Was kann in Hinblick auf NS authentisch sein?

Lalilu91

Neues Mitglied
Hallo ihr Lieben!

Ich befasse mich gerade im Studium mit dem Thema Medienkultur im 3. Reich, genauer mit der Propaganda auf Massenveranstaltungen.
Im Seminar kam die Frage auf, ob das NS-Regime hinter seiner Form der Repräsentation zurücktreten kann, also ist hinsichtlich der Propaganda alles inszeniert oder ist auch etwas greifbar?
Sprich, wie viele Schichten der Inszenierung sind im 3. Reich abschälbar, bzw. sind sie überhaupt abschälbar?
Mein Ansatz war nun, das der Anspruch, eine Volksgemeinschaft zu sein, ja authentisch ist, sprich es sich um eine authentische Inszenierung handeln könnte.
Ich finde das Thema sehr komplex, vielleicht kann mir da ja jemand weiterhelfen?
Ich wäre Euch sehr dankbar darüber!

Liebe Grüße!
 
Natürlich sind Aufmärsche etwa auf Zeppelinfeld oder Bückeberg Inszenierungen, sogar solche mit einer sehr rigiden Regie. Und natürlich sollen sie den Eindruck einer Volksgemeinschaft erwecken, durch Uniformität zum einen (Zeppelinfeld), Tradition zum anderen (Bückeberg). Aber ist das die wahre Volksgemeinschaft? Wer wird denn hier wirklich repräsentiert?
Ist Uniformität authentisch?
Ist es authentisch, in riesigen anonymen Blocks in Reih und Glied zu stehen?
Ist es authentisch, die Inidvidualität des einzelnen aufzugeben, um ihn in der Masse verschwinden zu lassen?
Letzteres entsprach ja durchaus der nationalsozialistischen Rasseideologie. Wie das? Nun, die Nazis glaubten an eine biologische Bestimmung, welcher der Angehörige einer Rasse zu folgen habe. Ein ziemlich absurdes Konstrukt, dem die Befindlichkeiten und persönlichen Interessen, geistigen und körperlichen Kapazitäten des einzelnen zuwiderliefen. Und nach ihrer Rassezugehörigkeit sollten die Leute dann auch bitteschön handeln. So sollten die Deutschen gefälligst einen Ruf des Blutes hören, nach Osten zu siedeln. So absurd eine solche Vorstellung ist, die Eingliederung des Individuums in paramilitäische Großeinheiten diente dem Zweck, solche biologistischen Konstrukte zu veranschaulichen. Gleichzeitig sollte der einzelne sich klein, aber auch als Teil eines großen Ganzen fühlen.
 
Der Nationalsozialismus vertrat in vielen Dingen eine rückwärtsgewandte Ideologie, die sich aber mit dem Ziel des Lebensraumgewinns nicht vereinbaren lies. Während im Auftrag der NS-Kultureinrichtungen das Bild der ländlichen Volksgemeinschaft gezeichnet wurde, wurde doch die Industrie, besonders die Rüstungsindustrie gestärkt. Während man den Ausgleich zwischen Arbeiter und Unternehmer in der DAF propagierte, stagnierte doch das Einkommen der Arbeiter, bei steigender Inflationsrate. Organisationen wie KdF, Reichsnährstand und DAF waren zwar durchaus bemüht sich der Vorstellung der Volksgemeinschaft anzunähern, hatten aber nie die oberste Priorität innerhalb des nationalsozialistischen Gewirrs von Organisationen. Priorität hatten die Anstrengungen der Rüstung und der wirtschaftlichen Autarkie. Die Vorbereitungen auf den kommenden Krieg und der spätere Krieg untergruben also das ideologische Fundament der Volksgemeinschaft. Das war auch den Widersprüchen geschuldet, die beim Aufeinandertreffen eines der am höchsten industrialisierten Länder der Welt zum damaligen Zeitpunkt auf eine in weiten Teilen romantisch-agrarisch geprägte Ideologie automatisch ergeben. Tatsächlich wurde spätestens mit der massiven Beteiligung der Frauen an der Kriegswirtschaft und den Anstrengungen eines hochindustrialisierten Weltkrieges die Volksgemeinschaft mit ihrer klaren Rollenaufteilung und ihrem romantischen Weltbild zur bloßen Fassade, die wie viele Häuser in deutschen Städte in dieser Zeit hohl und leer standen, weil der Krieg der im Namen dieser Ideologie geführt wurde, sich das Innenleben geholt hatte.
 
Fraglich ist, ob die Betrachtung der Authentizität solcher Veranstaltungen irgendwo hinführt. Denn es ist ja klar, das nicht das Sein, nicht das Authentische dargestellt werden sollte. Die Regisseure wollten vielmehr die künftige Realität durch Vorwegnahme und Darstellung von Idealtypen verändern.

Bei der Betrachtung der Authentizität einer Inszenierung, ob Theaterstück oder Parteitag, geht es doch nur darum, ob die Inszenierung die Realität möglichst genau trifft, ob Sein und Schein übereinstimmen.

Ob die Regie einer Massenveranstaltung Authentizität (hier mit Inhalt Volksgemeinschaft) erreichte, hängt also auch von der Realität im Alltag ab. Fühlten sich die Deutschen als Volksgemeinschaft wie in der Inszenierung gezeigt? Du sprichst darüber hinaus noch vom möglichen Zurücktreten der Partei hinter die Inszenierung.

Als Vorschlag: Vielleicht hilft eine Annäherung über Fallbeispiel, etwa bekannte Großveranstaltungen?

Reichserntedankfest/Bückeberg: hier wurde ein traditioneller Anlass, Erntedank in einer bäuerlich geprägten Gegend, von der Partei gekapert. Das Volk hätte auch ohne Partei Erntedank gefeiert. Die Partei hat verstärkt, konzentriert und die Veranstaltung braun eingefärbt. Die Teilnehmer waren sicher nicht repräsentativ für alle Deutschen (da eben vor allem ländlich geprägt), trotzdem würde ich sagen: hohe Authenzitität

Reichsparteitage in Nürnberg: vorhergehende Auslese der Teilnehmer, gewisser Drill der Teilnehmer, sehr artifizieller Ansatz. Andererseits war die Anzahl der Teilnehmer so groß, sie selbst so inhomogen, dass noch ein wesentlicher Teil der Volksgemeinschaft vertreten war - mittlere Authentizität

Sportpalastrede / Totaler Krieg-Rede: katastrophale Stimmung im Volk, deswegen handverlesenes Publikum, eigentlich 100 Prozent Claqueure - schwache Authentizität
 
Vielen lieben Dank für eure interessanten Nachrichten, sie sind sehr spannend zu lesen!

Steffen, du hast ziemlich auf den Punkt gebracht, was meine Frage war. Nur ziele ich noch mehr auf die Frage nach der Authentizität des Regimes bei Großveranstaltungen ab. Dein Tipp mit der Annäherung ist toll, nimmt aber vielmehr die Großveranstaltung im Ganzen und die Authentizität hervorgerufen durch die Teilnehmer in den Blick. Mich interessiert noch mehr, ob das nationalsozialistische Regime hinter der Form der Repräsentation zurücktreten kann. Hat das Regime nicht den authentischen Wunsch, eine Formation auszuführen? Ist die Art, sich zu geben, denn nicht gespielt? Komm hier nicht ein Widerspruch zwischen Authentizität und Inszenierung auf (Dichotomie)?
Was kann in Hinblick auf den Nationalsozialismus authentisch sein? Was ist der Gegenpol? Gibt es einen Kern, der völlig anders ist?

Um erneut auf das Publikum anzuspielen: sie waren doch auch zum größten Teil stolz, Teil der Freizeit- und Eventkultur zu sein, oder? Suchte das Individuum die Veranstaltungen in dieser Zeit?

Noch eine letzte Frage: trägt die Inszenierung für den Alltag? Bei dem Regime handelte es sich doch um ein Bewegungsregime, alles musste immer wieder neu inszeniert werden, denn die Einheit sah einen Monat zuvor bzw. danach anders aus. Als Ergebniszusammenhang könnten hier wieder die Reichsparteitage funktionieren.

Wie ihr seht, ich bin noch recht neu bei diesem Thema unterwegs, finde es aber sehr spannend. Sollte ich zu viele Fragen auf einmal oder auch wirr stellen, tut es mir leid, es fällt mir schwer, meine Gedanken zu diesem Thema zu sortieren.
Vielen lieben Dank schon im Voraus für Eure Antworten!
 
Was meinst du denn inhaltlich überhaupt mit "Authentizität des Regimes"? Was heißt das für dich?
 
Nur ziele ich noch mehr auf die Frage nach der Authentizität des Regimes bei Großveranstaltungen ab. Dein Tipp mit der Annäherung ist toll, nimmt aber vielmehr die Großveranstaltung im Ganzen und die Authentizität hervorgerufen durch die Teilnehmer in den Blick. Mich interessiert noch mehr, ob das nationalsozialistische Regime hinter der Form der Repräsentation zurücktreten kann. Hat das Regime nicht den authentischen Wunsch, eine Formation auszuführen? Ist die Art, sich zu geben, denn nicht gespielt? Komm hier nicht ein Widerspruch zwischen Authentizität und Inszenierung auf (Dichotomie)?
Was kann in Hinblick auf den Nationalsozialismus authentisch sein? Was ist der Gegenpol? Gibt es einen Kern, der völlig anders !

Ich weiß nicht, ob ich so weit gehen kann, dass Regime selbst als etwas künstliches zu sehen. Meinst du, dass das Regime selbst eine Inszenierung des sagen wir mal Volkswillens gewesen sei. Eine Theatertruppe, die ihr eigenes Publikum verkörpert? Und das man auf so eine Inszenierung verzichten könnte, wenn das Volk aus sich heraus entsprechend der Ideologie zu agieren anfängt? Ein autopoeitisches Theater? Bezogen auf Regime = Regierung würde ich das mit meinem Verständnis von Politik und Macht nicht zusammenbringen.

Ich sehe aber gerade, du verstehst unter Regime wohl nicht den Regierungsapparat, sondern das NS-Herrschaftssystem mit allen, auch propagandistischen Facetten. Da könnte man sich über die Zeitläufte annähern:

schwache Authentizität in der Anfangszeit, eine steigende bis zum Kriegsbeginn, danach wieder Niedergang.
 
Zuletzt bearbeitet:
Genau, da habe ich mich wohl in der Begriffswahl vertan, tut mir leid.
Ich ziele insbesondere auf die Massenveranstaltungen, wie z.B. den Reichsparteitag, oder das Erntedankfest ab.
Man spricht ja ständig von einer Inszenierung auf den Massenveranstaltungen: die Propagandisten erschufen ein ritualisiertes Gesamtbild ästhetisierter Politik, indem sie die Kunst in äußerst hohem Maße instrumentalisierten und sich in ungleich gründlicherer Form ihrer Rhetorik bedienten.
Kann man insgesamt nur von einer Inszenierung der Massenveranstaltungen sprechen, oder kann das NS-Herrschaftssystem auch hinter der Inszenierung zurücktreten?
Ist also alles inszeniert, oder auch etwas offensichtlicher greifbar?
Zu Anfang sprach ich von den Ansprüchen, dass man diese doch als authentisch bezeichnen kann. Unter Authentizität verstehe ich hier die Dichotomie zu Inszenierung.

Vielleicht habe ich mich jetzt besser ausgedrückt, falls nicht, dann danke ich Euch trotzdem sehr für Eure Anregungen, sie haben mir schon sehr weitergeholfen!
 
Es stellt sich mE sehr die Frage, ob es überhaupt möglich ist, so etwas wie einen "authentischen Kern" des NS anhand seiner theoretischen Ansprüche herauszuschälen.

Das würde bedeuten, es gäbe ein ideologisch-theoretisches Fundament im NS, der innerhalb der formulierten "Ansprüche" (Ziele, Mittel, Nutzenvorstellungen) widerspruchsfrei, geschlossen, unterscheidbar von anderen Ideologien usw. gesehen werden kann. Das scheitert an Widersprüchen, wie zB hier:
25-Punkte-Programm ? Wikipedia

Wenn es keinen authentischen ideologischen Kern gibt, sondern (nur) einen Pragmatismus in der Machterhaltung, der Zielkonkurrenzen aussteuerte und Polykratie beförderte, gibt es auch keine feststellbare Diskrepanz eines solchen Kernes zum Erscheinungsbild bzw. Außendarstellung in der Propaganda. Demnach sehe ich auch keine unterschiedlichen "Authentizitäten" in den Phasen vor 1933 oder 1933-45.

Oder ist mit dem "authentischen Kern" die Frage nach "grundsätzlichen Zielen" des NS angesprochen? Dazu hat YoungArkas instruktiv ausgeführt.
 
Genau, da habe ich mich wohl in der Begriffswahl vertan, tut mir leid.
Ich ziele insbesondere auf die Massenveranstaltungen, wie z.B. den Reichsparteitag, oder das Erntedankfest ab.
Man spricht ja ständig von einer Inszenierung auf den Massenveranstaltungen: die Propagandisten erschufen ein ritualisiertes Gesamtbild ästhetisierter Politik, indem sie die Kunst in äußerst hohem Maße instrumentalisierten und sich in ungleich gründlicherer Form ihrer Rhetorik bedienten.
Kann man insgesamt nur von einer Inszenierung der Massenveranstaltungen sprechen, oder kann das NS-Herrschaftssystem auch hinter der Inszenierung zurücktreten?
Ist also alles inszeniert, oder auch etwas offensichtlicher greifbar?
Zu Anfang sprach ich von den Ansprüchen, dass man diese doch als authentisch bezeichnen kann. Unter Authentizität verstehe ich hier die Dichotomie zu Inszenierung.

Vielleicht habe ich mich jetzt besser ausgedrückt, falls nicht, dann danke ich Euch trotzdem sehr für Eure Anregungen, sie haben mir schon sehr weitergeholfen!

Ich denke, ein ergiebiger Zeitraum für deine Fragestellung wären vor allem die ersten Monate nach der Machtergreifung. Dort gab es bereits große propagandistische Inszenierungen, wie den "Tag von Potsdam". Es war aber auch die Zeit, in der Pfarrer Festgottesdienste am Führergeburtstag abhielten (wohingegen die Begeisterung für den NS bei vielen Predigern später abebbte), Hitler-Linden gepflanzt und Hitler-Linden gesetzt wurden und viele Straßen umbenannt. Die Initiative dafür ging nicht allein von der Partei aus, wobei zu beachten ist, dass in diesem Zeitraum kommunal noch nicht alles gleichgeschaltet war.
Leider fällt mir gerade kein konkreter Literaturtip für diese Phase ein.
 
Es stellt sich mE sehr die Frage, ob es überhaupt möglich ist, so etwas wie einen "authentischen Kern" des NS anhand seiner theoretischen Ansprüche herauszuschälen.
...
Wenn es keinen authentischen ideologischen Kern gibt, sondern (nur) einen Pragmatismus in der Machterhaltung, ...

Wenn mal die These aufgreift, dass die Selbstdarstellung nicht Mittel zum (welchem ?) Zweck , sondern bereits der Inhalt war, dann denke ich, dass dieser Inhalt nicht die Machterhaltung war, sondern eher : "Wir sind eine starke, mächtige Gemeinschaft, und Du kannst Dich glücklich schätzen wenn Du dazugehörst."

Dann wäre die NS-Politik die Entfaltung eben dieser Macht als Selbstzweck gewesen, gerichtet gegen die Nicht-Mitglieder der Gemeinschaft, nach außen gegen andere Staaten und nach innen gegen Nicht-"Volksgenossen", mit hohem Wohlfühlfaktor für die Mitglieder.
 
Wenn mal die These aufgreift, dass die Selbstdarstellung nicht Mittel zum (welchem ?) Zweck , sondern bereits der Inhalt war, dann denke ich, dass dieser Inhalt nicht die Machterhaltung war, sondern eher : "Wir sind eine starke, mächtige Gemeinschaft, und Du kannst Dich glücklich schätzen wenn Du dazugehörst."

Dann wäre die NS-Politik die Entfaltung eben dieser Macht als Selbstzweck gewesen, gerichtet gegen die Nicht-Mitglieder der Gemeinschaft, nach außen gegen andere Staaten und nach innen gegen Nicht-"Volksgenossen", mit hohem Wohlfühlfaktor für die Mitglieder.

Wenn Du mit "Inhalt" meinst, dass die Propaganda explizit Instrument der Machterhaltung neben anderen Maßnahmen gewesen ist, wie zB Repression und Säuberungen, bestimmte wirtschaftspolitische Maßnahmen 1933/34 etc., sehe ich das auch so.
 
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