahrnehmen. Aber man hatte keine inneren Kenntnisse. Verglichen mit unserer heutigen Gesellschaft: Wir haben heute nur noch sekundäres Analphabetentum, jeder Bürger lernt im Laufe seines Lebens lesen und schreiben, wir haben Internet und andere Massenkommunikationsmedien. Und doch haben wir kaum Ahnung von den Befindlichkeiten unserer Nachbarn. Kaum jemand weiß etwas über die Muslime, obwohl seit 60 Jahren muslimische Gastarbeiter in Dtld. leben und obwohl diese seit dem 11. September 2001 in cummulo in den Fokus des medialen Interesses gerückt sind.
Nun stellen wir uns einen Römer vor. Keine Zeitung, kein Internet, kein Fernsehen. Woher soll der etwas seriöses von Christen erfahren, wenn nicht von diesen selbst? Stattdessen hört er etwas von Ritualmorden (dies ist mein Leib, dies ist mein Blut) und dass sie den Kaiserkult verweigern. Tatsache ist, sie wurden wahrgenommen, und zwar als Störer der römischen Ordnung, da sie den aus römischer Sicht zum Erhalt des Staates notwendigen Kaiserkult nicht mitmachten (was wohl neben den unterstellten Ritualmorden der Anlass für den ja nicht unbedingt kaiserfreundlichen Tacitus ist, sie zu perfiden Verbrechern zu erklären).
Ja, aber Pilatus führte eben den Titel eines Präfekten, was bekannt wurde, nachdem man 1961 die Pilatus-Inschrift von Caesarea-Maritima gefunden hatte.
Nix "ja, aber...", ob Prokurator oder Präfekt, das macht keinen Unterschied. Lukas nennt ihn zwar nicht
Procurator, aber Tacitus. Lukas (bzw. Hieronymus) gebraucht die Verlaufsform:
procurante Pontio Pilato.
Man mag Hieronymus unterstellen, dass er Lukas' "
ἡγεμονεύοντος Ποντίου Πιλάτου" nicht angemessen übersetzt (das Wort
ἡγεμονίας (Τιβερίου Καίσαρος) desselben Satzes übersetzt Hieronymus im Übrigen mit
imperii), aber Tacitus wird man kaum unterstellen können, dass der keine Ahnung von den Ämtern der Römer gehabt habe, zumal er selber Präfekt war.
Matthäus (27,2) nennt ihn hegemon (Führer, Herrscher). Bei Markus, Lukas und Johannes hat er keinen Titel. Bei Philo (Legatio 299) und bei Josephus (Bellum II 9,2) heißt er epitropos (Verwalter, Vorsteher), was man üblicherweise mit procurator übersetzt. Vorgänger und Nachfolger des Pilatus heißen bei Josephus auch eparchos (Kommandant, Befehlshaber), wofür im Lateinischen gewöhnlich praefectus steht.
In die Vulgata ging Pilatus als praeses (Vorsteher, Vorgesetzter, Vorsitzender) ein.
Logische Schlussfolgerung: Es gab eine Vielzahl von Möglichkeiten der Übersetzung des Prokuratoren- oder Präfektenamtes.
Das vor allem, weil sich die Christen in den Augen der Römer verdächtig benahmen. Offenbar auch schon ein paar Jahre zuvor.
Sueton schreibt (Claud 25,4):
Judaeos impulsore Chresto assidue tumultuantes Roma expulit.
- "Die Juden, die, von Chrestus aufgehetzt, fortwährend Unruhe stiften, vertrieb er aus Rom" -
So richtig auseinandergehalten hat Sueton Juden und Christen also nicht.
Unter den römischen Juden dürfte es aufgrund christlicher Missionspredigt zu Unruhen gekommen sein, worauf Claudius die Wortführer ausweisen ließ. Der Vorfall fand auch in der Apg mit dem Bericht von der Übersiedlung von Aquila und Priszilla nach Korinth seinen Niederschlag (18,2). Dass das alle Juden betroffen hätte, wie dort behauptet wird, ist unhistorisch. Nur die Unruhestifter (Judaeos impulsore … tumultuantes) - das hat wohl Juden und Christen gleichermaßen betroffen - wurden vertrieben.
Die Frage ist doch, ob Sueton nicht unterschied, oder ob er hier nicht einfach den Text seiner Quelle, der claudianischen Akten, übernahm.
Mit dieser Stelle habe ich so meine Schwierigkeiten, vor allem wenn man sie mit der auch von Dir erwähnten Stelle in der Apostelgeschichte verbindet: Letztere erwähnt ausdrücklich, dass von Claudius alle Juden aus Rom vertrieben wurden. Das finde ich insofern bemerkenswert, als zumindest der Verfasser der Apostelgeschichte definitiv zwischen Juden und Christen unterscheiden konnte. Das legt für mich zwei alternative mögliche Schlüsse nahe:
- Claudius konnte nicht zwischen Juden und Christen unterscheiden und wies daher wegen Problemen mit den Christen gleich alle Juden (inkl. der Christen) aus.
- Mit diesem Chrestos ist gar nicht Christus gemeint, sondern irgendein Unruhestifter unter den Juden in Rom. Daher wurden die römischen Juden ausgewiesen, nicht unbedingt aber auch die Christen.
Letztere Variante können wir wohl aller Wahrscheinlichkeit nach ausschließen. Und dass Lukas zwischen Juden und Christen zu unterscheiden wusste, dürfte klar sein. Sein eigenes Christsein war schließlich das Resultat der Entscheidung, dass auch Heiden Christen werden könnten.
Ich nehme an, dass Sueton über diese Sache unzureichend informiert war und der Verfasser der Apg übertrieben hat.
Davon kann man ausgehen. Die Suetonstelle ist leider sehr unklar formuliert.
In der gegenständlichen Sache halte ich es mit Gerd Theißen, wenn er schreibt:
Die Quelle Suetons ist unbekannt, aber sich nicht christlich. Entweder beruht die Nachricht auf einem vagen Gerücht, oder Sueton hat einen amtlichen Bericht eingesehen und missverstanden.
Das Missverständnis dürfte schon im amtlichen Bericht gelegen haben.