War George Orwell Trotzkist?

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1985

Gast
War George Orwell (weniger bekannt unter seinen echten Namen, Eric Blair) Mitglied oder Sympathisant der 4. Internationalen?

Aus seinen Werk könnte man das durchaus denken. Immerhin kommen sowohl in Farm der Tiere als auch in 1984 jeweils Figuren vor, die eine Anspielung auf Trotzki sein werden und die (theoretisch) Widerstand leisten gegen die Unterdrückung und das Unrecht der jeweiligen Herrschers (der wohl auf Stalin und sein System gemünzt war) klar erkannte und benennen konnte.

Allerdings finden sich in den Essays Orwells, die auf deutsch erschienen sind, keine Anspielung auf Trotzki, jedenfalls keine, die ich bemerkte. Dafür kritisiert er die Linken seiner Zeit und insbeamdere die Kommunisten, z. B. wenn sie die Meinungsfreiheit nur als "bürgerlich" zurückweisen, je nach Haltung der Sowjetunion Propaganda für deren Politik machen und so ihre Bewertungen und Ideen ständig anpassen oder wenn sie günstigere Bedingungen für Deutschland als den Versailler Vertrag fordern.
Andererseits scheint er seine Hoffnungen bis zuletzt auf eine kommunistische Revolution gesetzt zu haben. Das sieht man sowohl in den literarischen Werken (die Prols sollen sich in Ozeanien erheben) als auch an den Essays. Das würde meines Erachtens sehr gut zu einem Trotzkisten passen, der ja immer noch Marxist-Leninist ist, aber von Stalin und Sowjetunion nichts wissen will.

Weiß jemand Antwort?
 
Orwell war vor dem zweiten Weltkrieg Mitglied der Independent Labour Party, einer linkssozialistischen, aber nicht unbedingt trotzkistischen Partei. Er hatte im spanischen Bürgerkrieg viel Kontakt zu Anarcho-Syndikalisten und wurde von ihnen stark beeinflusst. Er selber bekannte sich zum demokratischen Sozialismus. Im zweiten Weltkrieg verließ er die Partei aufgrund seiner Befürwortung eines Krieges gegen Nazi-Deutschland, den die ILP ablehnte.

Goldstein könnte im übrigen Trotzki sein. Zumindest erinnerte er mich an ihn, bzw. an die stalinistische Propaganda gegen Trotzki.
 
Orwell war während des Spanischen Bürgerkriegs Mitglied der Miliz des trotzkistischen P.O.U.M : Partido Obrero de Unificación Marxista. Als diese Partei auf betreiben der (Stalinistischen) Kommunisten verboten und zerschlagen wurde, floh er nach Frankreich. In seinem Buch "Mein Katalonien" berichtet er über diese Zeit.

Partido Obrero de Unificación Marxista ? Wikipedia

Das beantwortet meine Frage, bzw. bestätigt meinen Verdacht. Herzlichen Dank.

Man kann also davon sprechen, dass Orwell mit den Trotzkismus in Verbindung kam, vielleicht auch von ihn beeinflusst wurde, er aber selbst nicht (mehr) aktiv an deren Organisationen teilnahm.
War er denn "ideell" noch mit den Trotzkismus verbunden? Ein Selbstzeugnis wäre ausschlaggebend. Allerdings denke ich, dass Orwells Bücher uns da genug beweiskräftiges Material liefern. Danke jedenfalls.
Leider habe ich das Buch "Mein Katalonien" nie gelesen, da sieht man, dass schon ein kleiner toter Winkel den Blick versperren kann. :D

@YoungArkas:
Das war mir teilweise bekannt. Allerdings beantwortet es die Frage nicht.
Ich kenne nicht die Haltung der "demokratischen Sozialisten" (der Ideologie und Selbstauskunft nach sind ja auch Kommunisten Demokratien, Räterepublikaner sogar) zur Stalin und der Sowjetunion. Ich kann mir allerdings nicht vorstellen, dass bei denen eine Figur wie Goldstein (der Geburtsname Trotzkies, bevor er den Kampfnamen annahm) oder das Schwein Schneeball (Snowball) eine zentrale Rolle im Widerstand gegen den Tyrannen spielen würde.
Wobei ich mir andererseits vorstellen würde, dass die Trotzkisten das Problem auch eher im System ("Bürokratismus", ich führe es an, ohne ihre Vorstellungen zu teilen) als in einer einzelnen Person sehen würden. Was Orwell in 1984 ja auch nicht tut. Aber Farm der Tiere erweckt den Eindruck.
 
Orwell war während des Spanischen Bürgerkriegs Mitglied der Miliz des trotzkistischen P.O.U.M : Partido Obrero de Unificación Marxista. Als diese Partei auf betreiben der (Stalinistischen) Kommunisten verboten und zerschlagen wurde, floh er nach Frankreich. In seinem Buch "Mein Katalonien" berichtet er über diese Zeit.

Orwell wollte 1936 zunächst nur nach Spanien gehen, um über den Bürgerkrieg zu berichten. Dazu brauchte er ein 'Empfehlungsschreiben' einer politischen Organisation und wandte sich deshalb an den Vorsitzenden der Britischen Kommunistischen Partei. Dieser stufte Orwell allerdings nach einem Treffen als politisch unzuverlässig ein und verweigerte das Papier. Daraufhin fragte er bei der Independent Labour Party an und bekam das nötige Dokument. Die ILP war in Spanien mit der POUM affiliiert.

Im Frühjahr 1937 suchte er allerdings um Entlassung aus der POUM-Miliz nach, um sich den Internationalen Brigaden anzuschließen. Der Grund dafür war allerdings nicht politischer Natur, sondern daß er an den Kämpfen um Madrid teilnehmen wollte. Dazu kam es aber nicht mehr, da er sich zu diesem Zeitpunkt auf Fronturlaub in Barcelona aufhielt und dort in die Kämpfe zwischen Anarchisten und Kommunisten geriet. Kurze Zeit später wurde er verwundet und mußte nach dem Verbot der POUM aus Spanien fliehen.

Als Trotzkist kann man Orwell nicht bezeichnen. Er war vor allem ein kategorischer Gegner jeder Form von Orthodoxie. Besonders zuwider war ihm intellektuelle Unaufrichtigkeit in Form des Verbiegens und Verschweigens eigener Überzeugungen aus Anpassung an eine Parteilinie oder aus Angst vor 'Beifall von der falschen Seite'. Sehr gut dargelegt ist diese Haltung z.B. in dem Essay 'The Prevention of Literature' (1945/46):

George Orwell: The Prevention of Literature
 
@YoungArkas:
Das war mir teilweise bekannt. Allerdings beantwortet es die Frage nicht.
Ich kenne nicht die Haltung der "demokratischen Sozialisten" (der Ideologie und Selbstauskunft nach sind ja auch Kommunisten Demokratien, Räterepublikaner sogar) zur Stalin und der Sowjetunion. Ich kann mir allerdings nicht vorstellen, dass bei denen eine Figur wie Goldstein (der Geburtsname Trotzkies, bevor er den Kampfnamen annahm) oder das Schwein Schneeball (Snowball) eine zentrale Rolle im Widerstand gegen den Tyrannen spielen würde.
Wobei ich mir andererseits vorstellen würde, dass die Trotzkisten das Problem auch eher im System ("Bürokratismus", ich führe es an, ohne ihre Vorstellungen zu teilen) als in einer einzelnen Person sehen würden. Was Orwell in 1984 ja auch nicht tut. Aber Farm der Tiere erweckt den Eindruck.

Es geht in 1984 ja nicht um den Widerstand. Goldstein ist ja nichts weiter als ein Propagandabild, ein Kontrapunkt zum System, der als Hassfläche dient. Es geht in 1984 um die Gefahr, die absolute Kontrolle mit sich bringt und um die Propaganda, mit der totalitäre Systeme die Bevölkerung verführen.
 
Ich habe jetzt noch einen Abschnitt aus Orwells Essay "Notes on Nationalism" über den Trotzkismus gefunden. Hier das Zitat:

"Trotskyism. This word is used so loosely as to include Anarchists, democratic Socialists and even Liberals. I use it here to mean a doctrinaire Marxist whose main motive is hostility to the Stalin regime. Trotskyism can be better studied in obscure pamphlets or in papers like the Socialist Appeal than in the works of Trotsky himself, who was by no means a man of one idea. Although in some places, for instance in the United States, Trotskyism is able to attract a fairly large number of adherents and develop into an organised movement with a petty fuehrer of its own, its inspiration is essentially negative. The Trotskyist is against Stalin just as the Communist is for him, and, like the majority of Communists, he wants not so much to alter the external world as to feel that the battle for prestige is going in his own favour. In each case there is the same obsessive fixation on a single subject, the same inability to form a genuinely rational opinion based on probabilities. The fact that Trotskyists are everywhere a persecuted minority, and that the accusation usually made against them, i. e. of collaborating with the Fascists, is obviously false, creates an impression that Trotskyism is intellectually and morally superior to Communism; but it is doubtful whether there is much difference. The most typical Trotskyists, in any case, are ex-Communists, and no one arrives at Trotskyism except via one of the left-wing movements. No Communist, unless tethered to his party by years of habit, is secure against a sudden lapse into Trotskyism. The opposite process does not seem to happen equally often, though there is no clear reason why it should not."

Der komplette Essay:
George Orwell: Notes on Nationalism

Zu ergänzen wäre auch noch, dass Orwell sich 1946 bei seinem Verleger Fred Warburg für die Veröffentlichung von Trotzkis Stalin-Biographie einsetzte. In einem Brief an Warburg vom 4. Mai 1946 schrieb er u.a.: "This is not the sort of book that I myself would want to read in toto for its own sake, but I think it is the sort of book that ought to be in print."

Der komplette Brief in: In Front of Your Nose. The Collected Essays, Journalism and Letters of George Orwell, Vol. IV, S. 194-96.
 
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