Wie weit darf man gehen, um einen Unrechtsstaat zu vernichten?

Ich habe nie irgendwelche "unlauteren Absichten" unterstellt. Ich habe lediglich klargestellt, dass die Alliierten mitnichten für "Freiheit und Demokratie" in den Krieg gezogen sind, oder um die leidende Bevölkerung zu "retten".

Das hat m.E. auch niemand behauptet.

dennoch frage ich mich, mit welchem Recht so vehement darauf verwiesen wird, dass die Alliierten uns gerettet haben -wäre das ihre Absicht gewesen, hätten sie schon weitaus früher eingegriffen.

Es ist ja nun nicht so, dass Hitler nicht auch einflussreiche Fans in den Ländern, welche die späteren Kriegsgegner waren hatte. Man denke nur an Chaplins Probleme mit dem großen Diktator.
Aber mit welchem Recht hätte jemand vor 1939 das 3. Reich angreifen können? Einen souveränen Staat und bei weitem nicht die einzige totalitäre Macht in Europa.

Wenn man mit solchen Begrifflichkeiten argumentiert, sollte man sich eventuell auch fragen, warum eigentlich noch Keiner auf die Idee gekommen ist, CHINA den Krieg zu erklären... China ist schließlich bereits seit Jahrzehnten ein Unrechtsstaat mit Diktatur, Zensur und (in vielen Regionen) extrem menschenfeindlichen Ambitionen. Da wundert man sich doch.

Wie oben: Mit welchem Recht wäre China anzugreifen gewesen?

Vor allem wenn man überlegt, das gewisse demokratische Staaten es sich angewöhnt haben, nach eigenem Ermessen in die Weltpolitik einzugreifen, oder solche "Unrechtsstaaten" so lange gewähren zu lassen, bis dringend irgendein Rohstoff gebraucht wird, oder die Waffenindustrie Miese macht...
Trotzdem traut sich keiner an China ran und das seit Jahrzehnten. Jetzt stellt sich mir die Frage, ob es ÜBERHAUPT schon Kriege gegeben hat, in denen ein "Unrechtsstaat" tatsächlich aus der positiven Absicht heraus, der Bevölkerung zu helfen, angegriffen worden ist. Obwohl wir so viele Kriege auch in der Neuzeit haben, lässt sich meiner Ansicht nach kein Einziger davon in dieser Art klassifizieren. Es sind immer gänzlich andere Hintergründe, die den Auslöser für solche Kriege geben, aber hinterher wird dann argumentiert, man habe der Bevölkerung die Freiheit gebracht (oder zu bringen versucht). Ist das denn bisher niemandem außer mir aufgefallen?

Doch, ist aber Tagespolitik und betrifft auch die Fragestellung nur am Rande. Der zweite Weltkrieg wurde jedenfalls - zumindest was die Westalliierten angeht -, nicht um Land- oder Rohstoffgewinne geführt.
 
Der zweite Weltkrieg, die weitegehende Zerstörung Mitteleuropas und seiner Kultur, die Entwurzelung von Millionen, die Teilung Europas und die systematische Ermordung von Millionen unschuldiger Menschen - dieser Wahnsinn ging vom arischen Größenwahn aus, nicht von den Demokratien in Frankreich, Großbritanien und USA. Dankbar müssen wir bis heute sein dass diese Länder, vor allem das Vereinigte Königreich, standhielten gegenüber diesem Verbrecherregime monströsen Ausmasses!

Da gewissen Leute sich immer über Dankbarkeit aufregen bekräftige ich meine obige Aussage nochmals:

Ich BIN dankbar dafür dass das demokratische England nicht von den Naziverbrechern niedergerungen wurde.
Ich BIN dankbar dafür dass diese entsetzliche Verbrecherbrut den Krieg verloren hat und hoffe dass nie wieder derartiges braunes Gesindel an die Macht kommt.
Ich BIN für die Gnade der späten Geburt dankbar und dafür dass ich nicht diesen schrecklichen Krieg und alle seine Folgen erleben musste. Ein Krieg, ausgelöst durch nationalsozialistischen Größenwahns, einem Krieg dem durch Verhandlungen nicht beizukommen war.

Und last but not least bin ich dankbar für die sofortige Hilfe am Wiederaufbau, für die Großzügigkeit des Marshallplans, für das Einbinden meines Heimatlandes (man verzeihe mir diese Subjektivität) in das Wertesystem parlamentarischer Demokratien das diesem Land und seinen Menschen ein Leben in Friede, Wohlstand und Sicherheit seit über 60 Jahren bescherte.
 
Ich zitiere mal Heinrich Himmler:

"Ein Grundsatz muss für den SS-Mann absolut gelten: Ehrlich, anständig, treu und kameradschaftlich haben wir zu Angehörigen unseres eigenen Blutes zu sein und zu sonst niemanden. Wie es den Russen geht, wie es den Tschechen geht, ist mir total gleichgültig. Das, was in den Völkern an gutem Blut unserer Art vorhanden ist, werden wir uns holen, indem wir ihnen, wenn notwendig, die Kinder rauben und sie bei uns großziehen. Ob die anderen Völker in Wohlstand leben oder ob sie verrecken vor Hunger, das interessiert mich nur soweit, als wir sie als Sklaven für unsere Kultur brauchen, anders interessiert mich das nicht. Ob bei dem Bau eines Panzergrabens 10 000 russische Weiber an Entkräftung umfallen oder nicht, interessiert mich nur insoweit, als der Panzergraben für Deutschland fertig wird."

Und jetzt soll mir mal einer Beispiele nennen, dass amerikanische, französische und ja, auch chinesische Politiker solche Dinge zu dieser Zeit von sich ließen.
Ich kann doch nicht sagen, dass die Amerikaner, Franzosen oder Briten vom System her nicht besser waren als das dritte Reich, weil es von deren Seiten auch Kriegsverbrechen und unschuldige Opfer gab, und bei weitem nicht in dem Ausmaß wie bei den Nazis.
Das passiert in einem Krieg automatisch und lässt sich nicht vermeiden.
Wenn ich in den USA zu dieser Zeit ein Karikatur vom Präsidenten zeichnete oder meine Meinung äußern wollte, konnte ich das auch in Ruhe machen, naja, und was ich im Nazistaat machen konnte, wird wohl jeder wissen - meine sieben Sachen packen und abreißen oder ein Projektil zwischen die Augen bekommen.
Genauso wie es ein Großteil der jüdischen Wissenschaftler, Intellektuellen, Schreiber und Künstler gemacht hat, und viele andere.
Das dritte Reich war ein Unrechtsstaat und die USA sicher nicht, die UDSSR mit Stalinismus ist natürlich schon ein eigenes Thema.
 
Da gewissen Leute sich immer über Dankbarkeit aufregen bekräftige ich meine obige Aussage nochmals:

Das mit der Dankbarkeit gegenüber den Alliierten ist eine Sache, die je nach Lebens- und Kriegsschicksal unterschiedlich beantwortet wird. Ich bin - genau wie du - dankbar dafür, dass die Alliierten dem mörderischen Nazispuk ein Ende machten. Ist das aber nun für alle ein Grund zum Feiern?

Es gibt dazu eine sensible und auf unterschiedliche Befindlichkeiten der Bürger eigehende Rede von Richard von Weizsäcker, die er am 8. Mai 1985 im Bundestag anlässlich des 40. Jahrestages der Befreiung vom Nationalsozialismus hielt und die manche als die wichtigste Rede bezeichnen, die je in Deutschland zu diesem Thema gehalten wurde:

Der 8. Mai ist für uns vor allem ein Tag der Erinnerung an das, was Menschen erleiden mußten. Er ist zugleich ein Tag des Nachdenkens über den Gang unserer Geschichte. Je ehrlicher wir ihn begehen, desto freier sind wir, uns seinen Folgen verantwortlich zu stellen.

Der 8. Mai ist für uns Deutsche kein Tag zum Feiern. Die Menschen, die ihn bewußt erlebt haben, denken an ganz persönliche und damit ganz unterschiedliche Erfahrungen zurück. Der eine kehrte heim, der andere wurde heimatlos. Dieser wurde befreit, für jenen begann die Gefangenschaft. Viele waren einfach nur dafür dankbar, daß Bombennächte und Angst vorüber und sie mit dem Leben davongekommen waren. Andere empfanden Schmerz über die vollständige Niederlage des eigenen Vaterlandes. Verbittert standen Deutsche vor zerrissenen Illusionen, dankbar waren andere Deutsche für den geschenkten neuen Anfang. Es war schwer, sich alsbald klar zu orientieren. Ungewißheit erfüllte das Land. Die militärische Kapitulation war bedingungslos. Unser Schicksal in der Hand der Feinde. Die Vergangenheit war furchtbar gewesen, zumal auch für viele dieser Feinde. Würden sie uns nun nicht vielfach entgelten lassen, was wir ihnen angetan hatten?

Die meisten Deutschen hatten geglaubt, für die gute Sache des eigenen Landes zu kämpfen und zu leiden. Und nun sollte sich herausstellen: Das alles war nicht nur vergeblich und sinnlos, sondern es hatte den unmenschlichen Zielen einer verbrecherischen Führung gedient. Erschöpfung, Ratlosigkeit und neue Sorgen kennzeichneten die Gefühle der meisten.
 
Ich kann deinem Beitrag voll zustimmen und finde das Zitat von Weizsäcker großartig, ein weiterer Beweis für die Klugheit und Größe dieses Menschen.

Und mit diesen Worten bring er es auf den Punkt:
Die militärische Kapitulation war bedingungslos. Unser Schicksal in der Hand der Feinde. Die Vergangenheit war furchtbar gewesen, zumal auch für viele dieser Feinde. Würden sie uns nun nicht vielfach entgelten lassen, was wir ihnen angetan hatten?
Die Allierten taten es nicht - sie bauten die devastierten Länder wieder auf und halfen beim Aufbau neuer Strukturen. Die Prozesse von Nürnberg waren nicht dumpfe Siegerjustiz, sonder der Versuch übernationaler Rechtssprechung.

Was mich bis heute beeindruckt ist die Schnelle der Regeneration - 45 die totale Stunde Null und keine 8 Jahre später schaffen die Römischen Verträge die Basis einer gemeinsamen europäischen Zukunft. Der Teufelskreis aus Siegfrieden und Vergeltung war zumindest für Mitteleuropa durchbrochen.
 
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Ich denke man sollte die ganze Rede reinstellen und es lohnt sich die mal in Ruhe durchzulesen:

Rede von Bundespräsident Richard von Weizsäcker bei der Gedenkveranstaltung im Plenarsaal des Deutschen Bundestages zum 40. Jahrestag des Endes des Zweiten Weltkrieges in Europa

Viele Völker gedenken heute des Tages, an dem der Zweite Weltkrieg in Europa zu Ende ging. Seinem Schicksal gemäß hat jedes Volk dabei seine eigenen Gefühle. Sieg oder Niederlage, Befreiung von Unrecht und Fremdherrschaft oder Übergang zu neuer Abhängigkeit, Teilung, neue Bündnisse, gewaltige Machtverschiebungen - der 8. Mai 1945 ist ein Datum von entscheidender historischer Bedeutung in Europa.

Wir Deutsche begehen den Tag unter uns, und das ist notwendig. Wir müssen die Maßstäbe allein finden. Schonung unserer Gefühle durch uns selbst oder durch andere hilft nicht weiter. Wir brauchen und wir haben die Kraft, der Wahrheit so gut wir es können ins Auge zu sehen, ohne Beschönigung und ohne Einseitigkeit.

Der 8. Mai ist für uns vor allem ein Tag der Erinnerung an das, was Menschen erleiden mußten. Er ist zugleich ein Tag des Nachdenkens über den Gang unserer Geschichte. Je ehrlicher wir ihn begehen, desto freier sind wir, uns seinen Folgen verantwortlich zu stellen.

Der 8. Mai ist für uns Deutsche kein Tag zum Feiern. Die Menschen, die ihn bewußt erlebt haben, denken an ganz persönliche und damit ganz unterschiedliche Erfahrungen zurück. Der eine kehrte heim, der andere wurde heimatlos. Dieser wurde befreit, für jenen begann die Gefangenschaft. Viele waren einfach nur dafür dankbar, daß Bombennächte und Angst vorüber und sie mit dem Leben davongekommen waren. Andere empfanden Schmerz über die vollständige Niederlage des eigenen Vaterlandes. Verbittert standen Deutsche vor zerrissenen Illusionen, dankbar andere Deutsche vor dem geschenkten neuen Anfang.

Es war schwer, sich alsbald klar zu orientieren. Ungewißheit erfüllte das Land. Die militärische Kapitulation war bedingungslos. Unser Schicksal lag in der Hand der Feinde. Die Vergangenheit war furchtbar gewesen, zumal auch für viele dieser Feinde. Würden sie uns nun nicht vielfach entgelten lassen, was wir ihnen angetan hatten?

Die meisten Deutschen hatten geglaubt, für die gute Sache des eigenen Landes zu kämpfen und zu leiden. Und nun sollte sich herausstellen: Das alles war nicht nur vergeblich und sinnlos, sondern es hatte den unmenschlichen Zielen einer verbrecherischen Führung gedient. Erschöpfung, Ratlosigkeit und neue Sorgen kennzeichneten die Gefühle der meisten. Würde man noch eigene Angehörige finden? Hatte ein Neuaufbau in diesen Ruinen überhaupt Sinn?

Der Blick ging zurück in einen dunklen Abgrund der Vergangenheit und nach vorn in eine ungewisse dunkle Zukunft.

Und dennoch wurde von Tag zu Tag klarer, was es heute für uns alle gemeinsam zu sagen gilt: Der 8. Mai war ein Tag der Befreiung. Er hat uns alle befreit von dem menschenverachtenden System der nationalsozialistischen Gewaltherrschaft.

Niemand wird um dieser Befreiung willen vergessen, welche schweren Leiden für viele Menschen mit dem 8. Mai erst begannen und danach folgten. Aber wir dürfen nicht im Ende des Krieges die Ursache für Flucht, Vertreibung und Unfreiheit sehen. Sie liegt vielmehr in seinem Anfang und im Beginn jener Gewaltherrschaft, die zum Krieg führte.

Wir dürfen den 8. Mai 1945 nicht vom 30. Januar 1933 trennen.

Wir haben wahrlich keinen Grund, uns am heutigen Tag an Siegesfesten zu beteiligen. Aber wir haben allen Grund, den 8. Mai 1945 als das Ende eines Irrweges deutscher Geschichte zu erkennen, das den Keim der Hoffnung auf eine bessere Zukunft barg.


II.

Der 8. Mai ist ein Tag der Erinnerung. Erinnern heißt, eines Geschehens so ehrlich und rein zu gedenken, daß es zu einem Teil des eigenen Innern wird. Das stellt große Anforderungen an unsere Wahrhaftigkeit.

Wir gedenken heute in Trauer aller Toten des Krieges und der Gewaltherrschaft.

Wir gedenken insbesondere der sechs Millionen Juden, die in deutschen Konzentrationslagern ermordet wurden.

Wir gedenken aller Völker, die im Krieg gelitten haben, vor allem der unsäglich vielen Bürger der Sowjetunion und der Polen, die ihr Leben verloren haben.

Als Deutsche gedenken wir in Trauer der eigenen Landsleute, die als Soldaten, bei den Fliegerangriffen in der Heimat, in Gefangenschaft und bei der Vertreibung ums Leben gekommen sind.

Wir gedenken der ermordeten Sinti und Roma, der getöteten Homosexuellen, der umgebrachten Geisteskranken, der Menschen, die um ihrer religiösen oder politischen Überzeugung willen sterben mußten.

Wir gedenken der erschossenen Geiseln.

Wir denken an die Opfer des Widerstandes in allen von uns besetzten Staaten.

Als Deutsche ehren wir das Andenken der Opfer des deutschen Widerstandes, des bürgerlichen, des militärischen und glaubensbegründeten, des Widerstandes in der Arbeiterschaft und bei Gewerkschaften, des Widerstandes der Kommunisten.

Wir gedenken derer, die nicht aktiv Widerstand leisteten, aber eher den Tod hinnahmen, als ihr Gewissen zu beugen.

Neben dem unübersehbar großen Heer der Toten erhebt sich ein Gebirge menschlichen Leids,
Leid um die Toten,
Leid durch Verwundung und Verkrüppelung,
Leid durch unmenschliche Zwangssterilisierung,
Leid in Bombennächten,
Leid durch Flucht und Vertreibung, durch Vergewaltigung und Plünderung, durch Zwangsarbeit, durch Unrecht und Folter, durch Hunger und Not,
Leid durch Angst vor Verhaftung und Tod,
Leid durch Verlust all dessen, woran man irrend geglaubt und wofür man gearbeitet hatte.

Heute erinnern wir uns dieses menschlichen Leids und gedenken seiner in Trauer.

Den vielleicht größten Teil dessen, was den Menschen aufgeladen war, haben die Frauen der Völker getragen.

Ihr Leiden, ihre Entsagung und ihre stille Kraft vergißt die Weltgeschichte nur allzu leicht. Sie haben gebangt und gearbeitet, menschliches Leben getragen und beschützt. Sie haben getrauert um gefallene Väter und Söhne, Männer, Brüder und Freunde.

Sie haben in den dunkelsten Jahren das Licht der Humanität vor dem Erlöschen bewahrt.

Am Ende des Krieges haben sie als erste und ohne Aussicht auf eine gesicherte Zukunft Hand angelegt, um wieder einen Stein auf den anderen zu setzen, die Trümmerfrauen in Berlin und überall.

Als die überlebenden Männer heimkehrten, mußten Frauen oft wieder zurückstehen. Viele Frauen blieben aufgrund des Krieges allein und verbrachten ihr Leben in Einsamkeit.

Wenn aber die Völker an den Zerstörungen, den Verwüstungen, den Grausamkeiten und Unmenschlichkeiten innerlich nicht zerbrachen, wenn sie nach dem Krieg langsam wieder zu sich selbst kamen, dann verdanken wir es zuerst unseren Frauen.
 
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III.

Am Anfang der Gewaltherrschaft hatte der abgrundtiefe Haß Hitlers gegen unsere jüdischen Mitmenschen gestanden. Hitler hatte ihn nie vor der Öffentlichkeit verschwiegen, sondern das ganze Volk zum Werkzeug dieses Hasses gemacht. Noch am Tag vor seinem Ende am 30. April 1945 hatte er sein sogenanntes Testament mit den Worten abgeschlossen: "Vor allem verpflichte ich die Führung der Nation und die Gefolgschaft zur peinlichen Einhaltung der Rassegesetze und zum unbarmherzigen Widerstand gegen den Weltvergifter aller Völker, das internationale Judentum."

Gewiß, es gibt kaum einen Staat, der in seiner Geschichte immer frei blieb von schuldhafter Verstrickung in Krieg und Gewalt. Der Völkermord an den Juden jedoch ist beispiellos in der Geschichte.

Die Ausführung des Verbrechens lag in der Hand weniger. Vor den Augen der Öffentlichkeit wurde es abgeschirmt. Aber jeder Deutsche konnte miterleben, was jüdische Mitbürger erleiden mußten, von kalter Gleichgültigkeit über versteckte Intoleranz bis zu offenem Haß.

Wer konnte arglos bleiben nach den Bränden der Synagogen, den Plünderungen, der Stigmatisierung mit dem Judenstern, dem Rechtsentzug, der unaufhörlichen Schändung der menschlichen Würde?

Wer seine Ohren und Augen aufmachte, wer sich informieren wollte, dem konnte nicht entgehen, daß Deportationszüge rollten. Die Phantasie der Menschen mochte für Art und Ausmaß der Vernichtung nicht ausreichen. Aber in Wirklichkeit trat zu den Verbrechen selbst der Versuch allzu vieler, auch in meiner Generation, die wir jung und an der Planung und Ausführung der Ereignisse unbeteiligt waren, nicht zur Kenntnis zu nehmen, was geschah.

Es gab viele Formen, das Gewissen ablenken zu lassen, nicht zuständig zu sein, wegzuschauen, zu schweigen. Als dann am Ende des Krieges die ganze unsagbare Wahrheit des Holocaust herauskam, beriefen sich allzu viele von uns darauf, nichts gewußt oder auch nur geahnt zu haben.

Schuld oder Unschuld eines ganzen Volkes gibt es nicht. Schuld ist, wie Unschuld, nicht kollektiv, sondern persönlich.

Es gibt entdeckte und verborgen gebliebene Schuld von Menschen. Es gibt Schuld, die sich Menschen eingestanden oder abgeleugnet haben. Jeder, der die Zeit mit vollem Bewußtsein erlebt hat, frage sich heute im Stillen selbst nach seiner Verstrickung.

Der ganz überwiegende Teil unserer heutigen Bevölkerung war zur damaligen Zeit entweder im Kindesalter oder noch gar nicht geboren. Sie können nicht eine eigene Schuld bekennen für Taten, die sie gar nicht begangen haben.

Kein fühlender Mensch erwartet von ihnen, ein Büßerhemd zu tragen, nur weil sie Deutsche sind. Aber die Vorfahren haben ihnen eine schwere Erbschaft hinterlassen.

Wir alle, ob schuldig oder nicht, ob alt oder jung, müssen die Vergangenheit annehmen. Wir alle sind von ihren Folgen betroffen und für sie in Haftung genommen.

Jüngere und Ältere müssen und können sich gegenseitig helfen zu verstehen, warum es lebenswichtig ist, die Erinnerung wachzuhalten.

Es geht nicht darum, Vergangenheit zu bewältigen. Das kann man gar nicht. Sie läßt sich ja nicht nachträglich ändern oder ungeschehen machen. Wer aber vor der Vergangenheit die Augen verschließt, wird blind für die Gegenwart. Wer sich der Unmenschlichkeit nicht erinnern will, der wird wieder anfällig für neue Ansteckungsgefahren.

Das jüdische Volk erinnert sich und wird sich immer erinnern. Wir suchen als Menschen Versöhnung.

Gerade deshalb müssen wir verstehen, daß es Versöhnung ohne Erinnerung gar nicht geben kann. Die Erfahrung millionenfachen Todes ist ein Teil des Innern jedes Juden in der Welt, nicht nur deshalb, weil Menschen ein solches Grauen nicht vergessen können. Sondern die Erinnerung gehört zum jüdischen Glauben.

"Das Vergessenwollen verlängert das Exil,
und das Geheimnis der Erlösung heißt Erinnerung."

Diese oft zitierte jüdische Weisheit will wohl besagen, daß der Glaube an Gott ein Glaube an sein Wirken in der Geschichte ist.

Die Erinnerung ist die Erfahrung vom Wirken Gottes in der Geschichte. Sie ist die Quelle des Glaubens an die Erlösung. Diese Erfahrung schafft Hoffnung, sie schafft Glauben an Erlösung, an Wiedervereinigung des Getrennten, an Versöhnung. Wer sie vergißt, verliert den Glauben.

Würden wir unsererseits vergessen wollen, was geschehen ist, anstatt uns zu erinnern, dann wäre dies nicht nur unmenschlich. Sondern wir würden damit dem Glauben der überlebenden Juden zu nahe treten, und wir würden den Ansatz zur Versöhnung zerstören.

Für uns kommt es auf ein Mahnmal des Denkens und Fühlens in unserem eigenen Inneren an.


IV.

Der 8. Mai ist ein tiefer historischer Einschnitt, nicht nur in der deutschen, sondern auch in der europäischen Geschichte.

Der europäische Bürgerkrieg war an sein Ende gelangt, die alte europäische Welt zu Bruch gegangen. "Europa hatte sich ausgekämpft" (M. Stürmer). Die Begegnung amerikanischer und sowjetrussischer Soldaten an der Elbe wurde zu einem Symbol für das vorläufige Ende einer europäischen Ära.

Gewiß, das alles hatte seine alten geschichtlichen Wurzeln. Großen, ja bestimmenden Einfluß hatten die Europäer in der Welt, aber ihr Zusammenleben auf dem eigenen Kontinent zu ordnen, das vermochten sie immer schlechter. Über hundert Jahre lang hatte Europa unter dem Zusammenprall nationalistischer Übersteigerungen gelitten. Am Ende des Ersten Weltkrieges war es zu Friedensverträgen gekommen. Aber ihnen hatte die Kraft gefehlt, Frieden zu stiften. Erneut waren nationalistische Leidenschaften aufgeflammt und hatten sich mit sozialen Notlagen verknüpft.

Auf dem Weg ins Unheil wurde Hitler die treibende Kraft. Er erzeugte und er nutzte Massenwahn. Eine schwache Demokratie war unfähig, ihm Einhalt zu gebieten. Und auch die europäischen Westmächte, nach Churchills Urteil "arglos, nicht schuldlos", trugen durch Schwäche zur verhängnisvollen Entwicklung bei. Amerika hatte sich nach dem Ersten Weltkrieg wieder zurückgezogen und war in den dreißiger Jahren ohne Einfluß auf Europa.

Hitler wollte die Herrschaft über Europa, und zwar durch Krieg. Den Anlaß dafür suchte und fand er in Polen.

Am 23. Mai 1939 - wenige Monate vor Kriegsausbruch - erklärte er vor der deutschen Generalität: "Weitere Erfolge können ohne Blutvergießen nicht mehr errungen werden ... Danzig ist nicht das Objekt, um das es geht. Es handelt sich für uns um die Erweiterung des Lebensraumes im Osten und Sicherstellung der Ernährung ... Es entfällt also die Frage, Polen zu schonen, und bleibt der Entschluß, bei erster passender Gelegenheit Polen anzugreifen ... Hierbei spielen Recht oder Unrecht oder Verträge keine Rolle."

Am 23. August 1939 wurde der deutsch-sowjetische Nichtangriffspakt geschlossen. Das geheime Zusatzprotokoll regelte die bevorstehende Aufteilung Polens.

Der Vertrag wurde geschlossen, um Hitler den Einmarsch in Polen zu ermöglichen. Das war der damaligen Führung der Sowjetunion voll bewußt. Allen politisch denkenden Menschen jener Zeit war klar, daß der deutsch-sowjetische Pakt Hitlers Einmarsch in Polen und damit den Zweiten Weltkrieg bedeutete.

Dadurch wird die deutsche Schuld am Ausbruch des Zweiten Weltkrieges nicht verringert. Die Sowjetunion nahm den Krieg anderer Völker in Kauf, um sich am Ertrag zu beteiligen. Die Initiative zum Krieg aber ging von Deutschland aus, nicht von der Sowjetunion.

Es war Hitler, der zur Gewalt griff. Der Ausbruch des Zweiten Weltkrieges bleibt mit dem deutschen Namen verbunden.

Während dieses Krieges hat das nationalsozialistische Regime viele Völker gequält und geschändet.

Am Ende blieb nur noch ein Volk übrig, um gequält, geknechtet und geschändet zu werden: das eigene, das deutsche Volk. Immer wieder hat Hitler ausgesprochen: wenn das deutsche Volk schon nicht fähig sei, in diesem Krieg zu siegen, dann möge es eben untergehen. Die anderen Völker wurden zunächst Opfer eines von Deutschland ausgehenden Krieges, bevor wir selbst zu Opfern unseres eigenen Krieges wurden.

Es folgte die von den Siegermächten verabredete Aufteilung Deutschlands in verschiedene Zonen. Inzwischen war die Sowjetunion in alle Staaten Ost- und Südosteuropas, die während des Krieges von Deutschland besetzt worden waren, einmarschiert. Mit Ausnahme Griechenlands wurden alle diese Staaten sozialistische Staaten.

Die Spaltung Europas in zwei verschiedene politische Systeme nahm ihren Lauf. Es war erst die Nachkriegsentwicklung, die sie befestigte. Aber ohne den von Hitler begonnenen Krieg wäre sie nicht gekommen. Daran denken die betroffenen Völker zuerst, wenn sie sich des von der deutschen Führung ausgelösten Krieges erinnern.

Im Blick auf die Teilung unseres eigenen Landes und auf den Verlust großer Teile des deutschen Staatsgebietes denken auch wir daran. In seiner Predigt zum 8. Mai sagte Kardinal Meißner in Ostberlin: "Das trostlose Ergebnis der Sünde ist immer die Trennung."
 
V.

Die Willkür der Zerstörung wirkte in der willkürlichen Verteilung der Lasten nach. Es gab Unschuldige, die verfolgt wurden, und Schuldige, die entkamen. Die einen hatten das Glück, zu Hause in vertrauter Umgebung ein neues Leben aufbauen zu können. Andere wurden aus der angestammten Heimat vertrieben.

Wir in der späteren Bundesrepublik Deutschland erhielten die kostbare Chance der Freiheit. Vielen Millionen Landsleuten bleibt sie bis heute versagt.

Die Willkür der Zuteilung unterschiedlicher Schicksale ertragen zu lernen, war die erste Aufgabe im Geistigen, die sich neben der Aufgabe des materiellen Wiederaufbaus stellte. An ihr mußte sich die menschliche Kraft erproben, die Lasten anderer zu erkennen, an ihnen dauerhaft mitzutragen, sie nicht zu vergessen. In ihr mußte die Fähigkeit zum Frieden und die Bereitschaft zur Versöhnung nach innen und außen wachsen, die nicht nur andere von uns forderten, sondern nach denen es uns selbst am allermeisten verlangte.

Wir können des 8. Mai nicht gedenken, ohne uns bewußtzumachen, welche Überwindung die Bereitschaft zur Aussöhnung den ehemaligen Feinden abverlangte. Können wir uns wirklich in die Lage von Angehörigen der Opfer des Warschauer Ghettos oder des Massakers von Lidice versetzen?

Wie schwer mußte es aber auch einem Bürger in Rotterdam oder London fallen, den Wiederaufbau unseres Landes zu unterstützen, aus dem die Bomben stammten, die erst kurze Zeit zuvor auf seine Stadt gefallen waren! Dazu mußte allmählich eine Gewißheit wachsen, daß Deutsche nicht noch einmal versuchen würden, eine Niederlage mit Gewalt zu korrigieren.

Bei uns selbst wurde das Schwerste den Heimatvertriebenen abverlangt. Ihnen ist noch lange nach dem 8. Mai bitteres Leid und schweres Unrecht widerfahren. Um ihrem schweren Schicksal mit Verständnis zu begegnen, fehlt uns Einheimischen oft die Phantasie und auch das offene Herz.

Aber es gab alsbald auch große Zeichen der Hilfsbereitschaft. Viele Millionen Flüchtlinge und Vertriebene wurden aufgenommen. Im Laufe der Jahre konnten sie neue Wurzeln schlagen. Ihre Kinder und Enkel bleiben auf vielfache Weise der Kultur und der Liebe zur Heimat ihrer Vorfahren verbunden. Das ist gut so, denn das ist ein wertvoller Schatz in ihrem Leben.

Sie haben aber selbst eine neue Heimat gefunden, in der sie mit den gleichaltrigen Einheimischen aufwachsen und zusammenwachsen, ihre Mundart sprechen und ihre Gewohnheiten teilen. Ihr junges Leben ist ein Beweis für die Fähigkeit zum inneren Frieden. Ihre Großeltern oder Eltern wurden einst vertrieben, sie jedoch sind jetzt zu Hause.

Früh und beispielhaft haben sich die Heimatvertriebenen zum Gewaltverzicht bekannt. Das war keine vergängliche Erklärung im anfänglichen Stadium der Machtlosigkeit, sondern ein Bekenntnis, das seine Gültigkeit behält. Gewaltverzicht bedeutet, allseits das Vertrauen wachsen zu lassen, daß auch ein wieder zu Kräften gekommenes Deutschland daran gebunden bleibt.

Die eigene Heimat ist mittlerweile anderen zur Heimat geworden. Auf vielen alten Friedhöfen im Osten finden sich heute schon mehr polnische als deutsche Gräber.

Der erzwungenen Wanderschaft von Millionen Deutschen nach Westen folgten Millionen Polen und ihnen wiederum Millionen Russen. Es sind alles Menschen, die nicht gefragt wurden, Menschen, die Unrecht erlitten haben, Menschen, die wehrlose Objekte der politischen Ereignisse wurden und denen keine Aufrechnung von Unrecht und keine Konfrontation von Ansprüchen wiedergutmachen kann, was ihnen angetan worden ist.

Gewaltverzicht heute heißt, den Menschen dort, wo sie das Schicksal nach dem 8. Mai hingetrieben hat und wo sie nun seit Jahrzehnten leben, eine dauerhafte, politisch unangefochtene Sicherheit für ihre Zukunft zu geben. Es heißt, den widerstreitenden Rechtsansprüchen das Verständigungsgebot überzuordnen.

Darin liegt der eigentliche, der menschliche Beitrag zu einer europäischen Friedensordnung, der von uns ausgehen kann.

Der Neuanfang in Europa nach 1945 hat dem Gedanken der Freiheit und Selbstbestimmung Siege und Niederlagen gebracht. Für uns gilt es, die Chance des Schlußstrichs unter eine lange Periode europäischer Geschichte zu nutzen, in der jedem Staat Frieden nur denkbar und sicher schien als Ergebnis eigener Überlegenheit und in der Frieden eine Zeit der Vorbereitung des nächsten Krieges bedeutete.

Die Völker Europas lieben ihre Heimat. Den Deutschen geht es nicht anders. Wer könnte der Friedensliebe eines Volkes vertrauen, das imstande wäre, seine Heimat zu vergessen?

Nein, Friedensliebe zeigt sich gerade darin, daß man seine Heimat nicht vergißt und eben deshalb entschlossen ist, alles zu tun, um immer in Frieden miteinander zu leben. Heimatliebe eines Vertriebenen ist kein Revanchismus.


VI.

Stärker als früher hat der letzte Krieg die Friedenssehnsucht im Herzen der Menschen geweckt. Die Versöhnungsarbeit von Kirchen fand eine tiefe Resonanz. Für die Verständigungsarbeit von jungen Menschen gibt es viele Beispiele. Ich denke an die "Aktion Sühnezeichen" mit ihrer Tätigkeit in Auschwitz und Israel. Eine Gemeinde der niederrheinischen Stadt Kleve erhielt neulich Brote aus polnischen Gemeinden als Zeichen der Aussöhnung und Gemeinschaft. Eines dieser Brote hat sie an einen Lehrer nach England geschickt. Denn dieser Lehrer aus England war aus der Anonymität herausgetreten und hatte geschrieben, er habe damals im Krieg als Bombenflieger Kirchen und Wohnhäuser in Kleve zerstört und wünsche sich ein Zeichen der Aussöhnung.

Es hilft unendlich viel zum Frieden, nicht auf den anderen zu warten, bis er kommt, sondern auf ihn zuzugehen, wie dieser Mann es getan hat.


VII.

In seiner Folge hat der Krieg alte Gegner menschlich und auch politisch einander nähergebracht. Schon 1946 rief der amerikanische Außenminister Byrnes in seiner denkwürdigen Stuttgarter Rede zur Verständigung in Europa und dazu auf, dem deutschen Volk auf seinem Weg in eine freie und friedliebende Zukunft zu helfen.

Unzählige amerikanische Bürger haben damals mit ihren privaten Mitteln uns Deutsche, die Besiegten, unterstützt, um die Wunden des Krieges zu heilen.

Dank der Weitsicht von Franzosen wie Jean Monnet und Robert Schuman und von Deutschen wie Konrad Adenauer endete eine alte Feindschaft zwischen Franzosen und Deutschen für immer.

Ein neuer Strom von Aufbauwillen und Energie ging durch das eigene Land. Manche alte Gräben wurden zugeschüttet, konfessionelle Gegensätze und soziale Spannungen verloren an Schärfe. Partnerschaftlich ging man ans Werk.

Es gab keine "Stunde Null", aber wir hatten die Chance zu einem Neubeginn. Wir haben sie genutzt so gut wir konnten. An die Stelle der Unfreiheit haben wir die demokratische Freiheit gesetzt.

Vier Jahre nach Kriegsende, 1949, am 8. Mai, beschloß der Parlamentarische Rat unser Grundgesetz. Über Parteigrenzen hinweg gaben seine Demokraten die Antwort auf Krieg und Gewaltherrschaft im Artikel 1 unserer Verfassung:

"Das Deutsche Volk bekennt sich darum zu unverletzlichen und unveräußerlichen Menschenrechten als Grundlage jeder menschlichen Gemeinschaft, des Friedens und der Gerechtigkeit in der Welt."

Auch an diese Bedeutung des 8. Mai gilt es heute zu erinnern.

Die Bundesrepublik Deutschland ist ein weltweit geachteter Staat geworden. Sie gehört zu den hochentwickelten Industrieländern der Welt. Mit ihrer wirtschaftlichen Kraft weiß sie sich mitverantwortlich dafür, Hunger und Not in der Welt zu bekämpfen und zu einem sozialen Ausgleich unter den Völkern beizutragen.

Wir leben seit vierzig Jahren in Frieden und Freiheit, und wir haben durch unsere Politik unter den freien Völkern des Atlantischen Bündnisses und der Europäischen Gemeinschaft dazu selbst einen großen Beitrag geleistet.

Nie gab es auf deutschem Boden einen besseren Schutz der Freiheitsrechte des Bürgers als heute. Ein dichtes soziales Netz, das den Vergleich mit keiner anderen Gesellschaft zu scheuen braucht, sichert die Lebensgrundlage der Menschen.

Hatten sich bei Kriegsende viele Deutsche noch darum bemüht, ihren Paß zu verbergen oder gegen einen anderen einzutauschen, so ist heute unsere Staatsbürgerschaft ein angesehenes Recht.

Wir haben wahrlich keinen Grund zu Überheblichkeit und Selbstgerechtigkeit. Aber wir dürfen uns der Entwicklung dieser vierzig Jahre dankbar erinnern, wenn wir das eigene historische Gedächtnis als Leitlinie für unser Verhalten in der Gegenwart und für die ungelösten Aufgaben, die auf uns warten, nutzen.

- Wenn wir uns daran erinnern, daß Geisteskranke im Dritten Reich getötet wurden, werden wir die Zuwendung zu psychisch kranken Bürgern als unsere eigene Aufgabe verstehen.
- Wenn wir uns erinnern, wie rassisch, religiös und politisch Verfolgte, die vom sicheren Tod bedroht waren, oft vor geschlossenen Grenzen anderer Staaten standen, werden wir vor denen, die heute wirklich verfolgt sind und bei uns Schutz suchen, die Tür nicht verschließen.
- Wenn wir uns der Verfolgung des freien Geistes während der Diktatur besinnen, werden wir die Freiheit jedes Gedankens und jeder Kritik schützen, so sehr sie sich auch gegen uns selbst richten mag.
- Wer über die Verhältnisse im Nahen Osten urteilt, der möge an das Schicksal denken, das Deutsche den jüdischen Mitmenschen bereiteten und das die Gründung des Staates Israel unter Bedingungen auslöste, die noch heute die Menschen in dieser Region belasten und gefährden.
- Wenn wir daran denken, was unsere östlichen Nachbarn im Kriege erleiden mußten, werden wir besser verstehen, daß der Ausgleich, die Entspannung und die friedliche Nachbarschaft mit diesen Ländern zentrale Aufgaben der deutschen Außenpolitik bleiben. Es gilt, daß beide Seiten sich erinnern und beide Seiten einander achten. Sie haben menschlich, sie haben kulturell, sie haben letzten Endes auch geschichtlich allen Grund dazu.

Der Generalsekretär der Kommunistischen Partei der Sowjetunion Michail Gorbatschow hat verlautbart, es ginge der sowjetischen Führung beim 40. Jahrestag des Kriegsendes nicht darum, antideutsche Gefühle zu schüren. Die Sowjetunion trete für Freundschaft zwischen den Völkern ein.

Gerade wenn wir Fragen auch an sowjetische Beiträge zur Verständigung zwischen Ost und West und zur Achtung von Menschenrechten in allen Teilen Europas haben, gerade dann sollten wir dieses Zeichen aus Moskau nicht überhören. Wir wollen Freundschaft mit den Völkern der Sowjetunion.
 
VIII.

Vierzig Jahre nach dem Ende des Krieges ist das deutsche Volk nach wie vor geteilt.

Beim Gedenkgottesdienst in der Kreuzkirche zu Dresden sagte Bischof Hempel im Februar dieses Jahres: "Es lastet, es blutet, daß zwei deutsche Staaten entstanden sind mit ihrer schweren Grenze. Es lastet und blutet die Fülle der Grenzen überhaupt. Es lasten die Waffen."

Vor kurzem wurde in Baltimore in den Vereinigten Staaten eine Ausstellung "Juden in Deutschland" eröffnet. Die Botschafter beider deutscher Staaten waren der Einladung gefolgt. Der gastgebende Präsident der Johns-Hopkins-Universität begrüßte sie zusammen. Er verwies darauf, daß alle Deutschen auf dem Boden derselben historischen Entwicklung stehen. Eine gemeinsame Vergangenheit verknüpfte sie mit einem Band. Ein solches Band könne eine Freude oder ein Problem sein - es sei immer eine Quelle der Hoffnung.

Wir Deutschen sind ein Volk und eine Nation. Wir fühlen uns zusammengehörig, weil wir dieselbe Geschichte durchlebt haben.

Auch den 8. Mai 1945 haben wir als gemeinsames Schicksal unseres Volkes erlebt, das uns eint. Wir fühlen uns zusammengehörig in unserem Willen zum Frieden. Von deutschem Boden in beiden Staaten sollen Frieden und gute Nachbarschaft mit allen Ländern ausgehen. Auch andere sollen ihn nicht zur Gefahr für den Frieden werden lassen.

Die Menschen in Deutschland wollen gemeinsam einen Frieden, der Gerechtigkeit und Menschenrecht für alle Völker einschließt, auch für das unsrige.

Nicht ein Europa der Mauern kann sich über Grenzen hinweg versöhnen, sondern ein Kontinent, der seinen Grenzen das Trennende nimmt. Gerade daran mahnt uns das Ende des Zweiten Weltkrieges.

Wir haben die Zuversicht, daß der 8. Mai nicht das letzte Datum unserer Geschichte bleibt, das für alle Deutschen verbindlich ist.


IX.

Manche junge Menschen haben sich und uns in den letzten Monaten gefragt, warum es vierzig Jahre nach Ende des Krieges zu so lebhaften Auseinandersetzungen über die Vergangenheit gekommen ist. Warum lebhafter als nach fünfundzwanzig oder dreißig Jahren? Worin liegt die innere Notwendigkeit dafür?

Es ist nicht leicht, solche Fragen zu beantworten. Aber wir sollten die Gründe dafür nicht vornehmlich in äußeren Einflüssen suchen, obwohl es diese zweifellos auch gegeben hat.

Vierzig Jahre spielen in der Zeitspanne von Menschenleben und Völkerschicksalen eine große Rolle.

Auch hier erlauben Sie mir noch einmal einen Blick auf das Alte Testament, das für jeden Menschen unabhängig von seinem Glauben tiefe Einsichten aufbewahrt. Dort spielen vierzig Jahre eine häufig wiederkehrende, eine wesentliche Rolle.

Vierzig Jahre sollte Israel in der Wüste bleiben, bevor der neue Abschnitt in der Geschichte mit dem Einzug ins verheißene Land begann.

Vierzig Jahre waren notwendig für einen vollständigen Wechsel der damals verantwortlichen Vätergeneration.

An anderer Stelle aber (Buch der Richter) wird aufgezeichnet, wie oft die Erinnerung an erfahrene Hilfe und Rettung nur vierzig Jahre dauerte. Wenn die Erinnerung abriß, war die Ruhe zu Ende.

So bedeuten vierzig Jahre stets einen großen Einschnitt. Sie wirken sich aus im Bewußtsein der Menschen, sei es als Ende einer dunklen Zeit mit der Zuversicht auf eine neue und gute Zukunft, sei es als Gefahr des Vergessens und als Warnung vor den Folgen. Über beides lohnt es sich nachzudenken.

Bei uns ist eine neue Generation in die politische Verantwortung hereingewachsen. Die Jungen sind nicht verantwortlich für das, was damals geschah. Aber sie sind verantwortlich für das, was in der Geschichte daraus wird.

Wir Älteren schulden der Jugend nicht die Erfüllung von Träumen, sondern Aufrichtigkeit. Wir müssen den Jüngeren helfen zu verstehen, warum es lebenswichtig ist, die Erinnerung wachzuhalten. Wir wollen ihnen helfen, sich auf die geschichtliche Wahrheit nüchtern und ohne Einseitigkeit einzulassen, ohne Flucht in utopische Heilslehren, aber auch ohne moralische Überheblichkeit.

Wir lernen aus unserer eigenen Geschichte, wozu der Mensch fähig ist. Deshalb dürfen wir uns nicht einbilden, wir seien nun als Menschen anders und besser geworden.

Es gibt keine endgültig errungene moralische Vollkommenheit - für niemanden und kein Land! Wir haben als Menschen gelernt, wir bleiben als Menschen gefährdet. Aber wir haben die Kraft, Gefährdungen immer von neuem zu überwinden.

Hitler hat stets damit gearbeitet, Vorurteile, Feindschaften und Haß zu schüren.

Die Bitte an die jungen Menschen lautet:

Lassen Sie sich nicht hineintreiben in Feindschaft und Haß
gegen andere Menschen,
gegen Russen oder Amerikaner,
gegen Juden oder Türken,
gegen Alternative oder Konservative,
gegen Schwarz oder Weiß.

Lernen Sie, miteinander zu leben, nicht gegeneinander.

Lassen Sie auch uns als demokratisch gewählte Politiker dies immer wieder beherzigen und ein Beispiel geben.

Ehren wir die Freiheit.
Arbeiten wir für den Frieden.
Halten wir uns an das Recht.
Dienen wir unseren inneren Maßstäben der Gerechtigkeit.
Schauen wir am heutigen 8. Mai, so gut wir es können, der Wahrheit ins Auge.


Quelle: Bundespräsident
 
Auch die DDR war ein Unrechtsstaat. In der DDR-Verfassung wurde festgeschrieben, dass das Volk nur SED- oder SED-genehme Volksvertreter wählen durfte. Zudem hatten laut Artikel 1 Angestellte, nicht-SED-studierte Intellektuelle, Künstler, Kirchenvertreter Gastrecht in der DDR (erster Satz Artikel 1). Auch wurde vorgeschrieben, wer gesellschaftspolitischer Vertreter einzelner Bevölkerungsschichten oder Berufszweige ist (zweiter Satz Artikel 1).
DDR-Verfassung, Artikel 1:
Die Deutsche Demokratische Republik ist ein sozialistischer Staat der Arbeiter und Bauern. Sie ist die politische Organisation der Werktätigen in Stadt und Land unter der Führung der Arbeiterklasse und ihrer marxistisch-leninistischen Partei.
 
Zum Thema, wie weit man gehen darf, um einen Unrechtsstaat zu vernichten, habe ich gerade zwei Bücher von Lothar Fritze entdeckt:

Legitimer Widerstand? Der Fall Elser (2009)
Fritze hatte 1999 in einer Antrittsvorlesung als außerplanmäßiger Professor, die bei der Frankfurter Rundschau veröffentlicht wurde, die Auffassung vertreten, der "Durchschnittsbürger" Georg Elser habe nicht über die nötige "politische Beurteilungskompetenz" verfügt, um die Folgen von Hitlers Außenpolitik abschätzen zu können, und bei der Begehung seines Attentats auf Hitler, bei dem acht unbeteiligte Menschen getötet und über 60 Menschen zum Teil schwer verletzt wurden, schwere Fehler begangen. 1999 gab es ziemlichen Wirbel wegen dieser Thesen. Nun legt Fritze ein Buch vor, indem er auf diese Kritik eingeht. Elser, so Fritze, sei das falsche Vorbild. Die Handlungsweise Elsers könne nicht zur Nachahmung gebilligt werden.

Die Moral des Bombenterrors (2007): Der strategische Bombenkrieg gegen die Zivilbevölkerung sei von Anfang an völkerrechtlich unzulässig gewesen, Truman habe mit dem Befehl zum Abwurf der Atombombe die Moral der Machtpolitik geopfert, Roosevelt habe mit der Forderung nach bedingungsloser Kapitulation ein vorzeitiges Kriegsende unmöglich gemacht und Churchill sei auf Hitlers angebliche Friedensbereitschaft nicht eingegangen. Zu diesem Buch gibt es von Klaus Hildebrand bei der FAZ eine recht herbe Rezension: Adolfs Angst und Winstons Wut.

Fazit: der alliierte Bombenkrieg wird nicht zuletzt wegen seinen "unvorstellbaren Opferzahlen" abgelehnt. Aber auch Elsers Attentat auf Hitler wird wegen den dabei getöteten 8 Menschen und 60 zum Teil schwer verletzten Menschen als nicht "vorbildlich" verworfen. Und Kriegführen soll auch nicht gehen, wenn der Angreifer Friedensangebote macht etc.

Mich dünkt: beim Kampf gegen den "Unrechtsstaat" wird die moralische Messlatte so hochgehängt, dass nichts mehr drüberpasst.
 
Zuletzt bearbeitet:
[...]
Fazit: der alliierte Bombenkrieg wird nicht zuletzt wegen seinen "unvorstellbaren Opferzahlen" abgelehnt. Aber auch Elsers Attentat auf Hitler wird wegen den dabei getöteten 8 Menschen und 60 zum Teil schwer verletzten Menschen als nicht "vorbildlich" verworfen. Und Kriegführen soll auch nicht gehen, wenn der Angreifer Friedensangebote macht etc.

Mich dünkt: beim Kampf gegen den "Unrechtsstaat" wird die moralische Messlatte so hochgehängt, dass nichts mehr drüberpasst.


Das Thema ist hochgradig von der jeweiligen persönlichen Meinung abhängig. Klare Wahrheiten kann es hier nicht geben, immer nur subjektive moralische Einschätzungen. (M)Eine ebensolche möchte ich beitragen, ohne anderslautende oder konträre Standpunkte dadurch geringzuschätzen:

Egal, wer nun ein Unrechtsregime beseitigen soll: Die Frage ist, wer definiert es eigentlich als solches? Auch die RAF hat das System der Bundesrepublik als Unrechtsregime definiert. War sie deshalb legitimiert, es gewaltsam zu beseitigen?
"Das Volk" müsste das System als Unrechtsregime definieren, aber das ist nicht möglich. Dafür gibt es keinen ernstzunehmenden Mechanismus. Eine Volksabstimmung darüber wird wohl keiner ernsthaft in Betracht ziehen...
Es werden immer nur Einzelne sein, die sich "im Namen des Volkes" zu Wort melden, und Anhänger, die das auf die Straße tragen. Aber drücken sie damit tatsächlich den Willen der Mehrheit des Volkes aus?
Der "Wille des Volkes" ist ein vielbemühter Begriff, aber wer maßt sich an, ihn nachweislich zu kennen?

Und wenn, wo ist die Grenze? Ab wann ist ein Unrechtsstaat ein Unrechtsstaat? Ein aktuelles Beispiel:
In Artikel 20 des GG der BRD heißt es
(2) Alle Staatsgewalt geht vom Volke aus. Sie wird vom Volke in Wahlen und Abstimmungen und durch besondere Organe der Gesetzgebung, der vollziehenden Gewalt und der Rechtsprechung ausgeübt.
Wenn nun, wie Umfragen ergeben, die Mehrheit der Deutschen mit einer Entscheidung der Regierung nicht einverstanden ist, die Regierung diese Entscheidung aber trotzdem durchsetzt: Ist sie dann schon ein Unrechtstaat, weil sie sich dem Willen des Volkes widersetzt?
Oder ist es legal (für unsere Fragestellung hier eher: ist es legitim), das Volk zu bescheißen, weil, ätsch, die besagte Wahl ja schon vorbei ist?

Eine Korinthenkackerei? Sicher. Aber wie viele Korinthen müssen zusammenkommen?

Wenn es darum geht, wann und wie ein Volk selbst sich - legitim - von einem Unrechtsregime befreien soll, bin ich, ehrlich gesagt, überfragt. Ich wüsste das ja nicht einmal für mich und mein Heimatland trotz Artikel 20 GG
(4) Gegen jeden, der es unternimmt, diese Ordnung zu beseitigen, haben alle Deutschen das Recht zum Widerstand, wenn andere Abhilfe nicht möglich ist.
, nach dem ich ja das Recht habe, zu... ja, zu was denn nun eigentlich, wenn... ja wann den nun eigentlich...

Bleibt die Beseitigung von außen:

Wenn schon Krieg, um ein Unrechtssystem zu beseitigen, dann auch ehrlich und öffentlich zu genau diesem Zweck.
(Kriegführen unter dem Deckmantel der Selbstverteidigung fällt tatsächlich weg, wenn der "Angreifer" ehrliche Friedensangebote macht und für mich und mein Land keine unmittelbare Gefahr darstellt. [Womit er, genau genommen, natürlich auch kein "Angreifer" mehr sein kann]. Im Falle Hitlerdeutschlands z.B. kann man die Friedensangebote schon skeptisch beurteilen und davon ausgehen, dass sie wohl eher auf Zeit spielten.
Im Falle des Iraks 2003 dagegen kann man schwerlich von der Notwehr sprechen, als die der Krieg der Öffentlichkeit verkauft wurde. Darauf, hier ein Unrechtsregime beseitigt zu haben, berief man sich erst, nachdem der Betrug mit den Massenvernichtungswaffen aufgeflogen war.)

Allerdings hat man dann wieder das bereits bekannte Problem: Wer entscheidet, ob das System ein Unrechtssystem ist und ob die entsprechende Bevölkerung durch kriegerische Mittel von ihm befreit werden möchte? Was legitimiert dessen Entscheidung? Wird am Ende womöglich nur die eine Willkür durch die andere ersetzt, der Teufel mit dem Beelzebub ausgetrieben?

Zur Beseitigung eines fremden Unrechtsregimes einen Krieg zu führen, hat grundsätzlich einmal das folgende moralische "Logikproblem":
Um die Bevölkerung von ihrem System zu befreien, bringe man sie zuerst einmal teilweise um. Sehr nett, so wird sie sicherlich gerne befreit...
Heute hat man dieses Problem erkannt, weswegen auch der o.g. extreme Drang, Kollateralschäden zu vermeiden, heutzutage so übermächtig ist. Früher war das noch nicht unbedingt so (siehe Luftkriegstheorie von Douhet: Zivilbevölkerung als offizielles Luftkriegsziel von hoher Priorität).
Dass man allerdings bei allzu extremer Verfolgung dieses an sich löblichen Ziels (Vermeidung von Opfern unter Unbeteiligten) möglicherweise die Grenze zur kompletten Unfähigkeit, das eigentliche Ziel (Beseitigung des Unrechtsregimes) zu erreichen, überschreitet, hat Gandolf schon angemerkt.


Die fehlende Bereitschaft, auch bei guter Absicht Kollateralschäden zu akzeptieren, ist, denke ich, eine typisch westliche Attitüde und führt damit zu dem, was, wie gesagt, Gandolf schon angedeutet hat: Man kann im Grunde überhaupt nichts machen, ohne dass es moralisch kritisiert wird. Um beim Beispiel Hitler zu bleiben: Wie, um alles in der Welt, hätte man ihn denn wegbekommen sollen, ohne auch nur einen Unbeteiligten zu gefährden? Das wäre schlichtweg unmöglich gewesen, weswegen ich auch nicht glaube, dass etwa Elsers Attentat tatsächlich von signifikanten Teilen der Bevölkerung aus diesem Grunde als "nicht vorbildlich" gebrandmarkt wird. Von einzelnen Extremstimmen sicherlich, aber die hat man immer. Ich denke nicht, dass man das verallgemeinern kann. Rückwirkend wäre es sicherlich moralisch vertretbar, den Tod von Millionen durch den Tod von 8 Menschen zu vermeiden.
Eher ein Problem könnte ich mit Elsers Entscheidung aus einem anderen, schon mehrfach genannten, Grunde haben: Was legitimierte ihn zu dieser Aktion? Seine persönliche Einschätzung? Seine Vorahnung? Elser wusste nicht, was Hitler anrichten würde, er ahnte es. Auch wenn Elser in diesem Falle den richtigen Riecher hatte: Ich möchte bei der überwältigenden Mehrheit meiner Mitbürger, ehrlich gesagt, nicht, dass sie sich aufgrund ihrer individuellen Ahnungen zu gewaltsamen Aktionen legitimiert fühlen.

Überhaupt meine ich, eine Inkonsequenz zu erkennen, die diesen extremen moralischen Anspruch (keinerlei Akzeptanz und vehemente Ablehnung von Kollateralschäden) unglaubwürdig macht: In anderen Zeiten und in anderen Ländern bewundern und respektieren wir die bewaffneten Widerständler, obwohl diese sich noch weniger als Elser Gedanken machten, wen sie nun eigentlich alles umbringen, um gegen ein eigenes oder fremdes Unrechtsregime zu kämpfen. (Stichwort: französische Revolution)
Genauso, wie wir übrigens bisweilen auch fremde Unrechtsregime respektieren und glorifizieren, die ihrerseits mit Geheimpolizei und standrechtlichen Hinrichtungen Freiheitskämpfer verfolgen ließen. (Stichwort: Napoleon Bonaparte.)
Das alte Problem der irgendwie uneinheitlich zu gelten scheinenden moralischen Grundprinzipien, das ich oft zu erkennen glaube und in der Folge mit meiner diesbezüglichen Kritik auch oft anecke.
Das aber ist ein anderes Thema.


Fazit:
Die Frage, wie weit man gehen darf, um einen Unrechtsstaat zu beseitigen, stellt sich mir erst mal nicht. Mir stellt sich, bevor ich zu dieser Frage eine Antwort zu finden bereit bin, erst einmal die Frage, woran ich denn nun ein Unrechtsregime erkenne, das zu beseitigen legitim ist. Nicht hinterher, sondern at the very moment.:grübel:
 
Egal, wer nun ein Unrechtsregime beseitigen soll: Die Frage ist, wer definiert es eigentlich als solches?

Na zum Beispiel daran, wie der Staat seine Bürger behandelt. Werden Bürger (oder Besucher) aufgrund politischer Neigungen, Aussehen, Krankheitsgeschichte, Herkunft etc. bespitzelt, überwacht, an der Ausübung von Tätigkeiten behindert, ins Gefängnis gesteckt, an der Ausreise gehindert, gefoltert, ermordet o.ä. dann handelt es sich um einen Staat, den man als Unrechtsstaat bezeichnen könnte. Ein Rechtsstaat achtet die Menschen- und Bürgerrechte, schützt selbst die Kriminellen vor Übergriffen durch seine eigenen Beamten wie durch seine Bürger, schützt Minderheiten vor dem Zugriff von Mehrheiten... Ich glaube, das hatten wir schon.

Auch die RAF hat das System der Bundesrepublik als Unrechtsregime definiert. War sie deshalb legitimiert, es gewaltsam zu beseitigen?

Die Frage stellt sich, ob etwas systematisch passiert, oder in einzelnen Ausrutschern, die dann auch noch in der Presse breit getreten werden können, bzw. vor Gericht angefochten. Außerdem stellt sich die Frage nach der Verhältnismäßigkeit. Wenn die Aktionen, die sich gegen ein Unrechtsregime richten gewaltsamer sind (Mord!), als die Unrechtstaten des Regimes selbst, das vielleicht "nur" seine Bürger bespitzelt, delegitimiert sich jeder Widerstand.


Wenn nun, wie Umfragen ergeben, die Mehrheit der Deutschen mit einer Entscheidung der Regierung nicht einverstanden ist, die Regierung diese Entscheidung aber trotzdem durchsetzt: Ist sie dann schon ein Unrechtstaat, weil sie sich dem Willen des Volkes widersetzt?

Es ist noch kein Unrecht, wenn die Regierung gegen den erklärten Willen des Volkes handelt. S.o.
 
Na zum Beispiel daran, wie der Staat seine Bürger behandelt. Werden Bürger (oder Besucher) aufgrund politischer Neigungen, Aussehen, Krankheitsgeschichte, Herkunft etc. bespitzelt, überwacht, an der Ausübung von Tätigkeiten behindert, ins Gefängnis gesteckt, an der Ausreise gehindert, gefoltert, ermordet o.ä. dann handelt es sich um einen Staat, den man als Unrechtsstaat bezeichnen könnte. Ein Rechtsstaat achtet die Menschen- und Bürgerrechte, schützt selbst die Kriminellen vor Übergriffen durch seine eigenen Beamten wie durch seine Bürger, schützt Minderheiten vor dem Zugriff von Mehrheiten... Ich glaube, das hatten wir schon.

Das ist ja die Crux. Natürlich hatten wir das schon, aber es wirft für mich mehr Fragen auf, als es beantwortet.
So einfach ist es eben nur auf dem Papier und hier unterscheidet sich die Wirklichkeit massiv von den wohlfeilen Worten der Theorie. Sagen kann man so etwas leicht, daher ja auch mein Seitenhieb auf den - sicherlich gut und ehrlich gemeinten - Artikel 20 GG. Was da drin steht ist, ähnlich wie Deine obige Aufzählung, eben nur vermeintlich klar. Oder kann mir hier irgendwer möglicherweise meine Fragen dazu beantworten: Was darf ich denn nun und wann?

Die USA etwa behindern, bespitzeln und überwachen Besucher und Bürger derzeit sehr wohl aufgrund ihrer Herkunft oder politischer/religiöser Neigungen. Sie erfüllen also einige der Punkte aus obiger Liste und sind ergo ein Unrechtsstaat? Sie müssten, ebenfalls ergo, beseitigt werden? Oder müssen mehrere Punkte erfüllt sein? Wenn ja: Welche? Und wie viele?

Genauso verhält es sich mit dem genannten Mord. Was genau ist ein Mord? Wer legt das fest? Nach welchen und wessen Kriterien darf ich urteilen? Ist es Mord, wenn jemand, der trotz allgemein bekannten Verbots ein klar gezeichnets Sperrgebiet betritt, obwohl jeder weiß, dass dort warnungslos von der Schusswaffe Gebrauch gemacht wird, erschossen wird?

Es ist schwierig, Staatsterror oder Staatsverbrechen mit den Maßstäben und nach den Kriterien des Straf- und Zivilrechts zu messen. Klassische Begriffe wie etwa Freiheitsberaubung, Mord, Körperverletzung greifen hier nicht, da jeder Staat, auch Rechtsstaaten, sich ja Sonderrechte und Gewaltmonopole zugestehen. Natürlich darf die Staatsmacht mein Haus nur auf richterliche Anweisung durchsuchen (was übrigens nicht stimmt, denn wenn irgendein Staatsanwalt oder sogar Streifenpolizist "Gefahr im Verzug" zu wittern glaubt, kann er das jederzeit tun.), aber wir glauben doch nicht im Ernst daran, dass ein halbwegs gut organisierter Unrechtstaat diese richterliche Anweisung im Zweifelsfalle nicht hat.

Ich denke, mit klassischen Rechts- und Gesetzesprinzipien kommen wir hier nicht weiter. Auch nicht mit den klassischen Begriffen und und Prinzipien, die der Staat selbst verwendet, um seinen Bürgern Grund- und Abwehrrechte gegen sich selbst (den Staat) zuzugestehen. Freilich: Die "Würde" ist unantastbar. Aber wann genau ist sie denn nun angetastet? Darüber kann selbst das BVG jahrelang trefflich streiten, ohne am Ende zu einem Ergebnis zu kommen. Das sind alles dehnbare Begriffe, die unterm Strich eben jeder nach seinem eigenen Gutdünken dehnen kann. Auch der Staat selbst. Dieser Schutz ist ein weiten Teilen gar keiner.

Und selbst falls ich einen Unrechtsstaat als solchen zu erkennen vermeine: wie darf ich ihn denn nun beseitigen: Abwählen, klar, wenn das so einfach ginge, wäre das ein ausgesprochen kooperativer Unrechtsstaat. Ich gehe mal davon aus, dass diese Option wegfällt. Wodurch lässt sich der Unrechtsstaat also nun entfernen? Die Anwendung von Gewalt würde mich delegitimieren, da der Staat selbst bisher noch nicht gemordet hat (oder zumindest seine Morde geschickt genug umdeklariert hat) Was bleibt denn nun, was den Staat so weit unter Druck setzt, dass er abdankt? Etwa ziviler Ungehorsam? Was genau ist das denn? Falschparken? Oder seine Steuern nicht mehr zahlen? Nicht zur Arbeit gehen? Das setzt viele Leute unter Druck, aber am wenigsten die Unrechtsbonzen!

Für mich liegt die Schwierigkeit eben nicht darin, Kriterien festzulegen, wann ein Staat ein Unrechtsstaat ist, sondern diese Kriterien zu messen, respektive zu überprüfen. Selbst wenn sie messbar sind: Wer misst sie?
Das ist alles nicht so einfach, zumindest nicht für mich. Sobald ich anfange, die gutklingenden Worte zu hinterfragen, komme ich irgendwie nicht weiter.
Meine Kernfrage wurde mir leider nicht beantwortet: Selbst wenn es klare Definitionen gäbe: Wer sagt mir, dass sie erfüllt sind?
:grübel:
 
Menschen in einem Staat wählen in aller Regel ihre Regierung.
Deshalb haben Menschen mit Schuld am Unrecht.
Die Frage"Wie weit darf man gehen, um einen Unrechtsstaat zu vernichten?"
Finde ich nicht richtig.
Sollen die sich selbst erlösen. Die Menschen der DDR haben gezeigt, wie es geht.
 
Es steht jedem Bürger und Besucher der USA frei, sie zu verlassen, im Falle des Besuchers sie gar nicht erst zu besuchen, bzw. seine Meinung über die Behandlung zu äußern und dagegen zu protestieren und auch zu klagen, zur Not vor dem Supreme Court. Weiter werde ich darauf nicht eingehen wegen Tagespolitik.

Was genau ist ein Mord? Wer legt das fest? Nach welchen und wessen Kriterien darf ich urteilen? Ist es Mord, wenn jemand, der trotz allgemein bekannten Verbots ein klar gezeichnetes Sperrgebiet betritt, obwohl jeder weiß, dass dort warnungslos von der Schusswaffe Gebrauch gemacht wird, erschossen wird?

Mord ist Tötung aus niedrigen Beweggründen.
Das klar gekennzeichnete Sperrgebiet ist so eine Sache. Die innerdeutsche Grenze war ein solches Sperrgebiet und die Mauerschützenprozesse sind als Mordprozesse geführt worden. Analog könnte man nun sagen, das jemand, der im militärisch geschützten Bereich erschossen wird, ebenso ermordet wurde. Stimmt aber nicht (vorausgesetzt, dass er sich illegal dort aufhielt und auf Anruf falsch reagiert hat): Wenn dort die entsprechenden Informationen oder Gerätschaften (Waffen!) gelagert wurden, die den Eindringling zu einem Gefährder machen könnten, ist Gefahr im Vollzug. Anders dagegen an der innerdeutschen Grenze. Hier wurde gegen das Bürgerrecht der freien Ortswahl verstoßen: kein Staat hat das Recht seinen Bürgern die Ausreise zu verwehren (internationales Recht). Die Beweggründe waren niedriger Natur, weil Menschen aus Gründen des Prestiges der Regierungsverantwortlichen ihrer Freiheit beraubt wurden.

Es ist schwierig, Staatsterror oder Staatsverbrechen mit den Maßstäben und nach den Kriterien des Straf- und Zivilrechts zu messen. Klassische Begriffe wie etwa Freiheitsberaubung, Mord, Körperverletzung greifen hier nicht, da jeder Staat, auch Rechtsstaaten, sich ja Sonderrechte und Gewaltmonopole zugestehen. Natürlich darf die Staatsmacht mein Haus nur auf richterliche Anweisung durchsuchen (was übrigens nicht stimmt, denn wenn irgendein Staatsanwalt oder sogar Streifenpolizist "Gefahr im Verzug" zu wittern glaubt, kann er das jederzeit tun.), aber wir glauben doch nicht im Ernst daran, dass ein halbwegs gut organisierter Unrechtstaat diese richterliche Anweisung im Zweifelsfalle nicht hat.

Auch eine richterliche Anweisung muss begründet sein und der Grund muss auf Tatsachen basieren und tatsächlich eine Gefährdung darstellen.
Wenn also der richterliche Beschluss entweder a) nicht tatsachenfundiert ist oder b) diese Tatsachen für Staat oder Bürger ungefährlich sind, dann ist ein solcher Beschluss nicht rechtskräftig.
Um mal nur die beiden deutschen Unrechtsstaaten aufzugreifen: Es ist auffällig, dass die Nazis ihre politischen Gegner ganz ohne Gerichtsverfahren in die KZs stecken bzw., im Falle der DDR konspirativ vorgingen.

Die Anwendung von Gewalt würde mich delegitimieren, da der Staat selbst bisher noch nicht gemordet hat (oder zumindest seine Morde geschickt genug umdeklariert hat) Was bleibt denn nun, was den Staat so weit unter Druck setzt, dass er abdankt? Etwa ziviler Ungehorsam? Was genau ist das denn? Falschparken? Oder seine Steuern nicht mehr zahlen? Nicht zur Arbeit gehen? Das setzt viele Leute unter Druck, aber am wenigsten die Unrechtsbonzen!

Der erste Schritt ist doch, das Unrecht öffentlich zu machen oder die Mitarbeit zu verweigern; es gehört eben auch dazu etwaige Repressalien - z.B. den Verlust des Arbeistplatzes - in Kauf zu nehmen.

Für mich liegt die Schwierigkeit eben nicht darin, Kriterien festzulegen, wann ein Staat ein Unrechtsstaat ist, sondern diese Kriterien zu messen, respektive zu überprüfen. Selbst wenn sie messbar sind: Wer misst sie?
Das ist alles nicht so einfach, zumindest nicht für mich. Sobald ich anfange, die gutklingenden Worte zu hinterfragen, komme ich irgendwie nicht weiter.
Meine Kernfrage wurde mir leider nicht beantwortet: Selbst wenn es klare Definitionen gäbe: Wer sagt mir, dass sie erfüllt sind?
:grübel:

Das wiederum ist für mich nur schwer nachzuvollziehen. Wenn ich bespitzelt werden, dann werde ich bespitzelt, ob ich nun wenig bespitzelt werde, oder rund um die Uhr, ob nur immer einer hinter mir herläuft oder ob ich auch abgehört werde, ich werde bespitzelt, wenn ich verhaftet werde, werde ich auch nicht nur ein bisschen verhaftet oder nur ein wenig an der Ausreise gehindert etc.
 
Hochinteressant und schwer philosophisch, genau wie ich es mag, EQ:winke:
Deine Beiträge geben mir Impulse und regen mich zum weiteren Nachdenken an. Ich halte dagegen (nicht aus bösem Willen, sondern weil mich die Diskussion reizt. Wenn ich anfange zu nerven, bitte sagen)

bez. USA: [...]Weiter werde ich darauf nicht eingehen wegen Tagespolitik.
d'accord. Gehe ich also auch nicht weiter darauf ein.


[...] Anders dagegen an der innerdeutschen Grenze. Hier wurde gegen das Bürgerrecht der freien Ortswahl verstoßen: kein Staat hat das Recht seinen Bürgern die Ausreise zu verwehren (internationales Recht). Die Beweggründe waren niedriger Natur, weil Menschen aus Gründen des Prestiges der Regierungsverantwortlichen ihrer Freiheit beraubt wurden.
Ich mache jetzt mal den advocatus diaboli und antworte aus der Position eines fiktiven DDR-Verantwortlichen: "Auch in der DDR stand es jedem Bürger frei, seine Ausreise ganz regulär zu beantragen. Wir haben es hier mit illegalen Grenzgängern zu tun. Ihr Bundesgrenzschutz, lieber Westler, überwacht doch auch die Grenze und stellt illegale Grenzgänger. Kann sich bei Ihnen jeder, der bei Nacht und Nebel heimlich die Grenze überschreitet, auf das Bürgerrecht auf freie Ortswahl berufen?
Und erschossen werden die Leute bei uns übrigens auch erst, wenn sie auf Anruf falsch reagieren, genau wie bei Ihnen in militärischen Sperrgebieten. Dass Sie da niedere Beweggründe zu erkennen glauben, ist Ihre Sache, ich jedenfalls tue das nicht."

Den Begriff des Gefährders zu verwenden ist naheliegend, aber er verlagert das Problem nur. Jetzt ist nicht mehr die Crux, wer entscheidet, ob jemand ermordet oder rechtmäßig getötet wurde, sondern wer entscheidet, ob jemand ein Gefährder ist oder nicht. Solange ein Eindringling in ein Sperrgebiet, in dem Waffen gelagert werden, diese noch nicht in seine Gewalt gebracht hat, ist er doch nicht zwingend ein Gefährder? Auch hier wieder: Wo ist die Grenze? Darf der Staat jeden erschießen, den er für einen Gefährder hält oder geschickt als einen solchen definiert? Für die DDR waren Republikflüchtlinge natürlich auch "Gefährder". Du erkennst mein Problem?
Aber grundsätzlich verstehe ich natürlich den Unterschied, den Du aufzeigst, und ich stimme auch grundsätzlich zu.

Auch eine richterliche Anweisung muss begründet sein und der Grund muss auf Tatsachen basieren und tatsächlich eine Gefährdung darstellen.
Wenn also der richterliche Beschluss entweder a) nicht tatsachenfundiert ist oder b) diese Tatsachen für Staat oder Bürger ungefährlich sind, dann ist ein solcher Beschluss nicht rechtskräftig.
Um mal nur die beiden deutschen Unrechtsstaaten aufzugreifen: Es ist auffällig, dass die Nazis ihre politischen Gegner ganz ohne Gerichtsverfahren in die KZs stecken bzw., im Falle der DDR konspirativ vorgingen.
Wieder das Gefährdungsproblem, genau wie oben: Der Staat definiert über seine Gesetze weitgehend selbst, was eine Gefährdung ist und was nicht. Ich rede nun nicht von klar nachvollziehbaren Gefährdungen, die schon aus den 10 Geboten ableitbar sind, wie Bedrohung des Lebens oder so. Sondern so diffuse Dinge wie etwa Gefährdungen für "die öffentliche Ordnung". Oder auch eine "Volksverhetzung". Wann genau gefährdet jemand die öffentliche Ordnung oder verhetzt das Volk? Wer entscheidet das? EQ? Panzerreiter? Der "Staat"? Wessen Definition zählt? Vor Gericht jedenfalls weder die Deine noch die Meine.
Die Katze beißt sich erst mal in den Schwanz: Der Staat gibt im Idealfall Kriterien vor, wann er legal zu bekämpfen sei (siehe GG), aber gleichzeitig entscheidet er im Großen und Ganzen selbst rechtlich bindend, ob diese Kriterien gerade zutreffen oder nicht. Selbst wenn es, wie in der BRD, so etwas wie ein Verfassungsgericht gibt: Es urteilt nicht über die Verfassung, sondern auf Basis der Verfassung. Es ist, in meinen Augen, nicht wirklich unabhängig. Es ist eine rechtliche Instanz in Abhängigkeit von genau dem Recht, das der Staat selbst verfasst hat. Es ist keine ethische oder moralische Instanz.
Wir reden ja hier nicht über die BRD, ich nehme sie nur als strukturelles Vergleichsbild her, sondern über ein fiktives Unrechtssystem. Die BRD hat eine ordentliche Verfassung, die, wenn sie von einem rührigen BVG konsequent geschützt und angewendet wird, die Entstehung eines Unrechtssystems massiv erschwert bis unmöglich macht. Aber was, wenn das BVG versagt? Etwa, weil es geschmiert oder unter Druck gesetzt wird? Dann stimmt es einer Verfassungsänderung zu, es schleichen sich in die ureigene Verfassung Unrechtselemente ein und der (Unrechts-)Staat beruft sich weiterhin auf völlig geltendes, verfassungsgemäßes Recht, "im Namen des Volkes" (Hat Herr Freisler das nicht auch immer gesagt?)

Ich denke, man muss sich, um ein Unrechtssystem als solches zu entlarven, völlig von der traditionellen Vorstellung von national verbrieftem Recht und Gesetz und auch dessen Auslegung lösen, denn das dürfte das erste sein, was ein Unrechtsstaat faktisch aushebelt und für sich selbst missbraucht.

Was aber bleibt stattdessen? Allgemein gültige Menschenrechte? Das wäre eine Möglichkeit. Taugen die dafür? Ehrliche Frage, denn ich muss gestehen, ich kenne sie nicht alle auswendig. Oder sind die unter'm Strich auch wieder dehnbar und jeder kann sie mehr oder weniger auslegen, wie er will?

Ein anderes Problem:
Die Menschenrechte bilden, soweit ich das überblicke, westliche ethische Werte ab. Mit welcher ethischer Legitimation sollten wir diese Rechte in allen Kulturkreisen der Welt durchsetzen? Ich sehe Konfliktpotential und den möglichen Missbrauch dieser Menschenrechte, um missliebige Länder als Unrechtsstaaten zu diskreditieren und von außen ein angebliches Unrechtssystem zu beseitigen. Kurz: Einen Kriegsvorwand. (Ein Beispiel: Jedes islamische Land, in dem die Scharia gilt, wäre wegen des Verstoßes gegen das Verbot der Körperstrafen aus Sicht der Menschenrechte ein Unrechtsstaat). Wir wären, in etwas verfeinerter Form, wieder im Jahre 1900: Am westlichen Wesen soll die Welt genesen.

Ich muss Flo zustimmen: Im Endeffekt müssen die Menschen selbst entscheiden, ob sie in einem Unrechtsstaat leben oder nicht. Dem Ausland steht das nicht zu. Es wäre moralisch verpflichtet, einem Volk zu helfen, welches sich aus eigenem Entschluss von einem Unrechtssystem befreien will, es aber aus eigener Kraft nicht mehr kann. Nur dann wären wir wieder beim schon genannten Problem: Wer bittet denn das Ausland um Hilfe? Wie sähe eine solche Bitte aus? Z.B: ein Brief an die UN, den alle 1,3 Mrd Chinesen unterschrieben haben? Woran soll das Ausland erkennen, dass die Bitte wirklich von der Mehrheit des Volkes kommt? Ich muss Flo schon wieder zustimmen, auch wenn ich es ungern tue, weil auch ich natürlich dem unterdrückten Volk helfen wollte: Eine Bevölkerung muss das irgendwie selbt regeln.

Der erste Schritt ist doch, das Unrecht öffentlich zu machen oder die Mitarbeit zu verweigern; es gehört eben auch dazu etwaige Repressalien - z.B. den Verlust des Arbeistplatzes - in Kauf zu nehmen.
Ich weiß, was Du meinst. Das wäre der erste Schritt in einem Rechtsstaat, der erste Tendenzen zeigt, in einen Unrechtsstaat abzugleiten. Insofern: ja, einverstanden.
Aber reden wir von einem vollendeten, fiktiven Unrechtsstaat im Sinne der Eingangsfrage, nicht einem Rechtsstaat, der genau das zulässt: Unrecht selbst oder über eine freie Presse öffentlich zu machen.
Was geschah denn mit den Leuten, die Hitlers Unrecht öffentlich machen wollten? Ich bewundere diese Leute, aber mir ist mein Fell wichtig genug, dass ich nicht diesen Mut gehabt hätte, das gebe ich offen zu. Bin ich der einzige?
Wenn ich schon gegen das System agiere, wenn ich es weg haben will, dann will ich den Erfolg auch erleben, dann will ich was davon haben und wieder in Freiheit leben. Sprich: ich bin nicht bereit, dafür zu sterben, damit andere die Früchte ernten. Jemanden dafür sterben zu lassen - ja, sicherlich schon.
Womit ich ein Problem der unterscheidlichen Perspektive gefunden zu haben vermeine:
Von außen betrachtet mögen die Eskalationsstufen wie folgt sein:
passives Nichtstun / passiver Widerstand / aktiver, gewaltloser Widerstand / aktiver,bewaffneter Widerstand
Aus Sicht eines Individuums und unter Berücksichtigung der Gefährdungslage (am Beispiel der massiven Gefährdungslage im 3. Reich) mögen diese Stufen plötzlich anders aussehen:
passives Nichtstun / passiver Widerstand / aktiver,bewaffneter Widerstand / aktiver, gewaltloser Widerstand!
Bewaffnet legen die mich genauso um wie die gewaltlosen Geschwister Scholl, wenn sie mich erwischen. Aber dann kann ich mich wenigstens wehren.
Diese Reihenfolge der Eskalationsstufen erscheint mir nicht trivial. Denn die Frage war ja "Wie weit darf man gehen..." Den eigenen Tod zu verursachen ist für mich, was den eigenen Mut und die eigene Motivation betrifft, weiter, als fremden Tod zu verursachen.

Rechtlich betrachtet ging Elser weiter als die Geschwister Scholl.
Von der Konsequenz, von der Opferbereitschaft her gingen die Geschister Scholl weiter als Elser.
(Hätte Stauffenberg die gleiche Opferbereitschaft gezeigt, hätte das Attentat geklappt. Dann hätte er die Bombe(n) als Selbstmordattentäter direkt neben Hitler gezündet, am besten beim Händedruck)

Von der rechtlichen Betrachtung aber, das habe ich dargelegt, will ich mich ja lösen. Auch von der rückwirkenden rechtlichen Betrachtung, da sie m.E. nicht zielführend ist, sondern sich in rechtlichen Spitzfindigkeiten und Formulierungs- wie Auslegungstricks verliert.


Das wiederum ist für mich nur schwer nachzuvollziehen. Wenn ich bespitzelt werden, dann werde ich bespitzelt, ob ich nun wenig bespitzelt werde, oder rund um die Uhr, ob nur immer einer hinter mir herläuft oder ob ich auch abgehört werde, ich werde bespitzelt, wenn ich verhaftet werde, werde ich auch nicht nur ein bisschen verhaftet oder nur ein wenig an der Ausreise gehindert etc.

Das sehe ich nicht so. Ich kann sehr wohl ein bisschen bespitzelt werden.
Andernfalls müsste ich sofort nach Beseitigung des Unrechtsstaates rufen, weil meine Verbindungsdaten im Internet 6 Monate gepeichert werden (unabhängig davon, ob ich etwas angestellt habe oder nicht) und meine e-mails automatisch gefiltert werden (ebenfalls unabhängig davon, ob ich etwas angestellt habe oder nicht) Fakt ist: ich werde bespitzelt, auch in dem Rechtsstaat BRD. Zumindest nach meiner Definiton von "bespitzeln", womit wir wieder beim Definitionsproblem dehnbarer Begriffe sind. Der Staat nennt das natürlich nicht "bespitzeln".
Aber das ist jetzt wieder Tagespolitik, also lassen wir's gut sein.
 
@ Panzerreiter:

Inwiefern soll denn einer, der abhauen will, ein Gefährder sein???

=> höchstens insofern, dass die DDR auszubluten drohte, wenn die gesamte Intelligentia auswanderte
 
@ Panzerreiter:

Inwiefern soll denn einer, der abhauen will, ein Gefährder sein???

=> höchstens insofern, dass die DDR auszubluten drohte, wenn die gesamte Intelligentia auswanderte

Na, aus Deiner und Meiner (und natürlich auch EQ's und wohl aller anderer hier) Sicht natürlich nicht. Aber die Verantwortlichen in der DDR (und einen fiktiven solchen habe ich in meinem Post ja etwas störrisch argumentieren lassen) sahen das halt so und definierten das eben auch so. Möglichkeiten, das in rechtliche Rahmen zu setzen hatten sie ja durchaus. (Möglicher Geheimnisverrat: man weiß ja nicht wer da gerade abhaut; analog dazu möglicher Schmuggel; oder auch subversive Einflüsse auf die öffentliche Moral, womit wir wieder bei dem dehnbaren Begriff der Gefahr für die öffentlich Ordnung sind; usw...)

Das mit der Intelligentia ist unsere offensichtliche westliche Interpretation, die wohl auch der Wahrheit nicht fern liegt, aber das kann die DDR-Führung ihrem Volk so ja schlecht sagen.

Es geht mir auch in erster Linie darum, zu zeigen, wie gesetzliche Rahmenbedingungen gedehnt werden können, gerade von Unrechtsregimen zur Selbstrechtfertigung. (Hier am Beispiel des Begriffes "Gefährder", weil EQ den eingebracht hat und ich ihn ganz brauchbar, weil eben dehnbar fand) Aber eben auch von Regimen zur Diskreditierung ihrer Konkurrenten. Ihr erinnert Euch an Herrn Schnitzler vom schwarzen Kanal? Ein Traum! Was aus Sicht der DDR-Führung wir im Westen doch für ein Unrechtsregime hatten. Davon hätten die uns sicherlich gerne befreit und wir hätten ihnen hinterher dafür dankbar sein müssen...
 
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