Die Dialekte oder die Formen des Patois in der französicher Schweiz sind das Resultat eigenständiger Weiterentwicklungen des im jeweiligen Gebiet gesprochenen Lateins . Mit Ausnahme der jurassischem Dialekt, welche die Franche Comté sprachgeografisch gewissermassen in die Schweiz hinein verlängern und zu der nordfranzösichen Sprachgruppe, der Langue d'oïl, gehören, zählen sie zum Frankoprovenzalischen, einer romanischen Sprache, die zwar dem Französischen nahe verwandt ist, sich aber doch von diesem unterscheidet. Der frankoprovenzal. Mundartraum erstreckt sich längs der alpinen Transitrouten zwischen dem Aostatal und Lyon. In der Schweiz umfasst er die - in Bezug auf die sprachl. Entwicklung gesehen - konservativsten Gebiete des Galloromanischen überhaupt: In D.n des Mittelwallis erhielten sich die lat. Qualität der Auslautvokale (andernorts wurde das lat. zum [y]) und teilweise, wie im Altfranzösischen, auch Reste der Deklination im Zweikasussystem.
Die Dialekte der französischen Schweiz unterscheiden sich infolge unterschiedlicher Entwicklungen erheblich voneinander, weshalb sie häufig ausserhalb des eigenen Verbreitungsgebiets nicht mehr verstanden werden. Diese Aufsplitterung, die auf das Fehlen von Normen, einer schriftl. Tradition und jeglicher übergreifenden Instanz zurückzuführen ist, hat wiederum wesentlich zum Bedeutungsverlust und schliesslich zum Aussterben der Dialekte in weiten Teilen der französischen Schweiz im 20. Jh. beigetragen. Dabei spielte allerdings auch das Verbot der Dialekte in der Schule eine Rolle, das seit Beginn des 19. Jh. besteht. In den wenigen Gebieten, in denen noch Dialekt gesprochen wird (Ende des 20. Jh. im Wallis 6,3% der Bevölkerung, in Freiburg 3,9%, im Jura 3,1%), werden die lokalen und regionalen Sprachtraditionen heute nicht mehr automatisch von einer Generation an die nächste weiter gegeben; eine Ausnahme bildet diesbezüglich die Walliser Gem. Evolène, in welcher der lokale Dialekt in einigen Familien immer noch tradiert wird.
Die Erhaltung des Patois, die auch in der 1976 redigierten jurass. Verfassung verankert ist, ist das Ziel der Fédération romande et interregionale des patoisants, die nach einer langen, schon 1947 einsetzenden Diskussion 1954 unter dem Namen Conseil des patoisants romands gegründet wurde. Diese Bemühungen und die gelegentl. Versuche, die Mundarten zu unterrichten, reichten aber nicht aus, um die D. zu beleben. Die Forschung begann auf Initiative von Louis Gauchat anfangs des 20. Jh., den reichen Wortschatz der versch. Dialekttraditionen zusammenzutragen. In dem überaus umfangreichen "Glossaire des patois de la Suisse romande", das aus diesen Bemühungen entstand, sind seit 1924 mehr als 5'000 Seiten publiziert worden.
In der Westschweiz entwickelte sich nie eine eigentl. Schrifttradition auf der Grundlage der angestammten Dialekte; diese wurden immer hauptsächlich mündlich gebraucht. Im MA (13.-15. Jh.) richteten sich die in der Volkssprache abgefassten Verwaltungstexte in Freiburg, Neuenburg, Genf und im Jura nach den Sprachmodellen der kulturellen Zentren im benachbarten Frankreich (Dijon, Lyon), doch wiesen sie auch einige lokale Eigentümlichkeiten auf (Scripta "para-francoprovençale"). Bern liess die amtl. Texte, die für seine Untertanen im Waadtland bestimmt waren, ins F.e übersetzen. Im Wallis wurden die Schriftstücke der Rechtspflege und teilweise auch der Verwaltung bis zur Franz. Revolution lateinisch verfasst. Ab dem 16. Jh. entstanden sporadisch Texte in Frankoprovenzalisch (Dialektliteratur ). Abgesehen von diesen wenigen Ausnahmen ist die gesamte Westschweizer Literatur seit ihren Anfängen (Otto III. von Grandson) in franz. Sprache gehalten. Mit ein Grund für diese Entwicklung war die Reformation, da Calvins Wirken namhafte franz. Humanisten und Drucker nach Genf zog.
Wie in den meisten französischsprachigen Gebieten verbreitete sich das Französische auch in der Westschweiz auf schriftl. Weg; die Kenntnis der Sprache musste durch bewusstes Lernen mit Hilfe von Büchern erworben werden. Bevor das Französisch sich als Sprache für die spontane Konversation durchsetzte, wurde es v.a. beim lauten Vorlesen verwendet. Die während der Reformation entstandene Schultradition in den ref. Kantonen trug dazu bei, dass man auch in den benachbarten Ländern Genf, Neuenburg und Lausanne als Zentren der francité wahrnahm, in denen ein gepflegtes F. gesprochen werde. Der Französischunterricht für Ausländer erlangte grosse Bedeutung, und im 19. Jh. beschäftigten viele vornehme Familien in Europa Genfer, Waadtländer und Neuenburger Gouvernanten.
Ständig bemüht um eine möglichst prestigeträchtige Sprache, sind die Westschweizer Intellektuellen stets darauf bedacht, die Reinheit des F.en zu bewahren. Der Kult des "guten" F. hat in der Westschweiz eine lange Tradition. In sprachpurist. Schriften, die in der ersten Hälfte des 20. Jh. in der Westschweizer Presse veröffentlicht wurden, tritt eine heftige Deutschfeindlichkeit zutage. Westschweizer Puristen kämpften mit allen Mitteln gegen echte und vermeintl. Germanismen und postultieren eine idealisierte Hochsprache, die sich allein am F. der Hauptstadt Paris orientiert. Gegenüber Regionalismen nahmen sie eine zwiespältige, manchmal unverhohlen feindl. Haltung ein, wobei sie im Mundartgebrauch - zu Unrecht - eine Bedrohung der sprachl. Reinheit sahen. Diese Sprachpolitik erweckte bei vielen Romands, die überzeugt waren, nicht das "richtige" F. zu sprechen, Schuldgefühle. Zudem verknappte sie die Ressourcen, aus denen sich die Weiterentwicklung der Sprache speist: Mit dem volksnahen, dem spontanen mündlichen Gebrauch entlehnten Sprachgut liess sich die Alltagswirklichkeit in mancherlei Hinsicht besser zum Ausdruck bringen als mit dem abgehobenen "Buchfranzösisch", das oft als die einzig "gute" Sprache galt.
Regionalfranzösisch: Besonderheiten und Funktionen
Die langen Traditionen der Schriftsprache und der eigenständigen schul. Vermittlung erklären, weshalb sich in der Westschweiz einige vom Standardfranzösisch der Hauptstadt abweichende Archaismen erhalten haben. Die Bezeichnungen der drei Tagesmahlzeiten, déjeuner (Frühstück), dîner (Mittagessen) und souper (Abendessen), entsprechen dem Sprachgebrauch in Frankreich bis Anfang des 19. Jh. In der Aussprache sind die verlängerten Schlussvokale in Wörtern wie "journée" oder "amie", wie sie in der gepflegten Aussprache des Pariser F.en bis ins 18. Jh. üblich waren, teilweise gebräuchlich geblieben. Selbst der scheinbare Germanismus il a aidé à sa mère statt il a aidé sa mère (er half seiner Mutter) erweist sich bei genauerem Hinsehen als ein durch den Kontakt mit dem Deutschen gestärktes Relikt des alten Hochfranzösischen.
Der Gebrauch der franz. Sprache in der Westschweiz zog viele Anpassungen an die örtl. Verhältnisse nach sich. Helvetismen wie votation (Abstimmung) oder bourgeoisie (Bürgergemeinde) bezeichnen Phänomene aus dem polit. Leben, die in Frankreich so nicht vorkommen. Dies gilt auch für einige Germanismen wie les Neinsager. Der Ausdruck numéro postal (Postleitzahl) wurde in der Schweiz schon benutzt, bevor Frankreich, sich über den Sprachgebrauch in der übrigen Frankofonie hinwegsetzend, den Begriff code postal einführte. Erst seit den letzten Jahrzehnten des 20. Jh. werden auch schweiz., belg. und kanad. Ausdrücke in die franz. Wörterbücher aufgenommen.
Ursprünglich war F. der Soziolekt der Pariser Oberschicht. Um die kommunikativen Bedürfnisse der diversen französischsprachigen Bevölkerungsgruppen abzudecken, musste diese Sprache in grossem Umfang Entlehnungen bei Dialekten und Regionalsprachen machen. Die meisten Ausdrücke für Phänomene aus den alpinen Regionen wie luge (Schlitten), varappe (Klettern), moraine (Moräne), névé (Firn), sérac (Eiszacken) und avalanche (Lawine) stammen beispielsweise aus dem Frankoprovenzalischen, aus Savoyen oder aus der Westschweiz. Einige gelangten über Rousseau in die Sprache der franz. Literatur. Die angestammten Mundarten erlaubten die präzise Beschreibung und Bezeichnung der materiellen Welt. Dieser Vorzug ist bis zu einem gewissen Grad auf das Regionalfranzösische übergegangen, das eine Ergänzung zur Hochsprache bildet. Solange regionale Besonderheiten wie carnotzet (Weinstübchen), raccard (Speicher) und bisse (Wasserkanal) im Wallis, armailli (Senn) im Greyerzerland und taillaule (spezielles Hefegebäck) in Neuenburg existieren, sind auch die entsprechenden Bezeichnungen notwendig.
Neben seiner Hauptaufgabe, eben dem Bezeichnen regionaler Besonder- und Begebenheiten, hat das Regionalfranzösische auch eine identitätsstiftende und symbol. Funktion. Diese ist der Grund, weshalb in der Westschweiz hartnäckig an einigen Ausdrücken festgehalten wird, für die es im Standardfranzösischen exakte Entsprechungen gibt: galetas statt grenier (Estrich), pive statt cône du sapin (Tannzapfen) usw. Häufig wird quatre-vingts statthuitante verwendet, während sich septante und nonante neben soixante-dix und quatre-vingt-dix behaupten. Die Möglichkeit der Abgrenzung erklärt auch die liebevolle Pflege der zwischen den einzelnen Westschweizer Kantonen bestehenden sprachl. Unterschiede. Durch das Verschwinden der Dialekte verliert das Regionalfranzösische allerdings zunehmend den Nährboden. Dementsprechend lässt sich im Sprachgebrauch der Westschweizer Jugendlichen eine Abneigung gegen regionale Ausdrücke und das Auftreten von - häufig dem Englischen entlehnten - Wörtern und Wendungen aus der jeweils gerade angesagten Trendsprache beobachten.
Quelle: Historisches Lexikon der Schweiz