Zeitzeugenbefragung/Oral History

kleine Abschweifung

Da wird überall fabuliert,was das Zeug hält.
oh ja!! :pfeif:

darf ich aus der Perspektive der Musikwissenschaft etwas zum Thema "Zeitzeugen" beitragen?

es gibt Sammlungen von solchen Berichten, z.B. allerhand Leute, die nachweislich den Komponisten Frederic Chopin persönlich kannten, ja sogar mit ihm befreundet waren (teilweise seine Kollegen, teilweise seine Schüler usw.) Ein Musikwisenschaftler hat sämtliche erhaltenen dieser Zeitzeugenaussagen über Chopin gesammelt, geordnet - die meisten davon sind erst nach Chopins Tod von besagten Zeugen aufgeshrieben worden.

Nun sollte man meinen, dass Freunde und Schüler ein möglichst authentisches Zeugnis ablegen könnten - indes: Pustekuchen! Je größer der zeitliche Abstand der Niederschrift, umso glorifizierender das "Bild".

So kam es, dass in der 2. Hälfte des 19. Jh. der 1849 verstorbene Komponist zum quasi androgynen, mit unbeschreiblicher Feinheit einzig zwischen piapianissimo und piano übervirtuos spielenden Sylphen wurde. Dass weder seine Partituren noch die zu seinen Lebzeiten verfassten "Zeitzeugenaussagen" (Heine, Delacroix, Meyerbeer, Mendelssohn, Schumann, Liszt) diesem Bild entsprachen, juckte hinterdrein niemanden mehr.

Nun ist dieses Image (Imago) vom Menschen, Pianisten und Komponisten Chopin sicherlich post mortem in bester Absicht jeweils verfasst worden - und verfälscht dennoch.

So hat es sich in der Musikwissenschaft eingebürgert, solche Zeitzeugenaussagen mit großem Misstrauen zu betrachten. In aller Regel wird in diesem Bereich (die von wohlmeinenden Freunden überlieferten Superleistungen) der eigene Liebling maßlos überhöht, und das stets - um ein tertium comparationis zu haben - im Vergleich zu einem angeblichen "Feind" des bewunderten Verblichenen (den man ja persönlich erlebt hatte)

Auf diese Weise ist es zu der in der Sache idiotischen Freund-Feind Gegenüberstellung von Chopin und Liszt gekommen - und die wirkt heute noch (sic!) nach...

Pardon für diesen Exkurs in anderweitiges Gelände
 
Das finde ich nicht verwunderlich, die entsprechende Auskunftsbereitschaft ist ein Altersphänomen, genauso wie das Bedeckthalten insbesondere bei einer nicht so rühmlichen Familiengeschichte ein Phänomen des Erwachsenenalters ist.

Mag sein. Das Überraschende war allerdings, dass diese Erwachsenen eben aus jener Generation kamen, die in den 60ern und 70ern die bedingungslose Aufklärung forderte (auch wenn das eigentlich eine unzulässige Pauschalisierung dieser Generation ist).

(Das ist ein Satz! :nono:) Zwei Gegenfragen dazu: wurde denn sicher gestellt, dass die Kinder die Geschichte der Großeltern in der gleichen Form kannten, wie die Befragenden? Wurden die Kinder auch befragt, welche Geschichten sie bereits aus Vorerzählungen kannten, wurden sie befragt, was die Großeltern in dem Zusammenhang genau erzählt haben und welches Bild sie dabei von sich und anderen vermittelt haben?
Das kann ich im Einzelnen nicht genau sagen. Es ist nun auch schon einige Jahre her, dass ich das Buch gelesen habe. Die Feststellung der Auswerten war jedoch, dass die Kinder Geschichten, welche die Großeltern im Familieninterview erzählten im Einzelinterview völlig deformierten, v.a. dann, wenn man aus der großelterlichen Erzählung ein Schuldbekenntnis (welcher Intensität auch immer) entnehmen konnte.


Lass mich raten: die Hilfskräfte hatten nur ein (halb-)strukturiertes Interview in der Hand und waren neben ein paar wohlwollenden Hinweisen nicht weiter zur Gesprächsführung ausgebildet. Richtig? War das mit eine der Zeilsetzungen der Studie, oder war das nur ein Zufallsergebnis?
Auch das kann ich dir nicht mehr genau beantworten.

Aber Oral History hat ,in breiter Streuung ausgewertet, gegenüber offiziellen Dokumenten,Urkunden,Berichten den Vorteil ein pluralistischeres Bild zu zeigen als die vorgenannten Quellen. Man hat halt nicht nur eine oder zwei offiziöse Sichtweisen eines Sachverhaltes sondern viele verschiedene und bei entsprechendem Abgleich und entsprechender Auswertung sehe ich das als Vorteil an.

[...]

Auch offizielle und offiziöse Quellen sind in der Regel nicht neutral sondern verfolgen,m.E. sogar noch stärker als die oral history, eine wertende,oftmals sogar propagandistische Absicht. Man betrachte sich mal,als ganz frühe Beispiele Ramses Bericht über den Hethiterifeldzug, Caesars "bello gallico" oder das Geschreibsel von Tacitus. Da wird überall fabuliert, was das Zeug hält.

Das möchte ich in Teilen abstreiten: Es gibt im 20. und 21. Jhdt., also den Bereichen der Zeithistorie, eigentlich keine Geschichtsschreibung mehr, wie in vorherigen Jahrhunderten. Die Quellen sind andere geworden. Standen in früherer Zeit die monumentarischen Quellen (z.B. Tacitus oder Einhard) im Vordergrund der historischen Überlieferung, so ist diese doch seit dem Ende des 19. Jahrhunderts a) pluralistischer geworden und b) sind es v.a. dokumentarische Quellen, die eben nicht Geschichte und Sichtweisen tradieren sondern die Rechtsakte, Befehle etc. für den Augenblick festhalten in den Mittelpunkt gerückt. Damit soll nun die menschliche Erfahrung keineswegs bagatellisiert werden, da insbesondere die Brisanz von Aktennotizen nur durch die menschliche Erfahrung (und zwar nicht des Historikers, sondern des Zeugen, Teilnehmers, Opfers...) deutlich wird. Was mich stört, ist die Vokabel der offiziösen Sichtweisen. Die gilt für die neuere und neueste Geschichte doch nur noch äußerst bedingt.
 
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Mag sein. Das Überraschende war allerdings, dass diese Erwachsenen eben aus jener Generation kamen, die in den 60ern und 70ern die bedingungslose Aufklärung forderte (auch wenn das eigentlich eine unzulässige Pauschalisierung dieser Generation ist).
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Ja, das ist eine unzulässige Pauschalierung.

Bleiben wir gleich mal dabei.
Diese Erwachsenen wussten nämlich sehr genau was da rauskommt.
Papa war ein Nazi.

Diese einst geforderte "Bedingungslose Aufklärung" betraf immer nur die anderen. Von der eigenen familiären Bräune hat man weniger gesprochen.
So ist halt der Mensch.
Pauschal, lediglich pauschal.
 
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@ElQ: Nachdem deine Kurzbeschreibung von Welzers "Opa war kein Nazi" mein Interesse geweckt hat, habe ich mir das Buch zwischenzeitlich besorgt und gelesen. Ich muss zugeben, dass ich mir komplett anderes erwartet hatte, nämlich einen sozialpsychologischen Studienbericht, stattdessen war die Lektüre eher eine populärwissenschaftliche Ergebnisdarstellung. Nichts desto trotz kann ich die Fragen, die ich an dich gerichtet habe aber mittlerweile beantworten:

Das finde ich nicht verwunderlich, die entsprechende Auskunftsbereitschaft ist ein Altersphänomen, genauso wie das Bedeckthalten insbesondere bei einer nicht so rühmlichen Familiengeschichte ein Phänomen des Erwachsenenalters ist.

Mag sein. Das Überraschende war allerdings, dass diese Erwachsenen eben aus jener Generation kamen, die in den 60ern und 70ern die bedingungslose Aufklärung forderte (auch wenn das eigentlich eine unzulässige Pauschalisierung dieser Generation ist).
Darauf gibt Welzer neben dem von mir genannten zusätzlich den Hinweis, dass es sich beim Schweigen der Kindergeneration um eines der 68er-Phänomene handelt: "...die ehemaligen Wehrmachtsangehörigen und "Trümmerfrauen" meist spontan zusagten, waren es viel eher ihre Söhne und Töchter, die eine Teilnahme verweigerten - oft mit dem Hinweis, ihre Eltern würden über dieses Thema nicht sprechen. Dass sich hinter dieser Struktur ein eigenes Problem der so genannten 68er-Generation mit der NS-Vergangenheit und ihrem sorgsam kultivierten Mythos von der schweigenden Kriegsgeneration verbirgt, verdient eine eigene Diskussion..." (S. 26) In zugehöriger Fußnote verweist er dabei auf eine seiner Veröffentlichungen "Der Mythos der unbewältigten Vergangenheit - Über ein Interpretament der interpretativen Zeitzeugenforschung". Entsprechenden Aufsatz versuche ich gerade aufzutreiben.


(Das ist ein Satz! :nono:) Zwei Gegenfragen dazu: wurde denn sicher gestellt, dass die Kinder die Geschichte der Großeltern in der gleichen Form kannten, wie die Befragenden? Wurden die Kinder auch befragt, welche Geschichten sie bereits aus Vorerzählungen kannten, wurden sie befragt, was die Großeltern in dem Zusammenhang genau erzählt haben und welches Bild sie dabei von sich und anderen vermittelt haben?

Das kann ich im Einzelnen nicht genau sagen. Es ist nun auch schon einige Jahre her, dass ich das Buch gelesen habe. Die Feststellung der Auswerten war jedoch, dass die Kinder Geschichten, welche die Großeltern im Familieninterview erzählten im Einzelinterview völlig deformierten, v.a. dann, wenn man aus der großelterlichen Erzählung ein Schuldbekenntnis (welcher Intensität auch immer) entnehmen konnte.
Es war sicher gestellt, dass die Kinder entsprechende Geschichten kannten, da zunächst das Gruppeninterview und erst im Anschluss daran die entsprechenden Einzelgespräche geführt wurden. Auch die Vorerzählungen wurden entsprechend abgefragt, lediglich das vermittelte Bild wurde nicht abgefragt, allerdings stand das auch ncht im Fokus der Studie.

Lass mich raten: die Hilfskräfte hatten nur ein (halb-)strukturiertes Interview in der Hand und waren neben ein paar wohlwollenden Hinweisen nicht weiter zur Gesprächsführung ausgebildet. Richtig? War das mit eine der Zeilsetzungen der Studie, oder war das nur ein Zufallsergebnis?

Auch das kann ich dir nicht mehr genau beantworten.
Es war eine Zielsetzung der Studie (es gibt wohl auch einen entsprechenden Pretest, der diese Zielsetzung explizit nahelegt, auch den suche ich noch). Sinn und Zweck der Studie war es nicht Zeitzeugeninterviews zu führen, um diese unter historischen Gesichtspunkten quellenkritisch zu bearbeiten, das wurde auch nicht gemacht. Untersuchungsgegenstand der Studie war vielmehr generationenübergreifende Wissensweitergabe, Kommunikation, Erinnerung, Geschitsbilder, Stereotypisierung, Beeinflussung, Tradierung, etc. pp. Die Studie ist mE auch nur mittelbar interessant für Historiker, da sie das grundlegende Handwerkszeug zu Fragestellung, Interpretation und Aussagekraft anhand des Praxisbeispiels Familienerinnerung und Kollektivgedächtnis zum Dritten Reich darstellt, nicht aber eine entsprechende Interpretation anhand der Interviews vornimmt (irgendwie war ich zu anfangs auf dem Tripp, dass dem so wäre, vielleicht auch daher meine abweichende Vorstellung zu dem, was mich erwartet).

Und zur Einordnung dieser "Wissens"-Weitergabe von Großeltern an Enkel, gibt es Untersuchungen über andere Zeiten oder Weltgegenden abseits vom 3. Reich?
Falls du immer noch dabei bist, dein Wissensweitergabekneuel aus zugehörigém Thread zu entwirren: lies das von ElQ empfohlene Buch, dort ist das Thema Wissensweitergabe in Form von Tradierung von Erfahrungen sehr plastisch und definitiv mit passenderen Beispielen als den von mir Kreativitätsnudel erdachten, dargestellt.
 
Falls du immer noch dabei bist, dein Wissensweitergabekneuel aus zugehörigém Thread zu entwirren: lies das von ElQ empfohlene Buch, dort ist das Thema Wissensweitergabe in Form von Tradierung von Erfahrungen sehr plastisch und definitiv mit passenderen Beispielen als den von mir Kreativitätsnudel erdachten, dargestellt.

Schon notiert, es steht sogar in meiner Bibliothek um die Ecke. Von Welzer gibt es auch "Das kommunikative Gedächtnis", kennst du das? Vielleicht ist es lesbarer geschrieben als das ähnlich betitelte von Jan Assmann (dabei vermisse ich jschmidt). Vielleicht werde ich das zuerst lesen, bevor ich an "Opa war kein Nazi" herangehe. Ich verspüre bei Nazithemen noch immer dieses blockierende Sträuben, falls das typisch für meine Spät-68er-Generation wäre, könnte ich einiges über mich selbst erfahren.
 
ElQ., ich glaube,da gehen wir nicht konform.
Jede Gesellschaft hat ihre offiziellen und offiziösen Sichtweisen von historischem Geschehen. Das liegt an der unterschiedlichen Interpretation und Einordnung der Primärfakten und entscheidet darüber,ob und wie diese weitergegeben oder verändert werden.
Ein Beispiel:palästinakonflikt- Du hast zwar bestimmte feststehende Ereignisse und Fakten, aber wenn Du die offiziellen und erst recht die offiziösen Darstellungen von Palästinensern, Israelis und Finnen zu diesem Konflikt vergleichst, wirst Du drei völlig unterschiedliche Sichtweisen dazu finden , die auf der unterschiedlichen Auswahl und Interpretation der vorhandenen Fakten beruhen. und letztere durchaus im Sinne der offiziellen Auffassung auch leicht verbiegen.
Und diese Sichtweisen werden dann in der ex-ante-Betrachtung als Quellen tradiert.
 
Von Welzer gibt es auch "Das kommunikative Gedächtnis", kennst du das?
Nein leider nicht, mein Schwerpunkt zum Thema Wissen war etwas anders gelagert und hatte weniger den Fokus auf Erinnerung von tradiertem Wissen.

Vielleicht ist es lesbarer geschrieben als das ähnlich betitelte von Jan Assmann (dabei vermisse ich jschmidt).
Welzer wäre zumindest aktueller als Assmann und gerade was die neuronale Forschung betrifft, hat sich seit den frühen 90ern doch einiges getan. Wobei ich gerade die Literaturliste von Welzer durchgesehen habe, soweit das auf googlebooks einsehbar ist: grad aktuell ist der nicht unterwegs. Die Klassiker zum Thema Wissen wären eher Cole et al.: "The cultural context of learning and thinking" sowie Mandl/Spada: "Wissenspsychologie". Nur sind die halt schon arg theoretisch. Grundsätzlich müsste der Welzer also reichen, sofern er vergleichbar zu "Opa war kein Nazi" geschrieben ist (liest sich auf jeden Fall so an).
 
Im neuesten Spiegel ist ein Bericht über Abhörprotokolle gefangener deutscher Soldaten.
Ich kam noch nicht dazu ihn zu lesen.
Vielleicht ist er auch online und verlinkbar.
 
Habe ich gerade gesucht, weil ich den Artikel heute gelesen habe. Hab aber nichts verlinkbares gefunden. Den Artikel fand ich sehr interessant, aber auch extrem bedrückend. Jenseits meiner Vorstellungskraft, was da beschrieben wird.
Das dahinter stehende Buch ist meiner Meinung nach auf jeden Fall geeignet die Sichtweise auf den 2. Weltkrieg, vielleicht auch auf Kriege im allgemeinen deutlich zu verändern.
 
Im neuesten Spiegel ist ein Bericht über Abhörprotokolle gefangener deutscher Soldaten.
Ich kam noch nicht dazu ihn zu lesen.
Vielleicht ist er auch online und verlinkbar.

Die Abhörprotokolle sind ja nun schon seit einiger Zeit bekannt.
Das hat aber nur sehr wenig mit dem Thema Oral History/Zeitzeugenbefragung zu tun. Es würde sich aber möglicherweise ein eigener Thread dazu eignen - sofern es eine sinnvolle Fragestellung gibt.
 
Die Abhörprotokolle sind ja nun schon seit einiger Zeit bekannt.
Das hat aber nur sehr wenig mit dem Thema Oral History/Zeitzeugenbefragung zu tun. Es würde sich aber möglicherweise ein eigener Thread dazu eignen - sofern es eine sinnvolle Fragestellung gibt.

Ich habe den Artikel heute auch gelesen. Wie lange die nun schon bekannt sind, weiß ich nicht, es wurde ja so dargestellt, als ob diese Protokolle erst jüngst in diesen Ausmaßen entdeckt und ausgewertet wurden.

Aber ich denke doch, daß es in diesem Thread von Interesse ist, denn das sind doch nun wirklich Zeitzeugen, die unbelastet von historischem Darstellungswillen Rohmaterial liefern.
 
Ich habe den Artikel heute auch gelesen. Wie lange die nun schon bekannt sind, weiß ich nicht, es wurde ja so dargestellt, als ob diese Protokolle erst jüngst in diesen Ausmaßen entdeckt und ausgewertet wurden.

Nun, "seit einiger Zeit" oder "jüngst" sind schwammige Zeitangaben, unter denen sich jeder vermutlich auch situativ bedingt, etwas anderes vorstellt. Forschungsgeschichtlich sind die Auswertungen tatsächlich noch relativ jung, allerdings sind sie nicht tagesaktuell. Neitzel hat schon 2007 ein Buch dazu vorgelegt.

Aber ich denke doch, daß es in diesem Thread von Interesse ist, denn das sind doch nun wirklich Zeitzeugen, die unbelastet von historischem Darstellungswillen Rohmaterial liefern.

Die Problematik der Abhörprotokolle ist eine andere, als die der Oral History. Die Fragestellungen sind andere. Die abgehörten Gespräche sind unmittelbar, Oral History ist per definitionem mittelbar.
 
Nun, "seit einiger Zeit" oder "jüngst" sind schwammige Zeitangaben, unter denen sich jeder vermutlich auch situativ bedingt, etwas anderes vorstellt. Forschungsgeschichtlich sind die Auswertungen tatsächlich noch relativ jung, allerdings sind sie nicht tagesaktuell. Neitzel hat schon 2007 ein Buch dazu vorgelegt.

Das neue Buch ist auch von Sönke Neitzel und kommt am 12. April in die Buchhandlungen. Ich habe eine Buchempfehlung ins GF gestellt, dann kann man dort weiter diskutieren.

http://www.geschichtsforum.de/f194/...m-k-mpfen-t-ten-und-sterben-37659/#post571526
 
Die Problematik der Abhörprotokolle ist eine andere, als die der Oral History. Die Fragestellungen sind andere. Die abgehörten Gespräche sind unmittelbar, Oral History ist per definitionem mittelbar.

Ok, es sind aufgrund ihrer unterschiedlichen Methodik variierende Unterkategorien, die aber trotzdem soviel gemeinsam haben, daß sie beide in diesen Thread passen, und das war ja, wenn ich es recht besehe, der Ausgangspunkt.

Bei beiden handelt es sich um mündliche Aussagen von direkt am Geschehen beteiligten Personen. Daß bei den Soldaten durchaus auch Geschichten kolportiert wurden, die sie ihrerseits nur aus Erzählungen kannten, lasse ich dabei als zu vernachlässigendes Detail beiseite, weil es ja in der Regel von diesen auch so erzählt wird. In beiden Fällen muß der Historiker, entweder durch methodisches Fragen und genaueste Vorbereitung oder eben durch penible Nachbearbeitung, die gewonnenen Erkenntnisse aufbereiten.
Bei keinem weiß man genau, ob er die Wahrheit erzählt, ob er sich selbst belügt oder sich vieles im Nachhinein zurechtbiegt, das muß alles überprüft und gewertet werden. Deshalb bin ich auch nicht der Meinung, daß eine durch methodisch saubere Interviewführung gewonnene Zeitzeugenbefragung, in der der Befragte ja weiß, daß er befragt wird, deshalb per se eine authentischere Quelle ist als das Abhören von Menschen, die nicht darum wissen. Gemeinsam ist also auch beiden "Arten" der Zeitzeugenbefragung, daß sie von Historikern wissenschaftlich aufbearbeitet werden müssen.

Der Spiegel-Artikel versucht auch ein wenig, das zu reflektieren, wie Menschen erzählen, wenn sie sich eines Zuhörers bewußt sind und wie sie ihre Erzählung verändern, je nachdem, wer der Zuhörer ist.

Ich finde also, man sollte das Feld der Oral-History nicht zu eng ziehen und auch diese Art der Zeitzeugenbefragung mit dazu rechnen, natürlich immer im Bewußtsein ihrer besonderen Bedingungen und der daraus resultierenden wissenschaftlichen Methodik (aber das muß man ja nicht stets wiederholen.)
 
Bei beiden handelt es sich um mündliche Aussagen von direkt am Geschehen beteiligten Personen.

Genau hierin doch liegt das Problem. Ich sprach in meinem vorherigen Beitrag von (Un-)Mittelbarkeit.
- die Erinnerung ist viel frischer
- die eigene Erinnerung ist noch nicht so sehr durch Fremderinnerung (kollektive Erinnerung, Publikationen, historische Deutungen etc.) verändert,


In beiden Fällen muß der Historiker, entweder durch methodisches Fragen und genaueste Vorbereitung oder eben durch penible Nachbearbeitung, die gewonnenen Erkenntnisse aufbereiten.
Sicher, aber die Methoden sind andere.

Bei keinem weiß man genau, ob er die Wahrheit erzählt, ob er sich selbst belügt oder sich vieles im Nachhinein zurechtbiegt, das muß alles überprüft und gewertet werden.
Natürlich nicht. Aber im Kontext der Kriegsgefangenschaft wird man sich unter den Kameraden eher zum Helden hochstilisieren. Im Nachhinein wird man eher die eigene Rolle bagatellisieren. Hinzu kommt, siehe oben, die Übernahme fremder Deutungen und Inhalte der kollektiven Erinnerung (siehe mein Bsp. vom Monowitzhäftling, der in der Erinnerung an seine Haft das Tor von zeichnete: Reframing durch kollektive Erinnerung - das wird in der Kriegsgefangenschaft, also unmittelbar nach den Erlebnissen kaum passiert sein).


Deshalb bin ich auch nicht der Meinung, daß eine durch methodisch saubere Interviewführung gewonnene Zeitzeugenbefragung, in der der Befragte ja weiß, daß er befragt wird, deshalb per se eine authentischere Quelle ist als das Abhören von Menschen, die nicht darum wissen.

Wenn, dann eher umgekehrt: Das unmittelbar selbst Erlebte ist authentischer, als das mittelbar selbst Erlebte. Was nicht heißt, dass in beiden Fällen nicht gleichermaßen gelogen werden kann. Aber die Erfahrungen sind andere.

Ich finde also, man sollte das Feld der Oral-History nicht zu eng ziehen und auch diese Art der Zeitzeugenbefragung mit dazu rechnen, natürlich immer im Bewußtsein ihrer besonderen Bedingungen und der daraus resultierenden wissenschaftlichen Methodik (aber das muß man ja nicht stets wiederholen.)
Oral History ist eine Methode. Hier die Trennschärfe zum Abhörprotokoll aufzuweichen bringt methodisch nicht weiter, wirft eher zurück.
 
Genau hierin doch liegt das Problem. Ich sprach in meinem vorherigen Beitrag von (Un-)Mittelbarkeit.
- die Erinnerung ist viel frischer
- die eigene Erinnerung ist noch nicht so sehr durch Fremderinnerung (kollektive Erinnerung, Publikationen, historische Deutungen etc.) verändert,

Dem widerspreche ich ja auch gar nicht. Ich wollte eher ausdrücken, daß ein Zeitzeugenbericht, egal, ob mittelbar oder unmittelbar, eine Quellengattung ist, im Gegensatz zum Beispiel zu einem schriftlichen Marschbefehl, der eine andere Art von Quelle ist.

Natürlich nicht. Aber im Kontext der Kriegsgefangenschaft wird man sich unter den Kameraden eher zum Helden hochstilisieren. Im Nachhinein wird man eher die eigene Rolle bagatellisieren. Hinzu kommt, siehe oben, die Übernahme fremder Deutungen und Inhalte der kollektiven Erinnerung (siehe mein Bsp. vom Monowitzhäftling, der in der Erinnerung an seine Haft das Tor von zeichnete: Reframing durch kollektive Erinnerung - das wird in der Kriegsgefangenschaft, also unmittelbar nach den Erlebnissen kaum passiert sein).

Das kommt darauf an, wie man selbst das Erlebte bewertet. Gerade in diesen Protokollen, wobei ich auch nur den Spiegelbericht kenne, erzählen wohl viele Soldaten in der dritten Person, wobei man hinterfragen muß, ob sie sich dabei von den eigenen Taten distanzieren wollen, ohne darauf zu verzichten, sie zu erzählen.


Wenn, dann eher umgekehrt: Das unmittelbar selbst Erlebte ist authentischer, als das mittelbar selbst Erlebte. Was nicht heißt, dass in beiden Fällen nicht gleichermaßen gelogen werden kann. Aber die Erfahrungen sind andere.

Das verstehe ich nicht ganz. Zwei Menschen sitzen, sagen wir mal, im gleichen Luftschutzkeller und erleben eine Bombardierung. Der eine erzählt das unmittelbar danach jemanden, der das aufzeichnet, der andere wird viele Jahre später unter den Bedingungen der Oral History befragt. Natürlich erzählen beide unterschiedliche Geschichten, wie ja von Dir auch mehrfach ausführlich begründet wurde. Aber trotzdem haben sie doch die gleiche Erfahrung gemacht? (wenn wir jetzt mal außer acht lassen, daß jeder Mensch nur individuelle und damit einzigartige Erfahrungen machen kann)

Oral History ist eine Methode. Hier die Trennschärfe zum Abhörprotokoll aufzuweichen bringt methodisch nicht weiter, wirft eher zurück.

Ich habe nicht vor, die Trennlinie zwischen den Methoden aufzuweichen, und ich hoffe, das habe ich nicht so geschrieben. Da der Thread aber Zeitzeugenbefragung/Oral History heißt, bleibe ich mal stur beim Ausgangspunkt und meine, auch eine solche Zeitzeugenbefragung sollte hier diskutiert werden. Eine Diskussion wird ja oft dadurch interessanter, daß man verschiedene Aspekte gegenüberstellt und zusammenführt oder trennt.
 
Ich habe nicht vor, die Trennlinie zwischen den Methoden aufzuweichen, und ich hoffe, das habe ich nicht so geschrieben. Da der Thread aber Zeitzeugenbefragung/Oral History heißt, bleibe ich mal stur beim Ausgangspunkt und meine, auch eine solche Zeitzeugenbefragung sollte hier diskutiert werden. Eine Diskussion wird ja oft dadurch interessanter, daß man verschiedene Aspekte gegenüberstellt und zusammenführt oder trennt.

Abhörprotokolle sind meiner Ansicht nach keine Zeitzeugenbefragungen. Bei Zeitzeugenbefragungen weiss der Gefragte das jemand seine Worte auf Tonband aufnimmt, bei den Protokollen wussten es die Menschen nicht.
 
Abhörprotokolle sind meiner Ansicht nach keine Zeitzeugenbefragungen. Bei Zeitzeugenbefragungen weiss der Gefragte das jemand seine Worte auf Tonband aufnimmt, bei den Protokollen wussten es die Menschen nicht.

D'accord. Zeitzeugenbefragung laufen durch einen "Bewußtseinsfilter" in Kenntnis des späteren Ganges der Geschichte, hjwien wies in seinen Postings darauf hin. Abhörprotokolle sind da authentischer, aber es sollte, wenn man damit arbeitet, was ich noch nie getan habe, die psychische Situation des Abgehörten berücksichtigen, so das überhaupt im Nachgang geht. Streß, vertraut er seinem Gesprächspartner, ist das was er erzählt nachprüfbar und verifizierbar oder überhaupt prima facie glaubhaft etc. (also das Repertoire der Quellenkritik).

Hinzu kommt der "Ergebnisfilter" der abhörenden Stelle; Prüfungsziel, ist nur das überliefert, was die abhörende Stelle auch "hören" will (Vernichtungsprotokolle von Aufnahmen, Auswahlkriterien der abgehörten Personen usw.).

Ähnliche Probleme treten m.E. auf, wenn man Protokolle von psychologischen Sitzungen auswertet. Von Verhörprotokollen ganz zu schweigen.

M.

P.S.: Ich habe Verhörprotokolle aus der Vorbereitungsphase des Nürnberger Hauptkriegsverbrecher Prozesses gelesen (3. Garnitur, Zeugenaussagen und Affidavits). Ich habe mich manchmal gefragt, stimmt mein Uz und die Aussage überhaupt überein.
 
Was ich über die erwähnten Abhörprotokolle weiss, ist dass es sich überwiegend über höher gestellte Soldaten ( abgeschossene Piloten, Wehrmachtsoffiziere ) handelte, deren Gefangenschaft bei fortlaufendem Krieg sicherlich schwer mit ihrem Ehrencodex vereinbar war. Da galt es sicherlich die geringe Zeit Ihres "Wirkens" herauszustellen.

Aber deshalb sind diese Protokolle keine Quelle, die man vernachlässigen sollte. Jeder Blick aus einer anderen Perspektive hilft Licht ins Dunkel zu bringen.

Ich finde es gut das Oral-History heute thematisiert wird.
Manch ein Historiker hat früher derartige Quellen bei antiken Schriftstellern als Hofklatsch abgetan. Aber selbst der ist interessant...

Gruss
jchatt
 
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