Wurden im Stalinismus Verbrechen wirklich geleugnet?

Striezi

Neues Mitglied
Hallo..

Ich habe einen Film gesehen in dem ein Junge umgebracht wird und der Geheimdienst so tut als wäre es ein Unfall weil es "Morde im Paradies" nicht gibt.

Wurden wirklich alle Morde/Verbrechen im Stalinismus geleugnet?
 
Ich kann dir die Frage nicht in dem von dir gestellten Sinne beantworten. Ich kann dir nur sagen, dass der Krimi als Literaturgattung in den totalitären Diktaturen sehr unbeliebt war bei den Herrschenden, weil er die Utopie der perfekten Gesellschaft unterlief. Zwar werden die meisten Morde tatsächlich wohl aus Leidenschaft begangen, aber man propagierte ja den neuen Menschen und ein Gesellschaftssystem ohne Sozialneid, das Verbrechen (reduziert auf Verbrechen aus Gründen der individuellen Bereicherung) unnötig machte, weil ja -theoretisch - alle dasselbe zur Verfügung hatten.
 
Ich meine, speziell in den 1930ern wurde im Stalinismus Propaganda verbreitet, dass es keine (Kapital-)Verbrechen in der sowjetischen sozialistischen Gesellschaft gab.

Wir hatten hier im Forum auch das mal das Thema sowjetische "Statistiken", an denen jede Menge frisiert worden ist, auch solche gesellschaftsbezogene Daten.

Müsste ich nachschlagen. Es gibt einige Literatur zur sowjetischen Gesellschaft bzw. zum täglichen Leben im Stalinismus.
 
Ich meine, speziell in den 1930ern wurde im Stalinismus Propaganda verbreitet, dass es keine (Kapital-)Verbrechen in der sowjetischen sozialistischen Gesellschaft gab.

Nochmal nachgeschlagen:
Fitzpatrick, Everyday Stalinism: Ordinary Life in Extraordinary Times: Soviet Russia in the 1930s

"Ordinäre" Verbrechen wurden nicht geleugnet, aber politisiert, "Elementen der Vergangenheit" zugeschlagen, die sich nicht in die sozialisitische Gesellschaft integriert hätten, Konterrevolutionären, "Randalierern", fehlgeleiteten Kindern solcher "Elemente" etc.

Fitzpatrick bringt einiges zu den Aktionen im Stalinismus, mit diesen der sozialistischen Gesellschaft feindlichen Personen "aufzuräumen", diese zur "Aufgabe zu bewegen", "vorsorgliche" Deportationen von Gruppen, denen solche Kriminalität angedichtet wurde.

Merkmal ist, dass solche Verbrechen "politisiert" wurden und häufig unter regimefeindlichen Tendenzen kategorisiert wurden., während die Propaganda die Teile der ("sozial befriedeten") sozialistischen Gesellschaft sozusagen als kriminell-frei darstellte.
 
Es ist zwar nur eine persönliche Geschichte, aber vielleicht ist es ja ganz interessant.

Mein Vater war mit seiner Firma auf einer Messe in Moskau in den 70iger Jahren gewesen. Sie haben die Maschinen in Kisten verpackt und nach Moskau geschickt; in einer waren aber alles mögliche an Fressalien mit Wein, Nahrungsmitteln etc.

Als sie die Kisten geliefert bekommen haben, hat genau eine gefehlt: Nämlich die mit den Fressalien. Einige Tage später kam die Kiste an, aber komplett leer. Aber die Kiste war wieder fachmännisch verpackt.

Mein Vater ging zur Polizei, um dies zu melden. Die Antwort war: "Ein Kommunist stiehlt nicht. Wer behauptet, ein Kommunist stieht, betreibt masslose Unterstellungen und ist es nicht würdig, im Kommunismus zu verbleiben" - Ergo wären sie ausgewiesen worden. Dann haben sie darauf verzichtet, es weiterzuverfolgen.

Wie gesagt, dass ganze ist eine persönliche Geschichte und ist defintiv nicht in irgendeiner Art und Weise verwend- bzw. verifizierbar, aber vielleicht ganz interessant.
 
"Ordinäre" Verbrechen wurden nicht geleugnet, aber politisiert, "Elementen der Vergangenheit" zugeschlagen, die sich nicht in die sozialisitische Gesellschaft integriert hätten, Konterrevolutionären, "Randalierern", fehlgeleiteten Kindern solcher "Elemente" etc.
Das kann man im Grunde genommen wunderbar an den alten vorwendezeitlichen Polizeiruf-Folgen nachvollziehen, die man ja hin und wieder auf den dritten Programmen zu sehen bekommt. Der Polizeiruf war ja gewissermaßen das DDR-Gegenprogramm zum erfolgreichen Tatort. Morde kamen selten vor, dafür häufig Jugendkriminalität, und - das trifft es - sehr häufig waren es eben (durch den Klassenfeind) fehlgeleitete Jugendliche, die sich am Bestand des Volkseigentums zu schaffen machten. Man kam also, wegen des Erfolgs des Tatorts, der ein Bedürfnis auch bei DDR-Bürgern befriedigte, nicht drumherum, dem eine eigene Bedürfnisbefriedigung entgegenzustellen, verband diese aber mit erzieherischen Zielen. Die Polizisten waren daher häufig auch eine Mischung aus Ermittlern, Strafverfolgern und Erziehern.

Wie gesagt, dass ganze ist eine persönliche Geschichte und ist defintiv nicht in irgendeiner Art und Weise verwend- bzw. verifizierbar, aber vielleicht ganz interessant.

Man sagt zwar als Bonmot, dass Historiker und Zeitzeugen sich spinnefeind sind (und ein Körnchen Wahrheit steckt darin), aber ohne Zeitzeugen wüssten wir vieles nicht. Ohne Zeitzeugen, Autobiographien, Memoiren und ähnliches hätten wir an historischem Material nur amtlichen Schriftverkehr... Also insofern gibt es keinen Grund, die Erfahrung deines Vaters kleinzureden. Sie ergänzt gewissermaßen die Lücken in den Kriminalarchiven der DDR und der SU.

Edit:

Deine Geschichte beleuchtet aber auch die Versorgungslage in der SU. Die Leute haben die Nahrungsmittel ja sicher nicht geklaut, weil sie sich bereichern wollten (naja, vielleicht auch) sondern in erster Linie deswegen, weil es einen Bedarf gab. Und zu Bedarf fällt mir eine Moskau-Besuch eines Onkels von mir und ein Ostberlin-Besuch meiner Eltern ein: Mein Onkel hatte in Moskau dasselbe Erlebnis, wie meine Eltern in Ostberlin: Sie reihten sich brav in die Schlange der vor dem jeweiligen Restaurant wartenden ein, wurden aber vom Personal als Westbürger erkannt und an den Wartenden vorbeigeführt, was ihnen sehr peinlich war. Sie hatten gewissermaßen als nicht-marxistisch-eingestellte Wessis mehr "Klassenbewusstsein", als die Restaurantangestellten... Bevorzugt zu werden war sicher angenehm, aber auch peinlich.

Aber Schlangestehen - ich komm mal wieder von Hölzken auf Stöcksken -, so unangenehm und nervig das ist, kann durchaus auch etwas vertrautes haben... Meine Schwiegeroma hat, nachdem sie nach Dtld. gekommen ist, mit dem Schlangestehen gewissermaßen Heimat verbunden. Wobei das sicher für Neurologen interessanter ist, als für Historiker. Sie hat immer darauf bestanden, zu Weihnachten den Fisch selbst im Laden zu kaufen, weil es dort regelmäßig zur Schlangenbildung kam, was sie genoss, weil es sie an die polnische Heimat erinnert, ihr Heimweh linderte.
 
Zuletzt bearbeitet:
Zu Straftaten Jugendlicher und den Folgen in 1935 ein Fall aus den Moskauer Zeitungen, aus dem zitierten Kirkpatrick:

"Juvenile crime, from pickpocketing to hooliganism and violent attacks, was perceived as an increasing problem in the first half of the 1930s. Until 1935, however, the law was relatively lenient on juveniles: for hooliganism, for example, the maximum penalty was two years imprisonment and rehabilitation was preferred to imprisonment for juvenile offenders. The authorities dealing with juvenile crime tended to focus on family circumstances and how to improve them. But this “liberal” approach was abruptly discredited in 1935, after what was perceived as an upsurge in random violence, including murder, on city streets, with juveniles prominent among the perpetrators.

Klim Voroshilov, Politburo member and Minister for Defence, raised the alarm. Citing Soviet newspaper reports on a series of murders and violent assaults in Moscow by two sixteen-year-olds who got only five-year sentences, he claimed that Moscow authorities had on their books “about 3,000 serious adolescent hooligans, of whom about 800 are undoubted bandits, capable of anything.” He deplored the courts’ mildness toward young hooligans and suggested that, to make the streets of the capital safe again, the NKVD should be instructed to clear Moscow immediately not only of homeless adolescents but also of delinquents out of parental control. “I don’t understand why we don’t shoot these scoundrels,” Voroshilov concluded. “Do we really have to wait until they grow up into still worse bandits?”

Voroshilov’s sentiments were fully shared by Stalin, who reportedly was the main author of the law of the Politburo decree of 7 April 1935 “On measures of struggle with crime among minors,” which made violent crimes committed by juveniles from twelve years of age punishable as if they were adults. The decree was followed by a law optimistically titled “On the liquidation of child homelessness and lack of supervision,”
..."


Und ergänzend zur "Jugendkriminalität" das Kapitel aus:
Juliane Fürst, Stalin's last Generation - Soviet post-war Youth and the Emergence of Mature Socialism
 
Zuletzt bearbeitet:
Klim Voroshilov, Politburo member and Minister for Defence, raised the alarm. [...] to make the streets of the capital safe again, the NKVD should be instructed to clear Moscow immediately not only of homeless adolescents but also of delinquents out of parental control. “I don’t understand why we don’t shoot these scoundrels,” Voroshilov concluded. “Do we really have to wait until they grow up into still worse bandits?”

Voroshilov’s sentiments were fully shared by Stalin, who reportedly was the main author of the law of the Politburo decree of 7 April 1935 “On measures of struggle with crime among minors,” which made violent crimes committed by juveniles from twelve years of age punishable as if they were adults. The decree was followed by a law optimistically titled “On the liquidation of child homelessness and lack of supervision,”
..."

War das eigentlich noch von einem marxistischen Standpunkt aus gedeckt? Doch wohl eigentlich nicht... Wobei es mir jetzt nicht darum geht, dass Woroschiloff die Straßen wieder sicherer machen wollte, sondern dass man gewissermaßen die besitzlosesten aller Proletarier, nämlich obdachlose Kinder und Jugendliche, kriminalisierte anstatt sie an den "Segnungen der proletarischen Revolution" teilhaben zu lassen.
 
Man sagt zwar als Bonmot, dass Historiker und Zeitzeugen sich spinnefeind sind (und ein Körnchen Wahrheit steckt darin), aber ohne Zeitzeugen wüssten wir vieles nicht. Ohne Zeitzeugen, Autobiographien, Memoiren und ähnliches hätten wir an historischem Material nur amtlichen Schriftverkehr... Also insofern gibt es keinen Grund, die Erfahrung deines Vaters kleinzureden. Sie ergänzt gewissermaßen die Lücken in den Kriminalarchiven der DDR und der SU.

Edit:

Deine Geschichte beleuchtet aber auch die Versorgungslage in der SU. Die Leute haben die Nahrungsmittel ja sicher nicht geklaut, weil sie sich bereichern wollten (naja, vielleicht auch) sondern in erster Linie deswegen, weil es einen Bedarf gab. Und zu Bedarf fällt mir eine Moskau-Besuch eines Onkels von mir und ein Ostberlin-Besuch meiner Eltern ein: Mein Onkel hatte in Moskau dasselbe Erlebnis, wie meine Eltern in Ostberlin: Sie reihten sich brav in die Schlange der vor dem jeweiligen Restaurant wartenden ein, wurden aber vom Personal als Westbürger erkannt und an den Wartenden vorbeigeführt, was ihnen sehr peinlich war. Sie hatten gewissermaßen als nicht-marxistisch-eingestellte Wessis mehr "Klassenbewusstsein", als die Restaurantangestellten... Bevorzugt zu werden war sicher angenehm, aber auch peinlich.

Aber Schlangestehen - ich komm mal wieder von Hölzken auf Stöcksken -, so unangenehm und nervig das ist, kann durchaus auch etwas vertrautes haben... Meine Schwiegeroma hat, nachdem sie nach Dtld. gekommen ist, mit dem Schlangestehen gewissermaßen Heimat verbunden. Wobei das sicher für Neurologen interessanter ist, als für Historiker. Sie hat immer darauf bestanden, zu Weihnachten den Fisch selbst im Laden zu kaufen, weil es dort regelmäßig zur Schlangenbildung kam, was sie genoss, weil es sie an die polnische Heimat erinnert, ihr Heimweh linderte.

Danke!

Ich kann noch andere Geschichten erzählen. Hinsichtlich der persönlichen Bereicherung: Auf einer Messe kam ein hohes Tier der Roten Armee - es war nicht bekannt, was für ein Rang, aber es muss eine ansprechende Uniform gewesen sein - mit einem Koffer an den Stand der Firma meines Vaters, stellt diesen ab, lächelte und ging. Sie haben den Koffer aufgemacht und er war leer.
Nachdem sie Leute vom Nachbarstand gefragt haben, die aus Österreich kamen, wurde ihnen gesagt, dass sie - mein Vater und seine Kollegen - etwas in den Koffer zu stecken haben, denn wenn nicht, würde ihnen vorgeworfen werden, dass sie den Besitzer des Koffers bestohlen haben.

Dementsprechend haben sie was in den Koffer getan. Er kam dann vorbei, hat den Koffer genommen und aufgemacht. Er hat sie angesehen, ihn aufgemacht und dann gelächelt und ist gegangen.


Und das mit dem Schlangestehen und dem Bevorzugen der Westdeutschen: Das kennt mein Vater ebenfalls. Das war auch bei Taxifahrern der Fall.
 
Ich habe einen Film gesehen in dem ein Junge umgebracht wird und der Geheimdienst so tut als wäre es ein Unfall weil es "Morde im Paradies" nicht gibt.

Wurden wirklich alle Morde/Verbrechen im Stalinismus geleugnet?

Generell ist anzumerken, dass die juristische Sicht im Stalinismus sich deutlich von der Periode der post-stalinistischen Ära unterschied (vgl. 2, S. 105ff; Stalin stands firm and Why). Im Gegensatz zu der harten stalinistischen Linie der Verfolgung auch von „geringfügigen“ („minor infections“ or „petty thefts“ etc.) wurde es nach den Entstaliniserung anders betrachtet. „The post-Stalin leadership, therefore considered law enforcement as a corretional system designed to rehabilitate the criminal, versus Stalin`s view of it as a system to protect the state.“ (2, S. 105).

Die zentrale Tendenz für die Periode des Stalinismus wurde von Silesia in Anlehnung an Fitzpatrick beschrieben, die sich wiederum stark auf Hagenloh (3) beruft. Diese harte Sicht behielt Stalin bis zum Höhepunkt seiner politischen Macht im Jahr 1947 bei [7, S. 462). „Stalin was not prepared to show mercy to petty offenders, no matter how overwhelming the advice.“ (2, S. 105). Zu diesem Zeitpunkt war bereits deutlich, wie Solomon es konstatiert, dass die extreme Nutzung von staatlicher Gewalt ihre abschreckende Funktion verloren hatte. Und zu diesem Zeitpunkt schlugen die drei höchsten juristischen Berater von Stalin eine Strafrechtsreform vor, bei der „Kleinkriminelle“ beim ersten Delikt lediglich für ein Jahr in Haft genommen werden. Stalin lehnte die Liberalisierung des Strafrechts ab.

Die Diskussion über die rechtsstaatliche Entwicklung und das damit zusammenhängende System der inneren Sicherheit, gebildet aus Polizei (Miliz), OGPU (ab 1935 NKWD), Justiz und Gefängnissen und Lagern, ist im Kontext der Entwicklung der sozialistischen Gesellschaft zu sehen.

Zum einen in der Entwicklung eines neuen sozialistischen Menschen mit einem altruistischem Wertesystem. Dieses stellte sich als „Erziehungsauftrag“ an den Staat (vgl. z.B. 1 und 6). Zum anderen erfolgte der Umbau der sowjetischen Wirtschaft im Rahmen der Fünfjahrespläne unter einem enormen zeitlichen Druck, da die zunehmende externe Bedrohung in den dreißiger Jahren als existenzielle Bedrohung aufgefasst wurde.

Vor diesem Hintergrund entwickelte sich der zentralistische stalinistische Staat mit dem Ziel einer effektiven Steuerung eines sozialistischen Gemeinwesens und Wirtschaft und parallel dazu in den dreißiger Jahren auch das zunehmend repressive stalinistische Regime.

Mit dem Ende von NEP transformierte sich – so die offizielle Sicht - die SU in eine „sozialistische Gesellschaft“, die nicht mehr durch einen Klassenkampf gekennzeichnet war. Und damit wurde die Grundlage für die „normale Kriminalität“ beseitigt, die an kapitalistische Strukturen per Ideologie gebunden waren. (vgl. beispielsweise 5, S. 177)

Gleichzeitig war ein relativ hohes Niveau Anfang der dreißiger Jahre an Eigentumsdelikten zu erkennen, aufgrund der starken Armut, die auch mit dem Ende von NEP zusammen hing. Der Umfang der „Armuts-Kriminalität“ war beachtlich und erreichte beispielsweise nur in Moskau einen Umfang, der ca. 12 LKW-Ladungen entsprach (4, S. 147). Als Täter, so eine offizielle Studie, wurden überproportional (ca. 60 %) junge Arbeiter unter 24 Jahren identifiziert und deren Verbrechen wurde als „hooliganism“ bezeichnet wurde (4, S. 135).

In Verbindung mit der sozialen Integration und der „Überwindung der De-Kulakisierung“ wurde bis 1935 von Iagoda ein neues „policing empire“ aufgebaut, das die öffentliche Ordnung für die Sowjetunion garantieren sollte (6, S. 284) Parallel zum Ausbau der Exekutiv-Organe erfolgte der formale Ausbau des Rechtssystems durch Andreii Vyshinskii als eine Art „Generalbundesanwalt“ (ab 1935).

Die Entwicklung verlief insofern seit ca. 1930 parallel als auf der einen Seiten durch die OGPU/NKWD in zunehmend Umfang vom Recht gebraucht gemacht wurde, unabhängig von Gerichten, Personen zu verhaften und in Gefängnisse bzw. Lager zu stecken. Die Durchführung der Massenverhaftungen durch die lokale Polizei erfolgte kampagnenhaft (3, S. 287 ff) Es erfolgte eine zunehmende "Entkoppelung" von polizeilichen Aktionen und der Aburteilung von potentiellen Straftätern durch "ordentliche Gerichte". Nicht zuletzt, da Richter ihrerseits massiv einer Verfolgung ausgesetzt wurden.

In diesem Zusammenhang ist es wichtig zu verstehen, dass mit dem Ende des Klassenkampfs auch die erkennbare Klasse der „Kulaken“ verschwand teilweise in die sowjetische Gesellschaft integriert werden sollte. So zumindest ein Anspruch der Verfassung von 1935/36.

Dennoch mußte das politische Regime erklären, auch in der internen Diskussion von Stalin mit seinen „Gefolgsleuten“, warum die Entwicklung der sozialistischen Gesellschaft so „langsam“ vorankam. Und als Erklärung wurde angeboten, dass der frühere externe Klassenfeind sich in das – eigentlich gute – Proletariat eingeschlichen hätte und dort unerkannt seine „zersetzende Tätigkeit“ fortführen würde. Aus dieser Sicht wurde „normale kriminelle Delikte“ zu einer politisch motivierten Handlung, die auf einen Widerstand gegen das sozialistische System hinauslief, so beispielsweise Hagenloh (3)

Insgesamt erfolgte ab 1936 eine deutliche „hysterische Emotionalisierung“ der Innenpolitik, wie Schögel (Terror und Traum. Moskau 1937) es beschreibt, ausgelöst auch durch den spanischen Bürgerkrieg. Und eingebettet in den Konflikt zwischen der Moskauer Zentrale und den relativ eigenständigen regionalen Parteigliederungen (Arch Getty: Practicing Stalinsm) bzw. durch den drohenden außenpolitischen Konflikt mit dem 3. Reich (Khlevniuk: The History of the Gulag).

Vor diesem Hintergrund wird deutlich, dass die Verfolgung von Straftaten aus der Sicht von Stalin dem Aufbau einer „konfliktfreien sozialistischen Gesellschaft“ dienen sollte. Noch deutlicher: Wer aus der Sicht des Repressionssystems nicht mitmachen wollte, wurde entweder liquidiert oder in Lagern zur „sozialistischen Persönlichkeit“ umerzogen. Und endete in einer Eskalationsspirale zwischen zunehmend wirkungsloser staatlicher Repression und Armutskriminalität (8) bzw. auch permanenten Kampagnen der Verfolgungen im industriellen Umfeld (7).

Die „normale“ Verfolgung von Straftaten erfolgte somit zunehmend im Rahmen eines System der repressiven politischen Justiz.

1.Clark, Katerina (1993): Engineers of human Souls in an Age of Industrialization. Changing cultural Models, 1929-41. In: William G. Rosenberg und Lewis H. Siegelbaum (Hg.): Social dimensions of Soviet industrialization. Bloomington: Indiana University Press, S. 248–264.
2.Gregory, Paul R. (2008): Lenin's brain and other tales from the secret Soviet archives. Stanford, Calif.: Hoover Institution Press (Hoover Institution Press publication, no. 555).
3.Hagenloh, Paul (2000): "Socially harmful elements" and the Great Terror. In: Sheila Fitzpatrick (Hg.): Stalinism. New directions. London, New York: Routledge (Rewriting histories), S. 286–308.
4.Hoffmann, David L. (1994): Peasant metropolis. Social identities in Moscow, 1929-1941. Ithaca: Cornell University Press (Studies of the Harriman Institute).
5.Hoffmann, David L. (2003): Stalinist values. The cultural norms of Soviet modernity, 1917-1941. Ithaca: Cornell University Press.
6.Hoffmann, David L. (2011): Cultivating the masses. Modern state practices and Soviet socialism, 1914-1939. Ithaca, N.Y.: Cornell University Press (Cornell paperbacks).
7.Solomon, Peter H. (1993): Criminal Justice and the industrial Front. In: William G. Rosenberg und Lewis H. Siegelbaum (Hg.): Social dimensions of Soviet industrialization. Bloomington: Indiana University Press, S. 223–247.
8.Solomon, Peter H. (1996): Soviet criminal justice under Stalin. Cambridge, U.K., New York: Cambridge University Press (Cambridge Russian, Soviet and post-Soviet studies, 100).

Post-stalinistische Ära: Mildner zeigt, dass die „Schattenwirtschaft“ und die auch damit zusammenhängende „Korruption“ ein substantielles Problem für die russische Armee ist. Die Ursache liegt dabei zum einen in der mangelhaften Verankerung und Durchsetzung rechtsstaatlicher Normen und zum anderen in dem Vorhandensein einer Mangelwirtschaft. Diese Aspekte haben bereits im Zarismus und in der Sowjetunion eine Rolle gespielt und sind somit auch historisch kulturell verankert.

Allerdings ist die Frage der Korruption gerade im Bereich der Rüstungsproduktion ein universelles Phänomen, das nicht auf den Ostblock beschränkt war oder ist.

Mildner, Kirk (1995): Korruption in Russland: Wurzeln, Effekte und Strategien. In: Hellmut Wollmann und Attila Ágh (Hg.): Transformation sozialistischer Gesellschaften. Am Ende des Anfangs. Opladen: Westdt. Verl. (Leviathan : Sonderheft, 15), S. 345–365.
 
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In seinem Buch "Hitlers Volksstaat" hat Götz Aly die Legitimation des NS-Regime auch durch die individuelle und kollektive Bereicherung von "Volksgenossen" am Besitz von politisch und rassisch/religiös Verfolgten erklärt.

Somit hatte die "Exekutive" und die damit zusammenhängenden Enteignungen und Deportationen auch einen sozialen Umverteilungseffekt. Und es gab "Gewinner" und "Verlierer" in diesem System.

Die Stabilität des Stalinismus wird in der Regel auch durch zwei Aspekte erklärt, die zum einen durch die Repression erzeugt wird und zum anderen durch die "Begünstigung" - vor allem - von jungen, nachwachsenden Parteifunktionären.

Dennoch gab es auch einen realen materiellen Umverteilungseffekt im Stalinismus. In diesem Sinne beschreibt Fitzpatrick (vgl. Pos. 3181) wie in den dreißiger Jahren durch die zunehmende Anzahl an Deportierten die Bestände an Möbeln und anderen Gegenständen in den Secondhand-Läden deutlich anwuchsen.

Die durch polizeiliche Maßnahmen deportierten waren gezwungen, ihre Habseligkeiten zu verkaufen und ebenso die Wohnungen zu räumen. Mit dem Effekt, dass diese Gegenstände günstig durch die Bevölkerung erworben werden konnten und der Wohnraum wurde an andere vergeben.

Das förderte ein System von Gewinnern - auch im materiellen Sinne - und schuf gleichzeitig eine zunehmend große Gruppe von stigmatisierten Personen, die aus der normalen "sozialistischen Gemeinschaft" ausgegrenzt wurden. Sofern dennoch Solidarität mit den betroffenen Verwandten, Freunden oder Arbeitskollegen gezeigt wurde, wurde diese ebenfalls einer "repressiven Behandlung" unterworfen.

Somit erzeugte vor allem in den dreißiger Jahren die zunehmende, kampagnenhafte und systematische Verfolgung und Deportierung auch im Stalinismus "Gewinner" und "Verlierer" und baute ein Teil seiner Legitimation auch auf das Wohlwollen bei den "Gewinnern" auf.

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