Wer ist der Agens bei der Velleius-Stelle "occasio ... data esset"?

Schleppschreck

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Wolters macht aber zurecht einen großen Unterschied zwischen Varus und Caecina aus:
Varus hat Lager anlegen lassen und zwar nur damit seine Legionen in der Nacht Schutz hatten. Seine Strategie bestand offensichtlich darin, schnell der Situation zu entkommen! Er wollte schnell Richtung Rhein, bzw. in besseres Gelände. Eine Art Flucht. Man bekommt den Eindruck, daß die Römer sich den germanischen Angriffen nicht genug zur Wehr gesetzt haben.

Caecina hat ebenfalls Lager anlegen lassen. Aber gleichzeitig haben sich seine Truppen den angreifenden Germanen erwehrt. Er hat die Truppen trotz mangelnder Verpflegung im Lager verweilen lassen. Und nicht nur das:
Caecina hat die Lager genutzt um den weiteren Vorstoss der Truppen vorzubereiten. Er hat den Tross nicht aufgegeben, sondern diesen im Schutz der flankierenden Truppen losgeschickt. Das ist derUnterschied! Also war die Niederlage des Varus doch ein Fehler des Feldherrn? So klingt es beim Tacitus.

Vergl.:
Reinhard Wolters:
Die Schlacht im Teutoburger Wald
C.H. Beck Verlag
1. durchgesehene, aktualisierte und erweiterte Auflage 2017

Es gibt da ja auch noch diese mysteriöse Stelle bei Velleius Paterculus, wo es sinngemäß heißt, den Legionären des Varus wäre eine Gegenwehr verboten worden. Vielleicht geht Wolters darauf ein, ich kenne seinen Text nicht.
Delbrück meint dazu (wieder sinngemäß), daß dies sogar verständlich war, um sich nicht in Nachhutgefechten festzufahren, sondern möglichst schnell das nächste Lager zu erreichen.

Aber ok, hat mit Dio jetzt nicht allzuviel zu tun, da bin ich wohl wieder im falschen Thread?
 
Ja, da habt ihr recht, das steht da nicht ganz so, wie ich es im Gedächtnis hatte.

Ich habe außerdem Delbrück mit Georg Rosenfeldt verwechselt.

Der letztere stellt es in seinem Text "Die Varusschlacht" auf S. 22 ungefähr so dar, wie von mir geschildert.

Ihr könnt das PDF laden, einfach bei Google eingeben: Varus Rosenfeldt.

Delbrück hingegen interpretiert die Stelle anders: Er bezieht sie auf die Zeit während der Kapitulationsverhandliungen.

Man findet die Stelle in Geschichte der Kriegskunst, 2. Teil Die Germanen, 1. Buch. Der Kampf der Römer und Germanen 4. Kapitel. Die Schlacht im Teutoburger Walde, Unterkapitel Die Schlußkatastrophe.

Wen es interessiert: Auch diese Quelle findet man im Internet, z.B. googeln nach: Delbrück, Hans, Geschichte der Kriegskunst.
 
Ich habe diese Stelle nie so verstanden, dass sie von Varus dafür bestraft worden wären, dass sie 'nach Art der Römer' (quia Romanis) gekämpft hatten, sondern dass sie deswegen von den Germanen niedergemetzelt wurden. Offen bleibt, ob damit vorherige Schlachten gemeint waren oder eben diese Schlacht. Insofern wäre die Schlussfolgerung von Rosenfeldt, Varus habe Scharmützel und Nachhutgefechte vermeiden wollen, um schneller zum Rhein zu gelangen, falsch.
Wörtlich steht dort:
"Es wäre denselben jedoch keine Gelegenheit gegeben gewesen (occasio ... data esset) - so sehr sie das auch wollten - ungehindert zu kämpfen oder zu entweichen."​
Das übersetzt Rosenfeldt als "es wurde ihnen nicht gestattet" und interpretiert dies als Verbot des Varus. Dagegen können eigentlich nur die Germanen als Agens gemeint sein, welche den Römern keine Gelegenheit gaben zu kämpfen oder zu entweichen.

Wie nun Delbrück seinerseits auf die Kapitulationsverhandlungen kommt - die kommen doch erst viel später - erschließt sich nicht.
 
Zuletzt bearbeitet:
Meine Übersetzung von Velleius (an der ich vielleich später noch mal etwas Kritik hinsichtlich einer anderen Stelle üben werde, aber da muß ich mich erst mal durch den lateinischen Text stöckern) sagt:

Weder zum Kämpfen noch zum Ausbrechen bot sich ihnen, so sehnlich sie es sich auch wünschten, ungehindert Gelegenheit, ja, einige mußten sogar schwer dafür büßen, daß sie als Römer ihre Waffen und ihren Kampfgeist eingesetzt hatten.

Dann ist da sogar noch eine Entsprechung bei Cassius Dio:

Anfangs schossen sie [die Germanen] nur von weitem, dann aber, als sich keiner wehrte und viele verwundet wurden, begannen sie den Nahkampf.

Also Velleius: Einige Römer mußten schwer dafür büßen, gekämpft zu haben.

Das kann man eigentlich nicht so interpretieren, daß sie durch die Germanen getötet wurden. Dieses Risiko ist doch selbstverständlich, und eine Erwähnung in der Art, wie sie bei Velleius nun mal steht, wäre ganz ungewöhnlich. Es hört sich doch eher so an, als ob sie von römischer Seite aus büßen mußten.

Dio: ... als sich keiner wehrte ...

läßt auch auf einen Befehl der römischen Führung schließen.

Vielleicht liegt Rosenfeldt ja richtig?
 
Vielleicht könnte jemand den Originaltext auf Latein einstellen, dann könnten wir alle an der Übersetzung tüfteln.
 
Varusforschung in Kalkriese: Die Örtlichkeit der Varusschlacht (UNIVERSITÄT OSNABRÜCK)

http://www.argiletum.eu/Velleius-HistRom.pdf

https://www.kirke.hu-berlin.de/schmitzer/preprint/velleius_schmitzer.pdf

kalkriese velleius paterculus

Exercitus omnium fortissimus, disciplina, manu experentiaque bellorum inter Romanos milites princeps, marcore ducis, refidia hostis,iniquitate fortunae circumventus, cum ne pugnandi quidem aut egrediendi occasio iis, in quantum voluerant, data esset immunis, castigatis etiam quibusdam gravi poena, quia Romanis et armis et animis usi fuissent, inclusus silvis, paludibus, insisiis ab eo hoste ad internecionem trucidatus est, quem ita semper more pecudum trucidaverat, ut vitam aut mortem eius nunc ira nunc venia temperraret.
 
Ich sehe gerade, dass der Text, den ich auf die Schnelle kopiert habe, von Schreibfehlern strotzt.

Besser ist der hier:

Exercitus omnium fortissimus, disciplina, manu experientiaque bellorum inter Romanos milites princeps, marcore ducis, perfidia hostis, iniquitate fortunae circumventus, cum ne pugnandi quidem aut egrediendi occasio iis, in quantum voluerant, data esset immunis, castigatis etiam quibusdam gravi poena, quia Romanis et armis et animis usi fuissent, inclusus silvis, paludibus, insidiis, ab eo hoste ad internecionem trucidatus est, quem ita semper more pecudum trucidaverat, ut vitam aut mortem eius nunc ira nunc venia temperaret.
 
castigatis etiam quibusdam gravi poena, quia Romanis et armis et animis usi fuissent

Gebändigt (gezüchtigt, gestraft) wurden einige auch mit schwerer Strafe,
weil den Römern und (mit) den Waffen und mit dem Geist Gebrauch gewesen wäre.

oder Romanis als Adjektiv:

Gebändigt (gezüchtigt, gestraft) wurden einige auch mit schwerer Strafe,
weil sie sonst römische Waffen und römischen (Kampf-)Geist benutzt hätten.

Oh je...
 
Gewöhnlich wird übersetzt:

"..., weil sie als Römer sowohl von den Waffen als auch vom Geist Gebrauch gemacht hätten."

Usus ist u-Deklination, eine Form usi davon gibt es nicht.

Utor, uti, usus sum heißt "von etwas Gebrauch machen". Georges nennt noch:

- sich einer Sache erfreuen; etwas genießen
- mit jemandem Umgang haben; von etwas leben; etwas fleischlich gebrauchen; im Nießbrauch von etwas sein
- im Besitz eines Gegenstandes sein
- etwas brauchen, nötig haben

"..., weil sie als Römer Waffen und Geist nötig gehabt hätten." ergibt keinen Sinn. Waffen hatten sie ja.
 
Aha, et ... et: sowohl ... als auch, das doppelte et fand ich irritierend (hätte ich nachschlagen müssen).

Aber fuissent ist Konjunktiv, ist das sicher?
 
Fuissent ist 3. Person Plural Plusquamperfekt und Konjunktiv.

Quod steht immer mit dem Indikativ, außer es soll ein obliques Verhältnis ausgedrückt werden. Es ist hier also indirekte/abhängige Rede.

Edit: Ups, ist ja quia, nicht quod. (Ein erstarrter Akkusativ von quis, wörtlich in etwa die Antwort auf die Frage "In Beziehung auf was?", Also: "... in Beziehung auf die Strafe, hätten sie als Römer ...", was wir mit "weil" wiedergeben können, da es sonst im Deutschen etwas anderes bedeutete, im Lateinischen ist die Vorzeitigkeit eindeutig.)
 
Zuletzt bearbeitet:
Wir haben jetzt drei Übersetzungen des fraglichen Satzes (und des Satzes davor):

!. Entnommen aus Rosenfeldts Arbeit:

119... Selbst das wurde ihnen nicht gestattet, sich der Gelegenheit zu kämpfen oder zum Angriff vorzugehen, nach Wunsch und Willen zu bedienen, wurden doch einzelne mit schwerer Strafe belegt,´weil sie ihre Römerwaffen auch mit Römermut geführt hatten.

2. Aus der mir vorliegenden Übersetzung:

Weder zum Kämpfen noch zum Ausbrechen bot sich ihnen, so sehnlich sie es sich auch wünschten, ungehindert Gelegenheit, ja, einige mußten sogar schwer dafür büßen, daß sie als Römer ihre Waffen und ihren Kampfgeist eingesetzt hatten.

3. Eine Kombination aus El Quijotes Übersetzung des ersten Satzes, denn das kurze Zwischenstück von mir, dann das Ende von Riothamus:

"Es wäre denselben jedoch keine Gelegenheit gegeben gewesen (occasio ... data esset) - so sehr sie das auch wollten - ungehindert zu kämpfen oder zu entweichen."

Gebändigt wurden einige auch mit schwerer Strafe,

"..., weil sie als Römer sowohl von den Waffen als auch vom Geist Gebrauch gemacht hätten."

Auffällig ist das Fehlen des Konjunktivs bie den beiden oberen Übersetzungen, der ja aber bei Velleius nun mal da ist. Oder ist er in den Übersetzungen intrinsisch verarbeitet, und ich sehe das bloß nicht?
Es könnte auch eine unbedeutende Eigenart der lateinischen Sprache oder von Velleius sein.

Edit: Ich habe das fehlende o bei El Quijotes Übersetzung eingefügt ("o"der zu entweichen).
 
Sagen wir mal so, wenn ich eine ÜS mit dem Ziel, diese zu editieren, erstellt hätte, hätte ich den Konjunktiv vielleicht auch weg gelassen (naja, wahrscheinlich hätte ich ihn beibehalten). Der Punkt ist eben der, dass Übersetzungen stilistisch in der Zielsprache korrekt sein sollten.

Edit: Ich habe das fehlende o bei El Quijotes Übersetzung eingefügt ("o"der zu entweichen).
Ich habe es jetzt nachträglich korrigiert.
 
Ja, es ist so, wie El Quijote sagt: Hättest Du den Konjunktiv nicht übersetzt, Schleppschreck, hätte ich ihn vielleicht auch weggelassen.
 
Zitat: "Die meisten Beiträge argumentieren nah an der Überlieferung römischer Historiker; doch zahlreiche Unstimmigkeiten in den antiken Berichten zeigen eindrücklich die Grenzen einer quellennahen Deutung auf."

Zustimmung meinerseits

"Die Texte der römischen Historiker werfen mehr Fragen auf, als sie Antworten geben. Als Protokoll historischer Ereignisse sind sie jedenfalls nicht zu lesen."

Auch hier Zustimmung meinerseits. Beide haben gute Ansätze, jedoch werden archäologische sowie numismatische Fakten missachtet.

Zitat: "Einem Verständnis der Vorgänge sind wir dadurch kaum näher gekommen."

Wie wahr.

Quelle: Zwischen Wissen und Hypothesenbildung - Die römischen Militäroperationen in Germanien 10 bis 16 n. Chr. / Stefan Burmeister und Roland Kaestner (AiD Sonderheft 08/2015)
 
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