Was waren die Gründe für den langen Fortbestand des OR bis zum 18. Jh.?

Dieter

Premiummitglied
Stimmt Mehmet Ali war albanischer Herkunft. Übrigens ein sehr fähiger Mann, der das osmanische Stammland immer wieder bedrohte und nur von den Westmächten daran gehindert wurde, bis nach Istanbul vorzudringen. Sicherlich waren in der Verwaltung auch Araber eingebunden. Erst nach und nach wurde eine Türkifizierung des bunten Völkergemisches des O.R. angestrebt, was letztlich auch zum Untergang beitrug!


Es ist eigentlich erstaunlich, dass dieses riesige multinationale Osmanische Reich überhaupt rund 450 Jahre überdauerte. Vermutlich etwa 30% seiner Einwohner waren keine Moslems (nahezu der ganze Balkan einschließlich Ungarns), Bürokratie und Verwaltungsstruktur sind eher als "locker" zu bezeichnen, wenn man einmal Staaten wie England oder Frankreich zum Vergleich heranzieht, und von einer blühenden Wirtschaft im absolutistischen Sinn kann nur eingeschränkt die Rede sein. Eine "Staatsidee", die alle Völker und Nationen hätte verbinden können, gab es ebenfalls nicht.

Was war also der Kitt dieses Reichs? War es lediglich die nackte miliärische Gewalt, die es zusammenhielt?
 
Hi Dieter,
endlich mal jemand, der sich für das Osm. Reich interessiert... ;)

Du stellst eine Frage, die zunehmen in der Historie gestellt wird: Nicht mehr allein die Frage nach dem "Rise and Fall" von Imperien, sondern die Frage, warum sie so lange überdauerten:
Multiethnische Großreiche im langen 19. Jahrhundert: Großbritannien, Habsburg, Rußland und Osmanisches Reich im Vergleich

Was meinste mit "lockerer" Verwaltung?
Eine "Staatsidee" gab es nicht?
War es nicht die Dynastie der Osmanen, die als Kitt diente, und lange Zeit ein erfolgreiches Gegengewicht gegen den später dann aufkommenden Nationalismus darstellte? (am spätesten haben sich dieser Idee die muslimischen Untertanen der Türken, Araber, Kurden, usw. angeschlossen)
Die relative Autonomie in den millets führte vielleicht auch erst später zu größerer Unzufriedenheit. Die nicht-muslimischen Eliten wurden in den Staatsapparat integriert, auch ein Grund.
Jedenfalls war nicht das Militär der Hauptgrund. Das ist eine Ansicht, aus den letzten beiden Jahrhunderten, die inzwischen relativiert und revidiert ist. Also die Betonung des Militärischen im Osmanischen Reich. (Früher sah man das Reich primär als einen Militärstaat - nun nicht mehr.)
Hingegen ist die Organisationskraft der Osmanen einer der Hauptgründe, für die lange Dauer seines Reiches. Und die einhergehende Gerechtigkeit. Das funktionierende Justizwesen. Ich denke, Gerechtigkeit ist einer Hauptgründe für den langen Bestand (relativ gesehen zu der damaligen Zeit). Siehe unten den Abschnitt über die Bauern.
Es war zeitweise das bestorganisierte Staatswesen in der westl. Welt (Ostasien kenne ich zu der Zeit nicht). Zeitgenössische abendländische Beobachter sahen im Osm. Reich geradezu das Muster, das Vorbild eines leistungsfähigen zentralisierten Absolutismus.
Durch Kataster-Erfassung wurde das Land gerecht vermessen, da konnte man dann als Grundeigentümer auch vor dem Richter klagen, wenn das Land von anderen unrechtmäßig genutzt wurde. Genaue Steuerregister machen einen Großteil der osm. Archive aus. Bemerkenswert, für diese Zeit. Jeder Bürger konnte direkt beim Sultan eine Petition, eine Klage einreichen (die er selber zwar meist nicht gesehen hat, aber die oft an der Hohen Pforte bearbeitet wurde), so hat z.B. mal ein Dorfvorsteher eine Klage eingebracht, und ein paar Tage später ist ein Gruppe von Verwaltungsbeamten aus Istanbul in sein Dorf gezogen, um die Sache zu klären. (Diese Praktiken sind natürlich abhängig von der jeweiligen Zeit)
Es wurden Lebensmittelkontrolleure in den Basaren eingesetzt, damit die Qualität der Nahrungsmittel immer einen Standard entsprach, und niemand auf die Idee kommt, die Nahrung zu panschen (Gammelfleisch, Wein mit Wasser vermengen, etc.) Dazu auch Beamte, die die Gewichte eichten, damit auch da ein Schummeln erschwert wurde. usw.
Dazu die Möglichkeiten des sozialen Aufstiegs, eine Errungenschaft, die viele sicherlich positiv an dem Osm. Reich fanden.
Vertikale Bindungen hatten im Allgemeinen Vorrang vor horizontalen.
Dazu schreibt ein abendländischer Gesandter Mitte des 16. Jh. völlig erstaunt:
"Geburt unterscheidet hier keinen von den anderen, Ehre wird jedem nach dem Maße seinen Standes und Amtes erwiesen; da gibt es keinen Rangstreit, die Stelle, die man versieht, gibt jedem seinen Rang. Ämter aber und Stellen verteilt der Sultan selbst. Dabei achtet er nicht auf Reichtum, nicht auf den nebelhaften Adel, nicht auf jemandes Ansehen oder auf das Urteil der Menge: sondern die Verdiente zieht er in Betracht, Sitten, Begabung und Eignung sieht er an; nach seiner Tugend wird jeder ausgezeichnet"

Bernard Lewis schreibt:
Bauern verfügten i.d.R. erblichen Besitztitel, der gemäß osm. Brauch vor Zerstückelung und Eigentumskonzentration geschützt war. Damit größere Freiheit, als unter früheren christl. Herrschern. Steuern auf niedrigeren Niveau festgesetzt, und, verglichen mit ehemaligen und benachbarten Regimen humaner eingetrieben. Wohlstand und Sicherheit trugen erheblich dazu bei, die Bauern mit anderen, weniger attraktiven Aspekten osm. Herrschaft zu versöhnen, und waren weitgehend für den langen Frieden in den osm. Provinzen verantwortlich, bis nationalistische Ideen aus dem Westen für eine Explosion sorgten. Noch im 19. Jh. äußern sich europäische Balkanbesucher positiv über das Wohl und die Zufriedenheit der Bauernschaft, gemessen an den Verhältnissen in Teilen des christl. Europa.

und S. Faroqhi schreibt:
"Man kann also im osmanischen Staat des 17. und 18. Jahrhunderts ein Zurücktreten des Herrschers und ein Hervortreten der verschiedenen Amtsträger feststellen. In der älteren Forschung hat diese Entwicklung oft als ein Symptom osmanischen Niedergangs gegolten. Heute ist diese Bewertung weniger verbreitet. Man erinnert sich der Feststellung Max Webers, daß nämlich Bürokratisierung und Routinisierung typisch für neuzeitliche Herrschaftsausübung sind. Dementsprechend hatte der osmanische Staat stabile Institutionen herausgebildet. Die Haushalte von Wesiren und Gouverneuren rekrutierten Nachwuchs für den Staatsapparat; daneben aber entfaltete auch die Bürokratie eine eigene Dynamik. Man kann es durchaus als eine Stärke des osmanischen Staates betrachten, daß dieser jetzt zur Not ohne einen aktiven Sultan auskommen konnte."

Es ist auch so, dass der Keim des Niederganges sicherlich schon im 16. Jh. zu suchen ist, die größte Reichsausdehnung erst Ende des 17. Jh. stattfand, jedoch es erst im letzten Drittel des 18. Jh. zu einem wirklichen Niedergang kam, denn dazwischen (16.-18. Jh.) gab es immer ein Auf und Ab, so dass man kaum von Niedergang sprechen kann, sondern eher von Stagnation. So zumindest die neuere Einteilung der osm. Geschichte in der Wissenschaft.

Als ein Beispiel, hier mal ein weiteres Faroqhi Zitat:
"Zwischen etwa 1720 und 1760–65 erlebten Handel und Gewerbe in vielen Zentren des osmanischen Reiches eine Epoche der Expansion. Auf dem Balkan gelang so manchem Maultiertreiber der Schritt zum Spediteur oder Fernhandelskaufmann, der die Leipziger Messe besuchte. Der erste Schritt in dieser Richtung war es oft, daß die Produkte winterlicher Heimarbeit im Frühling von den Maultiertreibern mitgenommen wurden, um sie, oft auf weit entfernten Märkten, zu verkaufen. So entwickelte sich etwa im heutigen Südbulgarien, in der Gegend von Plovdiv, die Weberei grober und fester Wolltuche. Dabei gelang es den örtlichen Kaufleuten, ihren Umsatz durch Strategien, die wir heute als aggressives Marketing bezeichnen würden, ganz erheblich zu steigern. Aber auch in anderen Teilen des Osmanischen Reiches zeigten sich die Zeichen wirtschaftlicher Expansion. In den Häfen stellten europäische Kaufleute fest, daß ihnen besonders christliche Einheimische harte Konkurrenz machten."

Und ab Ende des 18. Jh. trugen die rivalisierenden eifersüchtigen Interessen der abendländischen Staaten auch ihren Beitrag zum Erhalt des Osm. Reiches bei. Einerseits beuteten sie es in zunehmenden Maße aus (besonders beschleunigt ab Mitte des 19. Jh.), andererseits achteten sie penibel darauf, dass kein anderer sich der völligen Kontrolle des OR bemächtigte oder gar eroberte, wie es z.B. Russland teilweise beabsichtigte.

Gibt es noch mehr Gründe für die lange Dauer des osmanischen Reiches?

Ciao und LG, lynxxx
 
Es war zeitweise das bestorganisierte Staatswesen in der westl. Welt (Ostasien kenne ich zu der Zeit nicht). Zeitgenössische abendländische Beobachter sahen im Osm. Reich geradezu das Muster, das Vorbild eines leistungsfähigen zentralisierten Absolutismus.


Auf welchen Zeitraum bezieht sich das denn ? Ich würde das OR für das 15./16. Jh. eher als das am besten zentralisierte Staatswesen bezeichnen. Wenn ich nach Norditalien, Burgund, Frankreich, in die habsburgischen Länder oder nach England schaue, dann erkennt man hier seit dem Spätmittelalter eine zunehmende Professionalisierung und immer höhere Effizienzsteigerung der staatlichen Organisation. Das kann man schön an der zunehmenden Differenzierung der Ministerialbürokratie sehen, also Herausbildung von Finanz-, Justiz-, Kriegsministern etc., samt eigenen Bürokratien.

Das ganze geht einher mit der Herausbildung der modernen Staatlichkeit:
http://www.imprint.co.uk/idealists/HPT_23.pdf

Ich kann also nicht nachvollziehen, warum das OR das bestorganisierte Staatswesen gehabt haben sollte. Eher würde ich sagen, dass sowohl europäische Staaten als auch der osmanische Staat im Spätmittelalter / der Frühen Neuzeit eine sehr leistungsfähige Organisation aufwiesen. Also ohne diese wertende Einschränkung.
 
Das stammt (in etwa, genaue Stelle nicht gefunden) aus Josef Matuz ("Das OR") und Bernard Lewis: Stern, Kreuz und Halbmond. 1997.
Weiter schreibt letzterer wörtlich:

"Während manche von den tiefverwurzelten Privilegien der alten europäischen Ordnung überzeugte Beobachter das Sultanat für ein Beispiel willkürlicher Macht hielten, gab es andere, die dem neuen europäischen Zeitalter des aufgeklärten königlichen Despotismus im Nationalstaat freudig entgegenblickten und die Türkei als ein Vorbild für die moderne Monarchie einschätzten.
Genau zu dem Zeitpunkt, als Machiavelli und andere europäische politische Denker die Schwäche des französischen Königs mit der Macht des türkischen Sultans verglichen, setzten durch die Ironie des Schicksals in beiden Ländern Prozesse ein, die die Rollen der beiden Monarchen allmählich umkehrten."

Der Grad der Organisationsfähigkeit lässt sich vielleicht auch anhand der Schriftstücke der Staatskanzlei indizieren: weit über 3000 Schriftstücke wurden jährlich (im 16.Jh.) verfasst. Weit mehr als alle europäischen Reiche (Ausnahme: päpstliche Kanzlei erreichte auch in etwa diese Stückzahlen).

Ich finde grade nicht die entsprechenden Stellen meiner Literatur, wo abendländische Diplomaten, Reisende, Dolmetscher, Abenteurer, etc. die Organisation des Osm. Reiches rühmen.
Auch die exakte Bewertung, als bestorganisiertes Reich seiner Zeit finde ich nicht so schnell wieder, aber sei sicher, diese Aussage stammt aus kompetenter Feder und nicht aus P.M. ... ;)

Aber meiner Erinnerung nach stand hier auch was darüber:
IDEAL KINGSHIP IN THE LATE MEDIEVAL WORLD: THE OTTOMAN CASE

Es waren sicher auch Pamphlete, die das osm. Reich überhöhten, um die Gegenseite ("Protestanten", "Katholiken") zu erniedrigen - aber nicht nur. Es wandelte sich auch das "Türkenbild" von der "Türkenfurcht" zu eher bewundernde Schriften. Oft ist auch eine Ambivalenz zu bemerken, zwischen Abscheu und Bewunderung. (Speziell zu dem negativen "Türkenbild" hab ich im Forum auch ne Dissertation verlinkt.)

Hier ein Auszug, nach der Wandlung der abendländischen Sicht, von den Hasspredigten, hin zu etwas differenzierterer Betrachtung, zu Zeiten, wo die erste osm. Expansionswelle vor Wien erlahmte:

Cardini, Franco: Europa und der Islam: Geschichte eines Mißverständnisses. München: Beck, 2000.:

"Den Türken jedoch eilte ein ganz besonderer Ruf voraus. Sie galten als tapfere, tüchtige und disziplinierte Kämpfer. Verglichen mit dem desolaten Zustand der korrupten und ungeordneten europäischen Truppen des 16. und 17. Jahrhunderts war das Heer des Sultans ein Musterbild an Ordnung, Mäßigung und Disziplin. Die Türken galten zwar als grausam, man schrieb ihnen aber nicht jene barbarische Zerstörungswut zu, die die Europäer vor den Militärreformen des 18. Jahrhunderts an den Tag legten. Bald gab es nicht nur Chronisten aus dem militärischen Fach.
Diplomaten, Kaufleute, Reisende und Gläubige – alle waren sich in einem Punkt einig: Die Türken, in der Schlacht so furchterregend und unerbittlich, in der Unterdrückung und in der Anwendung des Rechts so hart und streng, erwiesen sich im alltäglichen und privaten Leben als loyal, ehrenhaft, aufrichtig, mildtätig, bescheiden und gastfreundlich.
Zahlreiche Berichte und Schilderungen von und über Renegaten popularisierten diese positiven Eigenschaften der Türken in einer Weise, daß der Übertritt vom Christentum zum Islam als nahezu plausibel und gerechtfertigt erschien. «Türke werden» – sei es aus Verzweiflung, aus Enttäuschung oder aufgrund äußerer Lebensumstände – wurde zu einem Leitmotiv der europäischen und mediterranen Geschichte des 16. und 17. Jahrhunderts."

Der Gesandte Salomon Schweigger schreibt im 16. Jh.:
"Die Kinder werden nicht in solcher harten Zucht und großer Forcht gehalten wie die Teutschen, die mit Pochen, Poltern, Schlagen und Stoßen den Kindern alle Lust zum Lernen nehmen. Sie strafen zwar die Kinder auch, aber mit Bescheidenheit, und können mit ihnen Geduld haben, welches dann die fürnehmste Tugend an einem Lehrmeister ist."

und die Autorität des Sultans bewundernd:
"„Summa, man sahe allenthalben und bei eim jeden ein sehr großen Gehorsam und Forcht gegen ihren Padeschach oder König und gegen ihren Vorgesetzten, von welchen unsere Hofjungkern und Hofgesind wohl möchten in diesem Fall Hofzucht lernen...“"

Hier noch ein interessantes Dokument, das die Wechselwirkungen zwischen Habsburg, Europa und dem osm. Reich darstellt:
http://homepage.univie.ac.at/martin.scheutz/php/downloads/kurzuaosmaneneinleitung.pdf

"Der Wandel in der Beurteilung des Osmanischen Reiches wird von Gräf vor allem historiographiegeschichtlich verankert. Er streicht dabei die historiographische Wende in den 70er und 80er Jahren des 20. Jahrhunderts besonders heraus und betont die Rolle der Propaganda für die Perzeption des Osmanischen Reiches durch die HistorikerInnen Mittel- und Westeuropas. Ein weiterer Argumentationsstrang seiner Ausführungen ist ein diplomatiegeschichtlicher, wobei er die These vertritt, daß sich das europäische diplomatische Instrumentarium (Gesandtschaften, Diplomatie etc.) vor allem im Austausch mit dem Osmanischen Reich entwickelte, wobei Istanbul die Rolle eines zentralen Schauplatzes europäischer Mächtepolitik zukam. So kommt Gräf zu dem Schluß, daß „das säkulare Mächteeuropa […] nicht nur im Kampf der Konfessions- und später Nationalstaaten untereinander, sondern auch in der Auseinandersetzung mit dem nicht-christlichen Osmanenreich“ (S. XXX) entstand."


Wie dem auch sei, wenn dich das "best..." stört, belassen wir es bei "einem der best...", damit ist man auf der sicheren Seite, wenn man selber keine Vergleichstudien erstellt hat, oder den genauen Wortlaut grad nicht findet... ;)

Schönen Samstag noch.
LG lynxxx
 
Genau zu dem Zeitpunkt, als Machiavelli und andere europäische politische Denker die Schwäche des französischen Königs mit der Macht des türkischen Sultans verglichen ...


Ich vermute mal mit "Schwäche" ist die Ursache der Zentralisierungspolitik der frz. Könige gemeint, ein Frühabsolutismus der zu Machiavellis Zeiten mächtig auf dem Vormarsch ist. Obwohl Miachiavelli in besagtem Abschnitt (4. Kapitel des "Fürsten") Frankreich durchaus bessere Karten bescheinigt als dem osmanischen Reich.

Der Grad der Organisationsfähigkeit lässt sich vielleicht auch anhand der Schriftstücke der Staatskanzlei indizieren: weit über 3000 Schriftstücke wurden jährlich (im 16.Jh.) verfasst. Weit mehr als alle europäischen Reiche.


Was sich wohl auch hauptsächlich dadurch erklären lässt, das die europäischen Verwaltungen statt Schriftstücke anzufertigen, vermehrt auf den Buchdruck setzten. Sehr schnell nach dessen Erfindung wurden Amtsblätter, Urteile, Rechtsbücher, Proklamationen und staatliche Erlasse gedruckt veröffentlicht/übersandt, und nicht mehr per Hand kopiert. Bei den Osmanen hingegen blieb die handschriftliche Tradition noch sehr lange erhalten und der Buchdruck setzte sich auch erst sehr spät durch.

Verglichen mit dem desolaten Zustand der korrupten und ungeordneten europäischen Truppen des 16. und 17. Jahrhunderts war das Heer des Sultans ein Musterbild an Ordnung, Mäßigung und Disziplin.


Ich glaube Militärhistoriker für europäische Armeen wären mit dieser pauschalen Aburteilung wenig zufrieden. Das kann man vielleicht für jene Armeen sagen mit denen die Osmanen direkt zu tun hatten, also Serben und Ungarn. Aber ich vermute, dass sich beispielsweise schon in England und Frankreich seit der Spätphase des 100-jährigen Krieges durchaus vieles in Sachen Ordnung, Mäßigung und Disziplin zugunsten einer hohen Qualität verändert hat und ständig weiterentwickelte. Neben dem Kern eines stehenden Heeres wurden zwar auch Söldner angeworben, aber wenn ich mir die Schweizer Spießerhaufen und die Landsknechte anschaue, dann waren diese irgendwie nicht desolat, korrupt und ungeordnet. ;)

Ein weiterer Argumentationsstrang seiner Ausführungen ist ein diplomatiegeschichtlicher, wobei er die These vertritt, daß sich das europäische diplomatische Instrumentarium (Gesandtschaften, Diplomatie etc.) vor allem im Austausch mit dem Osmanischen Reich entwickelte, wobei Istanbul die Rolle eines zentralen Schauplatzes europäischer Mächtepolitik zukam.


Mmh, die Formulierung "vor allem" würde ich an seiner These als etwas übertrieben kritisieren wollen. Das es sicherlich einen nicht unwichtigen Einfluss hatte, klingt etwas realistischer. Die Rolle Istanbul als einen zentralen Schauplatz europäischer Mächtepolitik würde ich aber sicherlich bestätigen wollen. In einer Epoche ohne UNO war Istanbul als quasi neutraler Treffpunkt zwischen den europäischen Ländern sicherlich nützlich.

Ein anderer zentraler Schauplatz europäischer Mächtepolitik dürfte z. B. Rom gewesen sein, auch so ein gemeinsamer Treffpunkt. Zumal die römische Kurie das dichteste und Global weitläufigste diplomatische Netzwerk überhaupt hatte, von Amerika über Afrika bis nach China und Japan.
 
Schriftstücke sind Schriftstücke, unabhänging von ihrer Entstehung. Oder sollte man Anzahl der entstandenen Zellstoff- und Tierhaut-Erzeugnisse sagen? ;)

Wie dem auch sei, ich glaube Bernard Lewis lebt noch und man kann ihn mal fragen, was ihn einfällt, so einen Stuss zu schreiben... und Holger Gräf dazu fragen, wie er solche hanebüchenen Thesen aufstellen kann....
Man kann sich auch auf niemanden mehr verlassen... Muss mal die Unis anschreiben, was für Typen sie die Studis lesen lassen...
PS: was liest du eigentlich? du hast hier noch kein Werk bisher preisgegeben in den letzten Posts...
 
Schriftstücke sind Schriftstücke, unabhänging von ihrer Entstehung.


Da gebe ich dir zweifelsohne Recht. Dennoch ist es aber wichtig anzumerken, dass gedruckte Schriftstücke weit mehr Informationen aufnehmen können und exakter in der Verbreitung sind, als geschriebene. Ich will damit nur sagen, dass es nicht unbedingt sinnig ist, auf die bloße Quantität von fabrizierten Akten zu gucken, um dann daraus die Qualität einer Organisation zu schlußfolgern. Insbesondere dann nicht, wenn die Art und Weise der "Herstellung" so vollkommen anders ist (Buchdruck vs. Handschrift).

Muss mal die Unis anschreiben, was für Typen sie die Studis lesen lassen


Aber das grundlegendste was Studi in einem geistes- oder sozialwissenschaftlichen Studium lernt und regelrecht gedrillt wird, ist Textkritik. Bloß weil jemand eine Professur inne hat und drei Doktortitel mit sicher herumträgt, ist er dennoch nicht Gott und seine Bücher keine päpstlichen Dogmen. Man muss seiner gelesenen Literatur kritisch gegenüberstehen. Das sehe ja auch immer wieder in meinem eigenen Studium. Da werden Größen der Wissenschaft auch immer wieder in der Luft zerrissen. Wir lesen Texte und kritisieren dann oder widerlegen sogar sehr häufig. Man publiziert, wird dann kritisiert und revidiert seine Meinung, so funktioniert Wissenschaft. ;)

was liest du eigentlich?


Ich kann ja mal was nennen:

Louis meint schrieb:
Ich vermute mal mit "Schwäche" ist die Ursache der Zentralisierungspolitik der frz. Könige gemeint, ein Frühabsolutismus der zu Machiavellis Zeiten mächtig auf dem Vormarsch ist. Obwohl Miachiavelli in besagtem Abschnitt (4. Kapitel des "Fürsten") Frankreich durchaus bessere Karten bescheinigt als dem osmanischen Reich.


Quentin Skinner: Machiavelli zur Einführung, Junius Verlag 2004.
Ernst Hinrichs: Kleine Geschichte Frankreichs, Reclam 2006.

Louis meint schrieb:
Was sich wohl auch hauptsächlich dadurch erklären lässt, das die europäischen Verwaltungen statt Schriftstücke anzufertigen, vermehrt auf den Buchdruck setzten. Sehr schnell nach dessen Erfindung wurden Amtsblätter, Urteile, Rechtsbücher, Proklamationen und staatliche Erlasse gedruckt veröffentlicht/übersandt, und nicht mehr per Hand kopiert. Bei den Osmanen hingegen blieb die handschriftliche Tradition noch sehr lange erhalten und der Buchdruck setzte sich auch erst sehr spät durch.


David Landes: Why Europe and the West?, Journal of Economic Perspectives 2006.
Ricardo Duchesne: Asia First?, The Journal of the Historical Society 2006.

Louis meint schrieb:
Ich glaube Militärhistoriker für europäische Armeen wären mit dieser pauschalen Aburteilung wenig zufrieden. Das kann man vielleicht für jene Armeen sagen mit denen die Osmanen direkt zu tun hatten, also Serben und Ungarn. Aber ich vermute, dass sich beispielsweise schon in England und Frankreich seit der Spätphase des 100-jährigen Krieges durchaus vieles in Sachen Ordnung, Mäßigung und Disziplin zugunsten einer hohen Qualität verändert hat und ständig weiterentwickelte. Neben dem Kern eines stehenden Heeres wurden zwar auch Söldner angeworben, aber wenn ich mir die Schweizer Spießerhaufen und die Landsknechte anschaue, dann waren diese irgendwie nicht desolat, korrupt und ungeordnet.


Rhoads Murphey: Ottoman warfare 1500-1700. London 1999.
Volker Schmidtchen: Kriegswesen im späten Mittelalter. Technik, Taktik, Theorie. Weinheim 1990.
Geoffrey Parker: The military revolution: military innovation and the rise of the West, Cambridge University Press 1999.
Ricardo Duchesne: Asia First?, The Journal of the Historical Society 2006.
Siegfried Fiedler: Kriegswesen und Kriegführung im Zeitalter der Landsknechte, Koblenz 1985.

Louis meint schrieb:
Mmh, die Formulierung "vor allem" würde ich an seiner These als etwas übertrieben kritisieren wollen. Das es sicherlich einen nicht unwichtigen Einfluss hatte, klingt etwas realistischer. Die Rolle Istanbul als einen zentralen Schauplatz europäischer Mächtepolitik würde ich aber sicherlich bestätigen wollen. In einer Epoche ohne UNO war Istanbul als quasi neutraler Treffpunkt zwischen den europäischen Ländern sicherlich nützlich.


G. R. Berridge: Diplomacy: Theory and Practice, Basingstoke 2005.
Maurice Keens-Soper: Diplomatic Theory From Machiavelli To Kissinger, Palgrave 2003.


Also so ganz sauge ich mir meine Kommentare daher nicht aus den Fingern. :winke:
 
Eine "Staatsidee" gab es nicht? War es nicht die Dynastie der Osmanen, die als Kitt diente, und lange Zeit ein erfolgreiches Gegengewicht gegen den später dann aufkommenden Nationalismus darstellte? (am spätesten haben sich dieser Idee die muslimischen Untertanen der Türken, Araber, Kurden, usw. angeschlossen)


Nein, natürlich gab es keine Staatsidee, denn deren Kennzeichnen wäre ein alle Einwohner verbindendes Ideal gewesen. Wie könnte aber die despotische muslimische Dynastie der Osmanen für die Christen des Balkans eine ideelle Bedeutung gehabt haben? Zudem ihre Staaten trotz erbittertem Widerstand von übermächtigen türkischen Armeen erobert worden waren? Ganz abgesehen davon, dass Nichtmuslime bekanntlich eine Kopfsteuer zahlen mussten, was nicht zu ihrer Integration beitrug. Nein, Überlegungen von einer den ganzen osmanischen Staat umfassenden "Staatsidee" sind in das Reich der Fabel zu verweisen und können höchstens für den türkisch-oghusischen Stammesteil gelten.

Zur Lage des Osmanenreichs zu Beginn der Neuzeit nur so viel: Als der junge Sultan Mehmed IV. 1648 die Regierung antrat, befand sich das Osmanische Reich in einer trostlosen Lage. Sie war eine mit wachsender Schnelligkeit sich verstärkende Folge der bis Mitte des 16. Jh. erfolgten rapiden territorialen Expansion des Reichs und seiner sich dadurch verändernden Struktur. Um die Mitte des 17. Jh. befand sich das Osmanische Reich in einem Zustand administrativer Unordnung und militärischer Unzulänglichkeit, die diesen Koloss wehr- und machtpolitisch manövrierunfähig machte und auf die Dauer geeignet war, seinen Bestand ernsthaft in Frage zu stellen.

Man geht kaum zu weit zu behaupten, das Osmanische Reich habe um die Mitte des 17. Jh. seinen Fortbestand lediglich dem Umstand zu verdanken, dass es an räumlicher Ausdehnung jeden seiner Nachbarstaaten geradezu unermesslich übertraf und dass diese Landmasse mit den Mitteln der damaligen Kriegstechnik für jeden Nachbarn (und sogar für alle gemeinsam) unbezwinglich war.

Der Grund für den allmählichen Niedergang liegt in der Struktur des Großreichs. Die Ländermasse war zu groß und heterogen, um weiterhin ganz einfach nach dem autoritären Willen einer Person oder einer Zentralstelle regiert werden zu können, zumal sie eine erhebliche Zahl von Gruppen enthielt, die ihre jeweiligen Interessen mehr oder weniger nachdrücklich zu Geltung brachten und aus Gründen der Staatsräson nicht übergangen werden konnten.

Die gefährlichste dieser Interessengruppen war das Janitscharenkorps, das auf ständige Sicherung und Erweiterung seiner Privilegien bedacht war. Daneben gab es die Macht der islamischen Gesetzesgelehrten, der Ulema, die zwar Staatsbeamte waren, aber in vielen Bereichen auf staatsrechtliche Mitbestimmung pochten. Ferner gab es eine lange Reihe kleinerer Machtgruppen in verschiedenen Provinzen: den albanischen, bosnischen, den mamlukischen Feudaladel in Ägypten, ebenso den algerischen, der im Seewesen eine beachtliche Rolle spielte; ferner die kurdischen Stammesfürsten an der Ostgrenze, auf deren Loyalität man angesichts der ständigen Spannungen mit Persien angewiesen war, und den arabische Scherif von Mekka, der einen Kalifatanspruch erhob.

Zu diesen national buntgemischten islamischen Gruppen kamen christliche. Die Vorstellung, die Christen seien von den Osmanen als rechtlose Herde betrachtet worden, ist zwar längst überholt, zumal es einige Gruppen unter osmanischer Herrschaft zu besonderer wirtschaftlicher Blüte brachten. Dennoch verfolgten die christlichen Vasallenfürsten, die griechisch-orthodoxe Kirche mit ihrem Patriarchen in Konstantinopel und die griechische Finanzaristokratie der Hauptstadt - die Phanarioten - durchaus eigene Interessen, die ststs auf eine größere Unabhängigkeit hinausliefen.

Diese Hydra von Interessengruppen sorgte schließlich zusammen mit einem wirtschaftlichen Niedergang dafür, dass es in späterer Zeit zum "kranken Mann am Bosporus" kam.
 
Aber das grundlegendste was Studi in einem geistes- oder sozialwissenschaftlichen Studium lernt und regelrecht gedrillt wird, ist Textkritik. Bloß weil jemand eine Professur inne hat und drei Doktortitel mit sicher herumträgt, ist er dennoch nicht Gott und seine Bücher keine päpstlichen Dogmen. Man muss seiner gelesenen Literatur kritisch gegenüberstehen. Das sehe ja auch immer wieder in meinem eigenen Studium. Da werden Größen der Wissenschaft auch immer wieder in der Luft zerrissen. Wir lesen Texte und kritisieren dann oder widerlegen sogar sehr häufig. Man publiziert, wird dann kritisiert und revidiert seine Meinung, so funktioniert Wissenschaft
Das ist schon richtig, Textkritik ist wichtig, niemand soll "vergöttert" werden. Aber Kritik ist an Werken von Historikern manchmal von Studenten zuviel verlangt, denn wenn sich ein Historiker jahrzehntelang mit einem Thema beschäftigt hat, dutzende von Quellen studiert hat, dann kann ein naseweiser Student, der z.B. noch nicht mal bisher osmanisch kann, der keinen Zugang (oder keine Zeit) zu Quellen hat, eben recht schwer etwas widerlegen. Das ist aber von der Materie abhängig.

Es ist gut zu wissen, was du so liest, nicht weil ich dir nicht glaube, dass deine Meinungen, Thesen, Argumente etc. nicht aus der hohlen Hand kommen, sondern damit man beurteilen kann, nach welcher Methode du vorgehst, was deine Grundlagen sind.
Es ist doch so, ein Mediävist, der sich vorwiegend mit Mitteleuropa beschäftigt, und marginale oder oberflächliche Ahnung vom Osm. Reich hat, der bewertet eben sein Fachgebiet oft (nicht immer) positiv. Ein Osmanist, der widerum nur oberflächliche Kenntnisse von Mitteleuropa hat, der bewertet eben sein Fachgebiet gelegentlich positiver.
Interdisplinare Studien sind leider selten, wenn auch zunehmend häufiger. (siehe links oben)
Es ist ein "Problem" der Bewertung, denke ich.
Immerhin haben Osmanisten den Vorzug, dass sie gegebenenfalls auch die Quellen der Mitteleuropäischen Archive oft lesen könnten, andersrum aufgrund der mangelnden Sprachkompetenz es aber oft nicht möglich ist. Vor allem haben die Osmanisten die Möglichkeit, aus einer Fülle von hervorragender Sekundärliteratur über die Christenheit für ihre Vergleiche zu schöpfen, dieses gilt andersrum nicht im gleichen Maße.

Und wenn es Berichte von Zeitzeugen gibt, die die militärischen Qualitäten der Osmanen loben und zur Nachahmung empfehlen, und diese Berichte nicht die Intention der Propaganda gegenüber den Häretikern haben, warum sollte man sie nicht in eine Bewertung einbeziehen?
Das es dabei auch Ausnahmen in Disziplin und Effektivität (Landsknechte, etc.) gab, macht den generellen Vergleich doch nicht obsolet?


und @ Dieter:
Ja was war denn der Kitt, der das osmanische Reich deiner Meinung nach so lange zusammenhielt, über solch große immense Entfernungen, wie es nur wenige Reiche vor dem Kolonialzeitalter vermochten?

Und die Gründe für den Niedergang, die hatten wir doch schon oft im Forum durchexerziert, aber was waren denn die Gründe, für den langen Fortbestand des Reiches, abhängig vom jeweiligen Jahrhundert?
Das war doch deine oben gestellte Frage, wo ich versucht habe, einige Antworten und Thesen zu liefern. Wieso antwortest du darauf mit den Gründen des Niederganges, statt mit weiteren Gründen für den langen Fortbestand?

Und eine kleine Offtopic Zwischenbemerkung:
Kopfsteuer? Dieses allein betrachtet bringt nichts, denn man muss 1. das Jahrhundert betrachten, 2. den Kontext.
So haben die Muslime ebenso eine Abgabe zahlen müssen, die musl. Armensteuer, die die Christen nicht zahlen mussten, so dass es relativ gerecht zuging, da die Muslime zum Teil zudem noch Militärdienst leisten mussten, so dass ihre Arbeitskraft beim Bestellen der Felder fehlte.

Ausserdem muss man die Bauerschaft des Balkan in Beziehung zu den Zeiten davor und den Nachbarn sehen, hab ich doch schon oben geschrieben:
Bernard Lewis schreibt:
Bauern verfügten i.d.R. erblichen Besitztitel, der gemäß osm. Brauch vor Zerstückelung und Eigentumskonzentration geschützt war. Damit größere Freiheit, als unter früheren christl. Herrschern. Steuern auf niedrigeren Niveau festgesetzt, und, verglichen mit ehemaligen und benachbarten Regimen humaner eingetrieben. Wohlstand und Sicherheit trugen erheblich dazu bei, die Bauern mit anderen, weniger attraktiven Aspekten osm. Herrschaft zu versöhnen, und waren weitgehend für den langen Frieden in den osm. Provinzen verantwortlich, bis nationalistische Ideen aus dem Westen für eine Explosion sorgten. Noch im 19. Jh. äußern sich europäische Balkanbesucher positiv über das Wohl und die Zufriedenheit der Bauernschaft, gemessen an den Verhältnissen in Teilen des christl. Europa.
Es war sogar so, wie oben schon beschreiben, dass es etliche Bauern, Jünglinge ohne Erbanteil, usw, in den Grenzlanden gab, die ins osm. Gebiet gezogen sind, nicht wegen einer ideellen Idee, sondern wegen den materiellen Vorteilen und Aufstiegschancen. Diese Gefahr erkannte z.B. auch Martin Luther, so dass er auch deshalb Teile seiner "Türkenpropaganda" schrieb. Diese Entwicklung bezieht sich natürlich eher auf die ersten Jahrhunderte des osm. Reiches auf dem Balkan, später nicht mehr. Ausserdem gab es natürlich auch Nachteile der Christen, je nach Jahrhundert mehr oder weniger. Aber die alleinige Idee des "Türkenjochs" ist veraltet und zu wenig ausdifferenziert.

Also die Hauptgründe für den langen Bestand sind wohl relative Gerechtigkeit in diesem Rechtsstaat, und die große Autonomie vieler Bevölkerungsteile, die Weiterführung der Strukturen, wie sie schon vorher da waren, sei es in Europa, oder im Nahen Osten. Die militärische Stärke spielt da auch eine Rolle, aber nicht die Entscheidende, denn es sind z.B. andere Reiche mit starkem Militär auch nach kürzerer Zeit zugrunde gegangen.

Weitere Gründe? :)
Servus, LG lynxxx
 
Also die Hauptgründe für den langen Bestand sind wohl relative Gerechtigkeit in diesem Rechtsstaat, und die große Autonomie vieler Bevölkerungsteile, die Weiterführung der Strukturen ... Die militärische Stärke spielt da auch eine Rolle, aber nicht die Entscheidende, denn es sind z.B. andere Reiche mit starkem Militär auch nach kürzerer Zeit zugrunde gegangen.


Das Osmanische Reich unterschied sich in seiner politischen und sozialen Verfassung wesentlich von den europäischen Ländern und Staaten. Der Sultan besaß als geistliches und weltliches Oberhaupt unbeschränkte Machtfülle, die eroberten Länder wurden zur finanziellen Ausbeutung zu Lehen vergeben. Somit ist besonders für die eroberten christlichen Staaten in Europa festzustellen: Türkische Herrschaft blieb immer Fremdherrschaft!

Wenn also das Osmanische Reich so lange überlebte, so ist das zum einen seiner miliärischen Macht geschuldet. Die türkischen Heere hatten in relativ kurzer Zeit ein derart gewaltiges Gebiet zusammengerafft, dass es lange Zeit brauchte, bis eine "Reconquista" diese ungeheure Ländermasse zusammenschrumpfen ließ.

Zum anderen hatte das Osmanische Reich Glück, dass es später aus machtpolitischen und diplomatischen Erwägungen nicht von der (europäischen) Landkarte verschwand. Es gab ja in den Schubladen der Diplomaten Pläne zur Aufteilung des osmanischen Staates, doch konnten sich die europäischen Großmächte nie einvernehmlich darauf einigen, da das gegenseitige Misstrauen überwog.

So schwand schon im 17. Jh. die europäische Bedeutung des Osmanischen Reichs, sodass man seinen langen Fortbestand den Beharrungskräften und einer besonderen europäischen Mächtekonstellation zuschreiben muss. Deutlich ist auszusprechen, dass es sich in Europa um eine Fremdherrschaft handelte, die die Balkanvölker sofort abstreiften, als das militärisch möglich war. Rosige Reminiszenzen an die türkische Fremdherrschaft hat es bei diesen Völkern nie gegeben (wenn man vielleicht von den muslimischen Bosniern absieht).
 
Türkische Herrschaft blieb immer Fremdherrschaft!
Bei welchen Weltreichen war es das nicht? ;)

Noch jemand der Meinung von Dieter, dass primär
1. aufgrund der militärischen Macht das osm. Reich so lange überdauerte
2. dass es die schiere Größe der Landmasse war, warum die "Reqonquista" so lange dauerte
3. dass das osm. Reich aufgrund der Gnade und Uneinigkeit der christl. Mächte
so lange überdauerte? (Wann setzte die Uneinigkeit über die "Beute" ein? Was ist mit der Zeit vorher?)
 
Confratres,
mir scheint, Ihr redet da gerade ein wenig aneinander vorbei...

So wie ich den letzten Beitrag von Dieter verstanden habe, ging es ihm vornehmlich darum, auf militärische und politische Aspekte hinzuweisen, welche durchaus im besprochenen Kontext eine wichtige Rolle spielten. Nichtsdestotrotz sind diese etwas detaillierter zu spezifizieren...

Zum ersten Punkt...
Wenn also das Osmanische Reich so lange überlebte, so ist das zum einen seiner miliärischen Macht geschuldet. Die türkischen Heere hatten in relativ kurzer Zeit ein derart gewaltiges Gebiet zusammengerafft, dass es lange Zeit brauchte, bis eine "Reconquista" diese ungeheure Ländermasse zusammenschrumpfen ließ.
... dass primär
1. aufgrund der militärischen Macht das osm. Reich so lange überdauerte
2. dass es die schiere Größe der Landmasse war, warum die "Reqonquista" so lange dauerte
Dies stellt zunächst einen Kontext dar, der nicht in zwei Punkte aufgetrennt werden kann:
Fakt ist, daß das Osmanische Reich bis ins 17. Jh. expansiv agieren konnte bzw. agierte - zur Erinnerung nur sie für Europa relevanten Zahlen: Eroberung Kretas 1645/69, zweite Belagerung Wiens 1683.
Trotz daß es danach in Defensive gezwungen worden war, mußte das Osmanische Reich militärisch noch immer als starker Gegner angesehen werden, wie Siege gegen Rußland (1711) und gegen Venedig (1715) zeigten.
Der gemeinhin als Beginn des Niedergangs i.d.S. angesehene Kontext um die Niederlage bei Lepanto 1571 - ich persönlich ordne auch die verlustreiche und erfolglose Belagerung Maltas 1565 hier gleichberechtigt ein - führte ja zunächst auch "lediglich" dazu, daß eine Aufteilung des Mediterrans in ein Einflußgebiet West (Spanier, Italiener, Malteser) und ein Einflußgebiet Ost (Osmanen) erfolgte. Von einer "Rückeroberung" war da noch keine Spur...
Die ersten wirklichen Gebietsverluste des Osmanischen Reiches fielen ins ausgehende 17. Jh. nach den Niederlagen bei Mohacs (1687), Slankamen (1691) und Zenta (1697) mit dem Frieden von Karlowitz 1699. Aufgrund der militärischen Stärke konnte das Osmanische Reich dennoch anfangs des 18. Jh. Gebiete zurückgewinnen - vgl. die Beispiele oben...
Ein Bündnis zwischen Rußland und Österreich (1736) brachte zwar wiederum osmanischen Gebietsverlust zugunsten Rußlands, jedoch andererseits österreichische Gebietsverluste zugunsten des Osmanischen Reiches. Der dies sanktionierende Frieden von Belgrad 1739 brachte insgesamt jedoch vergleichsweise geringe territoriale Veränderungen.

In der weiteren Betrachtung dieses Kontextes kommt nun der andere angesprochene Punkt hinzu...
Zum anderen hatte das Osmanische Reich Glück, dass es später aus machtpolitischen und diplomatischen Erwägungen nicht von der (europäischen) Landkarte verschwand. Es gab ja in den Schubladen der Diplomaten Pläne zur Aufteilung des osmanischen Staates, doch konnten sich die europäischen Großmächte nie einvernehmlich darauf einigen, da das gegenseitige Misstrauen überwog.
3. dass das osm. Reich aufgrund der Gnade und Uneinigkeit der christl. Mächte
so lange überdauerte?

Im Russisch-Türkischen Krieg 1768/74 gelingt es Rußland schließlich, nicht nur die Gebiete nördlich des Kaukasus sowie die südliche Ukraine zu gewinnen, sondern es erhält zudem Hoheitsrechte im Schwarzen Meer und die Durchfahrt durch den Bosporus. Nicht weniger wichtig ist jedoch auch der Einfluß, welchen Rußland infolgedessen fortan auch im Osmanischen Reich nehmen kann, da ihm die Protektion der dortigen orthodoxen Christen (v.a. Griechen, Georgier, Armenier) gewährt wird.
Hier wurde offenbar, daß das Osmanische Reich nicht mehr als Großmacht fungieren konnte...
Anm.: Das spätere osmanische Aufbegehren endet in einer Niederlage, worauf im Frieden von Jassy 1792 weitere Gebietsverluste folgen - neue Grenze zwischen dem Osmanischen Reich und Rußland wurde der Dnjestr...

Wie dem auch sei, zeichnete sich bereits seit dem Frieden von Belgrad ein Machtgegensatz zwischen Österreich und Rußland ab, der dann offen zu Tage trat, als die Zarin Katharina II. Österreich und Venedig ihren Plan vorlegte, nach denen Rußland sich die griechischen Gebiete incl. Konstantinopel einverleiben wollte, um ein neues - russisches - Byzanz (wieder-)erstehen zu lassen, während die restlichen Gebiete des Osmanischen Reiches zwischen Österreich, Venedig und Rußland aufgeteilt werden sollten. Was allerdings sowohl Österreich als auch Venedig ablehnten...
Anm.: Meines Wissens ist dies einer der ersten Pläne, welche eine europäische Großmacht zur Aufteilung des Osmanischen Reiches hatte - wobei allerdings auch wieder zu berücksichtigen ist, daß sich die russischen Zaren selbst als Rechtsnachfolger der Byzantinischen Kaiser (und damit letztendlich ganz in der Römischen Kaisertradition) sahen.

Wie aus diesem - aus Übersichtsgründen etwas gerafften - Abriß deutlich wird, beantwortet sich dann die Frage
Wann setzte die Uneinigkeit über die "Beute" ein? Was ist mit der Zeit vorher?
eigentlich von selbst...

Übrigens sehe ich persönlich auch noch einige andere Ereignisse der europäischen Geschichte im 18. und 19. Jh., durch welche die Großmächte eher miteinander als mit dem einstigen Gegner Osmanisches Reich beschäftigt waren: Schlesische Kriege (Österreichischer Erbfolgekrieg, Siebenjähriger Krieg), Französische Revolution, Napoleonische Kriege...



PS: Allerdings frage ich mich, warum wir bei diesem Thema, wo es doch eigentlich um die Strukturen des Osmanischen Reiches geht, so ins Militärgeschichtliche abdriften müssen...
 
Bei welchen Weltreichen war es das nicht? ;)

Noch jemand der Meinung von Dieter, dass primär
1. aufgrund der militärischen Macht das osm. Reich so lange überdauerte
2. dass es die schiere Größe der Landmasse war, warum die "Reqonquista" so lange dauerte
3. dass das osm. Reich aufgrund der Gnade und Uneinigkeit der christl. Mächte
so lange überdauerte? (Wann setzte die Uneinigkeit über die "Beute" ein? Was ist mit der Zeit vorher?)

1. natürlich war es mE nicht nur die millitärische MAcht der Osmanen, die das Reich so lange am Leben erhielt. An den Ausführungen lynxxx` ist schon etwas wahres dran. Die Osmanen waren immer sehr bemüht, dass es gerade den Christen auf dem Balkan gut ging, da sie nach 1520, meist den Hauptteil der Last des Krieges auf dem Balkan zu tragen hatten.

2. die "schiere Größe der Landmasse" war mit Sicherheit nicht ausschlaggebend. Den Europäern fehlte es nach dem Tod des Prinzen v. Savoyen, an qualitativen Militärführern. Nur deshalb konnte das OR Gebietsverluste wettmachen. Der Tod des Eugen v. Savoyen, dem herausragendstem Militärführer zwischen Wallenstein und Napoleon ist der Gebietsgewinn Habsburgs zu verdanken.

3. ME ist dies einer der Hauptgründe für das lange Bestehen des OR, denn wären sich die einzelnen europäischen Mächte untereinander einig gewesen, wie der "Kuchen" untereinander aufzuteilen sei, wäre das OR wahrscheinlich früher untergangen. Weder England, dass um seine Handelsprivilegien im OR und die Zufahrtswege nach Indien fürchtete, noch Frankreich, welches ebenfalls weitestgehende wirtschaftliche Privilegien (Kapitulationen) im OR genoß, wollten dem "Gerdarmen Europas" trauen und ihm eine grössere Machtfülle zugestehen. Aus Habsburger Sicht wurde Österreich "natürlich" zu wenig auf dem Balkan zugedacht.

Fazit: Eine Kräftekonzentration auf dem Balkan, Ende des 17 Jhdt. hatte gezeigt, dass dass OR durchaus besiegt werden konnte. Auch wenn das erst der Anfang war. Ab dem Ende des 18 Jhdt. muss man eingestehen, dass sich das OR nur noch aufgrund der Gegner Russlands aufrecht hielt.

Ich persönlich bin der Meinung, dass zu spät auf die militärischen Neuerungen in Europa reagiert worden ist und somit der Zug für die Osmanen abgefahren war. Aber nicht nur im militärischen Bereich hatten die Europäer Vorteile. Gerade im wirtschaftlichen Bereich konnten die Osmanen den europäern nicht das Wasser reichen. Nur um mal zwei Beispiele zu geben:

Der Frühkapitalismus mit seinen kolonialen Zügen, machte es den Europäern möglich das besetzte Land auszubeuten und somit rücksichtslos Kapital zusammenzuraffen, währenddessen osmanisch eroberte Gebiete gleichberechtigt in das Reich eingegliedert worden sind.

Als zweites ist anzumerken, dass sich im Osmanenreich kein Bürgertum hat entwickeln können, wie dies der Fall in Europa war. So konnte es keinen Wirtschaftsaufschwung geben und die Wirtschaft konnte sich nicht entwickeln und blieb rückständig. Ein Umstand, der der heutigen Türkei noch heute zu schaffen macht. Demzufolge wurde auch nicht geforscht, was zu einer Stagnation der Wirtschaft führte, sprich gleichbleibende Produktionsweise, bis auf wenige Ausnahmen. Zunftordnungen erschwerten den osmanischen Kaufleuten und Handwerkern die Arbeit, die zudem ihre ganze Habe verlieren konnten, während die christlichen Kaufleute weitestgehende Privilegien aufgrund der Kapitulationen genossen. Soviel zum Thema schlechte Behandlung der Christen durch die Osmanen.

In diesem Sinne

Grüsse Seldschuk!
 
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Hallo Seldschuk, schön wieder einmal von dir zu hören, dazu noch mit einem derart ausgewogenen und schlüssigen Beitrag! :yes:

Ich stimme deinen Ausführungen vollinhaltlich zu, denn du hast die neuralgischen Punkte gut benannt, die zum Verfall des Osmanischen Reichs führten und andere, die sein langes Überleben trotz offensichtlicher Schwäche erklären.

In meinem Post oben habe ich unter anderem behauptet, das OR habe vor allem auch deshalb so lange überlebt, weil die europäischen Großmächte zerstritten und darüber uneins waren, wie eine Aufteilung erfolgen sollte. Das scheint auch mir der wesentliche Grund zu sein, obwohl zumindest bis etwa 1830 auch die militärische Präsenz des OR noch so stark war, dass ein Vernichtungskrieg seitens der europäischen Großmächte vermutlich äußerst blutig verlaufen wäre.

Ein Punkt erscheint mir jedoch zumindest zweifelhaft. Du hast hier folgendes ausgeführt:

Der Frühkapitalismus mit seinen kolonialen Zügen, machte es den Europäern möglich das besetzte Land auszubeuten und somit rücksichtslos Kapital zusammenzuraffen, währenddessen osmanisch eroberte Gebiete gleichberechtigt in das Reich eingegliedert worden sind.


Ich erinnere mich mehrfach gelesen zu haben, dass das OR die Balkanvölker ebenfalls ausbeutete und dabei nicht zimperlich war. Leider fehlen mir hier entsprechende Publikationen, die das belegen könnten.
 
Hallöchen Dieter,
dann kannst du dich mal mit diesen Artikeln schlau machen, und die aktuelleren Ergebnisse lesen:
http://www.geschichtsforum.de/f42/interessante-dokumente-ebooks-und-artikel-13930/

Unterscheide bitte nach Epochen, nach osm. Reich, also Hohe Pforte und lokalen Potentaten (ethnisch oft selber vom Balkan), wieviel Steuern nach Istanbul flossen, und wieviel in SO-Europa verblieb, und beziehe den Kontext mit ein.

z.B. die Sicht der damaligen Christen:

"Offensichtlich ˆ das war nicht allein die Selbstsicht der Sultane, sondern auch die Sicht christlicher Zeitgenossen ˆ hatte Gott den Osmanen die Waffenerfolge des 14. und 15. Jhs. verliehen und sie zu den legitimen Nachfahren nicht allein der arabischen Kalifenreiche sondern ausdrücklich auch Ostroms gemacht."
aus:
Historisches Seminar
aus obigen Link.

Ahoi, LG lynxxx

PS: Beachtet bitte bei der Diskussion, dass wir hier über den Zeitraum bis zur franz. Revolution im 18. Jh., sprechen, wo die Aufteilung des OR und der Streit darüber nicht die gleiche Dimension hatte, wie im 19. Jh.
 
Zuletzt bearbeitet:
Ich finde den Beitrag von Seldschuk ebenfalls gut. Ein paar Bemerkungen:

Meiner Meinung nach haben die Osmanischen Sultane es verstanden -zum Teil- den lokalen Adel der eroberten Völker in die Führung einzubinden und mit der Zeit zu islamisieren und damit (nicht im ethnischen Sinne gemeint) zu „osmanisieren“.

Das gleiche auch mit der Führung der jeweiligen Kirchen (ohne die islamisierung natürlich). Das Millyet-System bot den christlichen Gemeinden eine Art Selbstverwaltung –zwar eindeutig unter der Hegemonie des Islam, aber dennoch-.
Der Orthodoxe Patriarch in Konstantinopel hatte im Sultan seinen Herrn, war aber gleichzeitig auch der Herr der orthodoxen und hatte damit keine Interesse an einer Erhebung seiner „Untertanen“.

Die zu Anfangs sehr effektive Armee und der Abgang der besten männlichen christlichen Untertanen an die Janitscharen haben vielleicht auch einiges dazu beigetragen die Aufstandslust der eroberten Völker zu dämpfen.

Sehr unwegsame und abgelegene Regionen mit einer kämpferischen Bevölkerung wurde auch oftmals regionale Autonomie und Steuerfreiheit und ähnliches gewährt. Die Osmanen versuchten nicht sie –koste es was es wolle- zu erobern. Lieber arrangierte man sich und verzichtete entweder völlig auf Tribute oder nahm nur symbolische Beträge. Dadurch wurden potentielle Brandherde von vorneherein entschärft. Kann wieder nur für Hellas sprechen, z.B. die Region Mani, oder Agrafa, Roumeli, Souli, usw.

Dennoch gab es immer wieder Aufstände gegen das osmanische Reich, alleine 150 größere und kleinere wurden in Hellas gezählt, die mit Ausnahme des letzten, allesamt niedergeschlagen wurden. Entweder hatten sie lokalen Charakter oder sie wurden mit Hilfe von ausländischen Mächten angefangen (Venedig, Russland, etc.)

Viele lokale christliche Hilfstruppen wurden desweiteren bewaffnet und ausgerüstet und zur Wahrung von Recht und Ordnung eingesetzt. Und natürlich um die eigenen Landsleute niederzuhalten. Vielleicht hat jemand das Wort „Martolos“ gehört ?
Ist eine italienische (venezianische) Verballhornung des griechischen Wortes „Armatolos“= Bewaffneter. Das waren lokale christliche und griechische Hilfstruppen, die vom lokalen Pascha das Privileg des Landsbesitzes und Waffenbesitzes bekommen hatten und zur Sicherung von Handelswegen und Ansiedlungen gegen Aufständische, Räuber usw. eingesetzt wurden. Sie waren übrigens gemeinsam mit den sogenannten „Klepthen“ (Partisanen, Widerstandskämpfer) diejenigen, die den letzten Aufstand zum Erfolg führten. Übrigens, der Übergang vom Klepthe zum Armatolos und umgekehrt war oftmals fließend...

Im restlichen Balkan dürfte es aber auch nicht viel anders gewesen sein, wie in Hellas. Von Serbien gibt es Berichte von den Hadjuken, die wie ihre griechischen Gegenparts, ähnlich aufgestellt waren und während der serbischen Aufstände eine ähnliche Rolle spielten.

Solange das Reich stabil und die Korruption und Willkür niedrig war, konnte man als friedlicher Bürger normal leben. Ab Mitte des 18. Jahrhunderts war es allerdings nicht mehr so und der Ärger und Aufstandsbereitschaft (auch geschürt durch die neuen Ideen der französischen Revolution sowie ausländischer Mächte) nahm zu.

Ich erlaube mir noch ein paar Worte zum Thema Bürgertum zu verlieren. Soweit ich weis gab es in den letzten 50-60 Jahren des osmanischen Reiches durchaus ein Bürgertum. Insbesondere unter den Christen, die durch Handel und den Aufbau von Schulen sowie durch ihre Handelskontakte zu Europa und Russland zu Reichtum gekommen waren. Einige Viertel z.B. im heutigen Istanbul und Trapezunt lassen der Reichtum erahnen. Aber es waren im Vergleich zur Gesamtbevölkerung (egal welcher Ethnie) natürlich längst nicht so viele wie im restlichen Europa. Was sicherlich auch an der mangelnden Schulbildung im Reich hing.

Ende des 19. Jahrhunderts gab es praktisch kein sekulares Schulsystem, mit Ausnahme von ausländischen Schulen bzw. den Schulen, die die christlichen Minderheiten aufgebaut hatten (Armenier und Griechen insbesondere).
Die Kapitulationen, der Dogmatismus der Ulema/aber auch des orthodoxen Patriarchats, die Korruption der Beamtenschaft und die ungünstige Steuergesetzgebung (die nicht den Aufbau von Produktionsstätten begünstigte) taten ihr übriges. Sehr schade übrigens, es hätte auch anders und besser ausgehen können, als so wie es geendet hat.
 
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PS: Beachtet bitte bei der Diskussion, dass wir hier über den Zeitraum bis zur franz. Revolution im 18. Jh., sprechen, wo die Aufteilung des OR und der Streit darüber nicht die gleiche Dimension hatte, wie im 19. Jh.

Deine Beiträge muss ich immer wieder loben! Doch an dieser Stelle stimme ich dir nur bedingt zu. Der Friede von Kücük Kaynarca, welcher den russisch-osmanischen Krieg von 1768-1774 beendete, hatte katastrophale Folgen für das OR. Zum einen wurden hier grosse Gebietsverluste der Osmanen, zugunsten der Russen, sanktioniert, zum anderen erhielt die russische Schwarzmeerflotte freie Fahrt durch die Meerengen des Bosporus und der Dardanellen. Ein weiterer Punkt dieses "Diktatfriedens" war der Umstand, dass das Russische Reich in Zukunft als Protektor der orthodoxen Christen auftrat und somit immer wieder die Handhabe hatte, die orthodoxen Christen auf dem Balkan für die "russische Sache" zu mobilisieren. Ein Eingriff, welcher dermaßen die inneren Angelegenheiten des OR betraf, war eine quasi Kapitulation des OR und eine Preisgabe seiner Souveränität, auch wenn dies schon anderen europäischen Staaten vorher gewährt wurde. Die Russen haben danach immer wieder geschickt verstanden, die Griechen und Armenier für ihre Sache einzuspannen.

Meines Wissens hatte sich nach diesem Friedensschluss dann England gegen Russland gestellt, weil auch die Engländer sehr an der Meerengenfrage interessiert waren, wobei wir wieder bei dem Punkt der Uneinigkeit der europäischen Mächte wären. Genaueres müsste ich aber nachschlagen.

Letztendlich muss also der erste Meilenstein zur Auflösung des OR auf 1774 datiert werden, was bedeutet, dass die Dimension Ende des 18 Jhdt. durchaus nicht zu verharmlosen ist, auch wenn sich die Lage des OR im 19 Jhdt. verschärfte.

mfg

Seldschuk
 
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Hallo Seldschuk, schön wieder einmal von dir zu hören, dazu noch mit einem derart ausgewogenen und schlüssigen Beitrag! :yes:

Danke, danke! Familienvater werden ist nicht schwer, Familienvater sein dagegen sehr.:grübel:

Dieter schrieb:
Ein Punkt erscheint mir jedoch zumindest zweifelhaft. Du hast hier folgendes ausgeführt:




Ich erinnere mich mehrfach gelesen zu haben, dass das OR die Balkanvölker ebenfalls ausbeutete und dabei nicht zimperlich war. Leider fehlen mir hier entsprechende Publikationen, die das belegen könnten.

Die rücksichtslose Ausbeutung des Balkan ist aber mW erst nach dem aufkommenden Nationalismus und des zunehmenden Widerstands der Balkanvölker an der Tagesordnung und das auch nicht von der Zentralmacht in Istanbul, sondern der örtlichen Lokalmachthaber, wie zum Beispiel Pasvanoglu Osman Aga aus Vidin, welcher anhand von eigenen Truppen, die er ohne Probleme hatte aufstellen können, Istanbul die Stirn bot. (Ein Sultan musste sogar aufgrund der Erhebung des Osman Aga abdanken, müsste ich aber nachschlagen). Dies geschah Anfang des 19 Jhdt. Diese "Beys" hatten sich quasi verselbstständigt und gehörten nur noch lose dem osmanischen Stattsverband an. Als weiteres Beispiel zählt der Albaner Muhamed Ali, welcher als Statthalter in Ägypten eingesetzt war.

Eine besondere Form der Unterdrückung aller Nichttürken im OR, wurde dann unter den Jungtürken Anfang des 20 Jhdt. bis zum Untergang des OR "zelebriert". Das trifft dann aber nicht nur auf den Balkan zu, sondern insbesondere für die arabischen Gebiete, an denen der Nationalismus vorbei gelaufen war.
 
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Der Friede von Kücük Kaynarca, welcher den russisch-osmanischen Krieg von 1768-1774 beendete, hatte katastrophale Folgen für das OR.


Letztendlich muss also der erste Meilenstein zur Auflösung des OR auf 1774 datiert werden, was bedeutet, dass die Dimension Ende des 18 Jhdt. durchaus nicht zu verharmlosen ist, auch wenn sich die Lage des OR im 19 Jhdt. verschärfte.

mfg

Seldschuk
Der bereits in Karlowitz 1699 ausgehandelte Frieden wurde auf Bestreben Englands und Hollands ausgearbeitet, die bei noch mehr Verlusten der Osmanen, um ihre Handelsprivilegien bangten. Etwas später - 1700 - wurde mit den Russen ebenfalls ein Frieden geschlossen, in der Asow den Osmanen verlustig ging. Ferner durften die Russen ihre Schwarzmeerflotte durch die Meerengen nach dem Mittelmeer schicken.

1711 brachten die Osmanen den Russen am Pruth eine vernichtende Niederlage bei. Dieser Krieg war ausgebrochen, um Asow wieder einnehmen zu können, nachdem der Soldatenkönig Karl XII. die Osmanen zu einem Vergeltungsschlag gegen die Russen hatte bewegen können. Es ist nicht ganz klar, warum der Sieg nicht ausgenutzt worden ist. Einige behaupten, der Großwesir habe sich bestechen lassen und sei der Liebhaber der russischen Zarin geworden. Der eigentliche Grund war aber wohl der, dass eine Ausnutzung des Sieges, wiederum das Kräftegleichgewicht in Europa hätte ducheinander bringen können und somit ein weiteres Vorgehen nicht angestrebt wurde. Asow wurde an die Osmanen zurückgegeben.

Als man dann gegen 1716 den Peleponnes von Venedig, dem ehemaligen Verbündeten der heiligen Liga von 1686, zurückgewinnen konnte, wurden die Habsburger wieder auf den Plan gerufen. Der darauf geschlossene Friede von Passarowitz ist wiederum auf Vermittlung der Engländer und Holland zusammengekommen. Auch hier wieder die Befürchtungen Englands und Hollands, ihre Privilegien zu verlieren.

1739 kam ein Frieden auf französische Vermittlung zu Stande, nachdem die Osmanen einen Mehrfrontenkrieg gegen Österreich und Russland führen musste, als die Osmanen gerade einen Abwehrkrieg gegen die wiedererstarkten Perser im Osten führten.

Dem Betrachter belibt also nicht verboren, dass der Frieden von Kücük Kaynarca nur einen Höhepunkt in den Bemühungen der europäischen Mächte darstellt, dass OR am Leben zu erhalten.
 
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