Die Krieg-in-Sicht-Krise und der Untergang des Reiches 70 Jahre später

Darin kann ich keine deutliche Verbesserung der außenpolitischen Lage Deutschlands erkennen, eben deshalb weil Frankreich sich weder an den Vertrag von 1871 noch an den von 1919 zu halten beabsichtigte, wenn durch seinen Bruch etwa günstig ein Macht-/Landgewinn zu erlangen wäre.

Wo und wann hat Frankreich gegen den Vertrag von 1871 verstoßen? Davon einmal abgesehen war das Deutsche Reich 1919 außenpolitisch weitesgehend isoliert und praktisch ein internationaler Paria. Die deutsche Delegation hat in Versailles unter Brockdorff-Rantzau auch nicht gerade eine Sternstunde erlebt.

Welche Sicherheit sollte der Vertrag da dem Deutschen Reich gegen Frankreich bieten?

Die deutsche Diplomatie hat im Rahmen des Dawes Abkommes aber eine weitaus größere Sicherheit vor militärischen Interventionen Frankreichs zugebilligt bekommen. Und Frankreich hat mit seiner Unterschrift unter dem Versailler Vertrag anerkannt, dass das Deutsche Reich ein einheitlicher Nationalstaat bleibt. Damit besaß Frankreich formal nicht das Recht über die Versailler Bestimmungen hinaus weiteres deutsches Territorium vom Deutschen Reich abzutrennen.
 
Ist zwar OT, aber dazu:

Polen hat schon sehr bald deutlich gemacht, dass es den Vertrag nach belieben zu brechen vermag, ohne irgendwelche negativen Folgen befürchten zu müssen.

Das beruhte durchaus auf Gegenseitigkeit, wenn man die deutschen Ambitionen nach 1919 betrachtet. Eine Gebietsrevision im Osten war auch Ziel maßgeblicher Kreise in Deutschland.

Den Standpunkt von Gandolf habe ich eher als Hinweis auf den erreichten Status durch den Versailler Vertrag und seine politische Bewertung verstanden, weniger dahingehend, was beide Seiten dazu in der Folgezeit betrieben haben. Zu der revisionistischen Zielstellung aller Weimarer Regierungen gehörte zB die (Ost-)Politik in Bezug auf die deutsche Minderheit als Instrument der kommenden Grenzkorrektur.

Die Betrachtung sollte man daneben über die chaotischen Jahre 1919-23 hinaus erweitern: betrachtet man die Jahre 1928-32, bei denen der polnische Standpunkt - von den Extremisten im Land abgesehen - im Wesentlichen auf Bedrohungen reagierte. So wird auch die polnische Reaktion beim Aufstieg Hitlers verständlich, siehe dazu die entsprechenden polnischen Analysen.
ZB Roos: Polen und Europa, Studien zur polnischen Außenpolitik 1931-1939, Tübinger Studien zur Geschichte 7.

[Eine polnische Reaktion auf die Machtübernahme Hitlers war dann der zügig abgeschlossene Nichtangriffsvertrag, der die Grenzen faktisch festschrieb, und den wohl kaum eine demokratische Regierung Weimars politisch überlebt hätte]
 
Wo und wann hat Frankreich gegen den Vertrag von 1871 verstoßen?
Durch die Annektion Elsaß-Lothringens 1919.

Damit besaß Frankreich formal nicht das Recht über die Versailler Bestimmungen hinaus weiteres deutsches Territorium vom Deutschen Reich abzutrennen.
Formal ist das sicher richtig. Formal besaß auch Frankreich keinen Grund mehr, eine Deutsche Revanche zu fürchten, denn Deutschland hatte ja den Versailler Vertrag unterschrieben.

Das beruhte durchaus auf Gegenseitigkeit, wenn man die deutschen Ambitionen nach 1919 betrachtet. Eine Gebietsrevision im Osten war auch Ziel maßgeblicher Kreise in Deutschland.
Es stimmt schon, die Deutschen haben den Versailler Vertrag noch viel weniger ernst genommen als Franzosen und Polen, aber das ist ja nicht der Punkt. Die Frage ist, ob der VV eine substanzielle Garantie der Einheit des deutschen Nationalstaates darstellte.
 
Es stimmt schon, die Deutschen haben den Versailler Vertrag noch viel weniger ernst genommen als Franzosen und Polen, aber das ist ja nicht der Punkt. Die Frage ist, ob der VV eine substanzielle Garantie der Einheit des deutschen Nationalstaates darstellte.

Da drehst Du Dich im Kreis. Die Frage war, ob der VV eine substanzielle Garantie der Einheit des deutschen Nationalstaates dargestellt hat, soweit es die Westgrenze betraf, vertragskonforme Politik abseits von Diktatoren vorausgesetzt.

Und das hat er tatsächlich, nochmals bestätigt durch Locarno mit der Garantie der Westgrenzen und weiter betoniert durch Briand/Kellogg. 1933 ist ein anderes Thema.
 
Durch die Annektion Elsaß-Lothringens 1919.

Elsaß-Lothringen hat sich zum Zeitpunkt des Kriegsendes doch selbst für unabhängig erklärt. Das konnte auch nicht ernsthaft verwundern, denn das Deutsche Reich hat es in den vergangenen Jahrzehnten doch versäumt die Bevölkerung in das Reich zu integrieren. Elsaß-Lothringen hat nicht den gleichen rechtlichen Status erhalten, wie die anderen Staaten des Deutschen Reiches. Das die Bevölkerung sich dann diskriminiert fühlte, kann auch nicht weiter verwundern. Vorgänge wie die skandalöse Zaberanaffäre haben sich auch nicht gerade prodeutsche Gefühle geweckt.

Des Weiteren ist hierzu anzumerken, das es damals aber durchaus geübte Praxis war, das der Sieger eines Krieges von dem Verlierer verlangt, das dieser Territorium abtritt.

Aber zum Thema Elsaß-Lothringen gibt es hier aberbereits ein Thread:

http://www.geschichtsforum.de/f58/elsa-lothringen-1871-1918-a-6431/
 
Unterschrieben haben Frankreich und Polen den Versailler Vertrag schon, sie haben sich nur nicht daran gehalten. Frankreich hatte die Einheit Deutschlands im Grunde schon 1871 anerkannt, als es den Frankfurter Friedensvertrag unterschrieb. 1919 hat es einen weiteren Vertrag unterschrieben, diesmal zu ungünstigeren Bedingungen für das Reich.

Darin kann ich keine deutliche Verbesserung der außenpolitischen Lage Deutschlands erkennen, …
Es macht schon einen Unterschied, ob Frankreich in einem Friedensvertrag als Verlierer (1871) oder als Sieger (1919) die deutsche Einheit akzeptierte.
@EL_Mercenario: … eben deshalb weil Frankreich sich weder an den Vertrag von 1871 noch an den von 1919 zu halten beabsichtigte, wenn durch seinen Bruch etwa günstig ein Macht-/Landgewinn zu erlangen wäre.
@Turgot: Wo und wann hat Frankreich gegen den Vertrag von 1871 verstoßen?
@EL_Mercenario: Durch die Annektion Elsaß-Lothringens 1919.
Der Friedensvertrag von 1871 endete mit der deutschen Kriegserklärung im Jahr 1914...
Meines Wissens war es auch nicht die Berufung Deutschlands auf den Versailler Vertrag, oder das schlechte Gewissen der Franzosen ob des Vertragsbruchs, dass sie zum Abbruch der Ruhrbesetzung bewogen hat.
Der Ruhrbesetzung (1923) ging die deutsche Nicht-„Erfüllungspolitik“ voraus. Die Briten waren zwar mit Poincares Politik der „produktiven Pfänder“ nicht einverstanden. Auch argwöhnten sie, dass Frankreich mehr wollte, als nur „Pfänder“ in Besitz zu nehmen. Gleichwohl wollte auch London, dass das Reich seinen Reparationspflichten nachkam. Nur war London bei der Abwicklung dieser Pflichten etwas flexibler als Paris und Brüssel (dort war die Not im übrigen auch größer).

Für Poincares Versuch, ein „Über-Versailles“ zu installieren (so nahm man die Ruhrbesetzung in Deutschland wahr), gab es keine besseren „Verbündete“ als jene nationalen Hitzköpfe, die Versailles ohnehin nicht erfüllen und 1923 bis zum Sieg/Ende kämpfen wollten. Die dienten ihm nämlich als Beleg dafür, dass das Reich den Versailler Vertrag freiwillig nicht erfüllen würde, es also militärischer Schutzmaßnahmen für die vielen Kommissionen, die die Erfüllung des Vertrages umsetzen sollten, bedurfte.

Erst als Stresemann die Niederlage im Ruhrkampf eingestand, diesen abbrach und die Wiederaufnahme der Reparationsleistungen versprach – also signalisierte zu „Versailles“ zurückzukehren -, waren die Briten bereit, Druck auf Frankreich auszuüben, ebenfalls zu „Versailles“ zurückzukehren. Die Ruhrbesetzung wurde also durch die Berufung auf Versailles abgewendet, was für Deutschland bedeutete, dass die deutsche Einheit gerettet wurde, aber auch wieder Reparationsleistungen erbringen zu müssen.
 
Zuletzt bearbeitet:
Die Frage war, ob der VV eine substanzielle Garantie der Einheit des deutschen Nationalstaates dargestellt hat, soweit es die Westgrenze betraf, vertragskonforme Politik abseits von Diktatoren vorausgesetzt.
Nun, ich meine, der VV hat keine solche Garantie dargestellt, nicht was Frankreich angeht. Frankreich hat lediglich durch die Unterzeichnung des VV implizit darauf verzichtet, die Gebiete westlich des Rheins für sein eigenes Staatsgebiet zu beanspruchen. Nicht aber darauf, diese Gebiete vom deutschen Reich abzutrennen. Aus der Tatsache, dass der deutsche Nationalstaat im VV nicht zerschlagen wurde, lässt sich nicht im Umkehrschluß eine Bestandsgarantie herleiten.
Frankreichs Präsident hat das - als die Briten sich über die Einrichtung von separatistischen Regierungen im Rheinland beschwerten - auch sinngemäß so formuliert. Wenn sich auf deutschem Boden ohne französische Beteiligung Reichteile abspalten (die besetzten Rheinprovinzen), dann ist das nicht Gegenstand des Versailler Vertrages. Der VV enthält keine Bestandsgarantie für das Deutsche Reich.
Positiv formuliert, Frankreich hat auch nach Unterzeichnung des VV das Recht, Gebiete vom Deutschen Reich abzuspalten.

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Die dienten ihm nämlich als Beleg dafür, dass das Reich den Versailler Vertrag freiwillig nicht erfüllen würde, es also militärischer Schutzmaßnahmen für die vielen Kommissionen, die die Erfüllung des Vertrages umsetzen sollten, bedurfte.
Die Erzwingung von Reparationen mag als (fadenscheinige) Begründung für die Besetzung des Ruhrgebietes gelten. Aber als Begründung für die Einrichtung einer seperatistischen Regierung im Rheinland, die von Frankreich zu eben diesem Zeitpunkt lanciert wurde, taugt sie nicht. Hierin zeigt sich das wahre Ziel der Ruhrbesetzung als flankierende Maßnahme zur Abspaltung der Rheinprovinz. Wenn es "nur" um Geld gegangen wäre, hätte Frankreich wohl nicht den Bruch des VV und den Bruch mit England riskiert. Schließlich bot der VV genug legale Handhabe, um die Zahlungen - in Einvernahme mit England - zu erzwingen. Die Abspaltung der Rheinlande war aber nicht einvernehmlich mit GB zu erreichen, also musste Frankreich alleine vorgehen.
 
Nun, ich meine, der VV hat keine solche Garantie dargestellt, nicht was Frankreich angeht. Frankreich hat lediglich durch die Unterzeichnung des VV implizit darauf verzichtet, die Gebiete westlich des Rheins für sein eigenes Staatsgebiet zu beanspruchen. Nicht aber darauf, diese Gebiete vom deutschen Reich abzutrennen. Aus der Tatsache, dass der deutsche Nationalstaat im VV nicht zerschlagen wurde, lässt sich nicht im Umkehrschluß eine Bestandsgarantie herleiten.
Frankreichs Präsident hat das - als die Briten sich über die Einrichtung von separatistischen Regierungen im Rheinland beschwerten - auch sinngemäß so formuliert. Wenn sich auf deutschem Boden ohne französische Beteiligung Reichteile abspalten (die besetzten Rheinprovinzen), dann ist das nicht Gegenstand des Versailler Vertrages. Der VV enthält keine Bestandsgarantie für das Deutsche Reich.
Positiv formuliert, Frankreich hat auch nach Unterzeichnung des VV das Recht, Gebiete vom Deutschen Reich abzuspalten.
Du überspannst die Anforderungen an die Akzeptanz des deutschen Nationalstaates. Hierfür bedurfte es keiner Bestandsgarantie. Die gab es im VV noch nicht einmal für die Siegerstaaten. Die Akzeptanz kann man schon in dem Konsens über das Zustandekommen des VV sehen, der den deutschen Nationalstaat trotz der deutschen Niederlage im deutschen Krieg und den geringen deutschen Einflussmöglichkeiten auf den Inhalt des Vertrages fortbestehen liess. Das war ein ganz beachtliches Ergebnis des VV. Auch deshalb gab es z.B. in Frankreich einen enormen innenpolitischen Streit über die Frage, ob der VV überhaupt ratifiziert werden sollte.
Die Erzwingung von Reparationen mag als (fadenscheinige) Begründung für die Besetzung des Ruhrgebietes gelten. Aber als Begründung für die Einrichtung einer seperatistischen Regierung im Rheinland, die von Frankreich zu eben diesem Zeitpunkt lanciert wurde, taugt sie nicht. Hierin zeigt sich das wahre Ziel der Ruhrbesetzung als flankierende Maßnahme zur Abspaltung der Rheinprovinz. Wenn es "nur" um Geld gegangen wäre, hätte Frankreich wohl nicht den Bruch des VV und den Bruch mit England riskiert. Schließlich bot der VV genug legale Handhabe, um die Zahlungen - in Einvernahme mit England - zu erzwingen. Die Abspaltung der Rheinlande war aber nicht einvernehmlich mit GB zu erreichen, also musste Frankreich alleine vorgehen.
Entscheidend ist doch, wie es Stresemann gelang, die deutsche Einheit zu retten. Er gestand die Niederlage im Ruhrkampf ein und kehrte zum VV zurück. Nun übten auch die Briten Druck auf Frankreich aus, zum VV zurück zu kehren.
 
Du überspannst die Anforderungen an die Akzeptanz des deutschen Nationalstaates. Hierfür bedurfte es keiner Bestandsgarantie. Die gab es im VV noch nicht einmal für die Siegerstaaten.
Aber es gab sie in der Satzung des Völkerbundes, der gewissermaßen Teil des VV war und in dem Deutschland wohlweislich nicht Mitglied werden durfte.

Die Akzeptanz kann man schon in dem Konsens über das Zustandekommen des VV sehen, der den deutschen Nationalstaat trotz der deutschen Niederlage im deutschen Krieg und den geringen deutschen Einflussmöglichkeiten auf den Inhalt des Vertrages fortbestehen liess.
Allerdings haben schon 1871 GB und Russland keinen Finger gerührt, um das Zustandekommen des DR zu verhindern. Frankreich alleine war nicht stark genug, es zu verhindern. Die Frage bleibt also, ob hier 1919 eine substanzielle Verbesserung der Akzeptanz eintritt.
 
Aber es gab sie in der Satzung des Völkerbundes, der gewissermaßen Teil des VV war und in dem Deutschland wohlweislich nicht Mitglied werden durfte.
Wir reden aneinander vorbei. Du meinst wohl die Pflicht, die "Unversehrtheit des Gebiets" und die "bestehende politische Unabhängigkeit" zu achten (Art. 10 VS). Das ist etwas anderes als eine "Bestandsgarantie".
Allerdings haben schon 1871 GB und Russland keinen Finger gerührt, um das Zustandekommen des DR zu verhindern. Frankreich alleine war nicht stark genug, es zu verhindern. Die Frage bleibt also, ob hier 1919 eine substanzielle Verbesserung der Akzeptanz eintritt.
Das sensationelle Ergebnis der Niederlage 1918 war, dass die deutsche Einheit trotz Niederlage fortbestand. Darin liegt die substanzielle Verbesserung gegenüber der 1871 durch einen Sieg erworbenen Einheit.
 
Wir reden aneinander vorbei. Du meinst wohl die Pflicht, die "Unversehrtheit des Gebiets" und die "bestehende politische Unabhängigkeit" zu achten (Art. 10 VS). Das ist etwas anderes als eine "Bestandsgarantie".
Artikel 10.
Die Bundesmitglieder verpflichten sich, die Unversehrtheit des Gebiets und die bestehende politische Unabhängigkeit aller Bundesmitglieder zu achten und gegen jeden äußeren Angriff zu wahren.

Das ist doch ein Bestandsgarantie oder nicht?

Das sensationelle Ergebnis der Niederlage 1918 war, dass die deutsche Einheit trotz Niederlage fortbestand. Darin liegt die substanzielle Verbesserung gegenüber der 1871 durch einen Sieg erworbenen Einheit.
Wenn man davon ausgeht, dass die Zerschlagung Deutschlands 1871 oder später das Ziel der Alliierten gewesen ist. Wilson hat ja während des Krieges die Entente aufgefordert ihre Kriegsziele zu benennen, was diese Januar 1917 gemacht hatte. Von einer Zerschlagung Deutschlands war da nicht die Rede. In den 14 Punkten Wilsons steht ebenfalls nichts davon. Also musste man davon ausgehen, dass es nicht das Ziel der Westmächte ist, die Einheit Deutschlands abzuschaffen. Ein sensationelles Ergebnis war das nicht.
Hat denn die Reichleitung ernsthaft befürchtet, eine Zerschlagung des Reichs liege in der Absicht der Alliierten?
 
Artikel 10.
Die Bundesmitglieder verpflichten sich, die Unversehrtheit des Gebiets und die bestehende politische Unabhängigkeit aller Bundesmitglieder zu achten und gegen jeden äußeren Angriff zu wahren.

Das ist doch ein Bestandsgarantie oder nicht?
Nein, das ist eine Beistandspflicht. Bestandsgarantie würde auch vor Zerfall schützen.
Wenn man davon ausgeht, dass die Zerschlagung Deutschlands 1871 oder später das Ziel der Alliierten gewesen ist. Wilson hat ja während des Krieges die Entente aufgefordert ihre Kriegsziele zu benennen, was diese Januar 1917 gemacht hatte. Von einer Zerschlagung Deutschlands war da nicht die Rede. In den 14 Punkten Wilsons steht ebenfalls nichts davon. Also musste man davon ausgehen, dass es nicht das Ziel der Westmächte ist, die Einheit Deutschlands abzuschaffen. Ein sensationelles Ergebnis war das nicht. Solche Garantien gibt man im Regelfall nicht ab.
Hat denn die Reichleitung ernsthaft befürchtet, eine Zerschlagung des Reichs liege in der Absicht der Alliierten?
Die Sorge, dass nach einer Niederlage Deutschlands in einem großen europäischen Krieg die deutsche Einheit wieder beseitigt würde, hatte seit Bismarck (diesen inklusive) jeder Reichskanzler. Ich habe das in einem meiner letzten Beiträge schon einmal geschrieben. Vor dem Pariser Friedenskongreß forderte eine Denkschrift des französischen Außenministeriums (25.10.1918) die Zerstörung des deutschen Nationalstaates. Am Ende des Kongresses sagte Poincare: „Nun ja, … wir bescheren uns die deutsche Einheit selber“ (Quelle: Klaus Hildebrand, Das vergangene Reich, 1995, S. 390). In Frankreich war man über dieses Ergebnis des VV sehr unzufrieden.
 
Nein, das ist eine Beistandspflicht. Bestandsgarantie würde auch vor Zerfall schützen.
Das wäre aber nur durch massive Eingriffe in die Unabhängigkeit zu machen, womit dann die Achtung der "bestehenden politische Unabhängigkeit" nicht mehr gegeben wäre.

Vor dem Pariser Friedenskongreß forderte eine Denkschrift des französischen Außenministeriums (25.10.1918) die Zerstörung des deutschen Nationalstaates. Am Ende des Kongresses sagte Poincare: „Nun ja, … wir bescheren uns die deutsche Einheit selber“ (Quelle: Klaus Hildebrand, Das vergangene Reich, 1995, S. 390).
Naja, Zitate und Denkschriften, gab es denn eine konkrete Forderung auf der Friedenskonferenz oder vorher von seiten Frankreichs, Deutschland solle zerschlagen werden?
 
[FONT=trebuchet ms, tahoma,verdana,arial,helvetica]In Berlin drängte das Militär unter Moltke tatsächlich darauf die französische Gefahr, die keine war, mit Hilfe eines Präventivkrieges zu beseitigen.[/FONT]

Guten Abend,
ich verstehe diesen Nebensatz nicht bzw. bitte um Belege für diese Aussage.

Frankreich hat schon vor der Revolution den Rhein als seine natürliche Grenze im Osten nicht nur bezeichnet, sondern auch immer entsprechend gehandelt. Sogar noch bis weit in die 1920er Jahre, in denen während der Besatzungszeit des Rheinlandes durch Frankreich die diversen separatistischen Bewegungen unterstützt wurden.

Dies als "französische Gefahr" zu betrachten, halte ich für die damalige Zeit aus Sicht des Deutschen Reiches nur als natürlich und richtig.

Woran, bitte, machen Sie diese Aussage fest?

Preuße
 
Die Ausrichtung des Militärs, wie von Gandolf erwähnt vor allem von Moltke, war ab den Mitte der 70iger Jahre darauf gerichet, im Falle eines Krieges, dem Hauptgegner Frankreich zuvor zukommen. Dieser Präventivschlag ist auch der Grundgedanke des Schlieffenplans.

Allerdings hatte es Bismarck seine Politik nach 1871 geschafft, Frankreich auf dem europäischen Parkett zu "isolieren", somit bestand also eigendlich keine Gefahr, die einen Präventivkrieg gegen Frankreich gerechtfertigt hätte.

Dies gehört allerdings in den Zeitraum von 1871 - 1890, dannach verändert sich die politische Landschaft, durch das Zweierbündnis zwischen Frankreich und Russland.
 
Das Deutsche Reich befand sich 1875 in einer nicht ganz einfachen außenpolitischen Situation.

Russland betrachte das Deutsche Reich immer weniger als Partner und forderte Gefolgschaft. Das wurde schon schnell in der sonst gemeinsamen Unterdrückungspraxis gegenüber der polnischen Nationalbewegung deutlich. Seit Bismarck aber in Rahmen des Kulturkampfes das Polentum bekämpfte, zog sich das Zarenreich zurück. Die Polen wendeten sich sogar an Peterburg mit der Bitte um Hilfe. Bismarck war alles andere als amüsiert. (1) Auch bei einen nciht besonders dramatischen Grenzzwischenfall auf dem Balkan, wo sich das Zarenreich als Beschützer der Christen gebärdete, wurde von Deutschland Gefolgschaft verlangt. Petersburg wollte Deutschalnds starke Stellung deutlich reduzieren und selbst die Vormacht zu werden.

Bismarck Bestreben war die Sicherheit des Deutschen Reichs. Er bekam das Gefühl des Eingekreistseins und so wurde jetzt massiv gegen Staaten agiert, die mit Frankreich oder Russland kooperierten. So wurde die dänische Regierung vor neuen Rüstungsvorhaben deutlich gewarnt. Ebenfalls wurde Brüssel unter Druck gesetzt, um deutschfeindliche Agitation juristisch verfolgen zu können. (2) Das war schon ein massiver Versuch, sich in die inneren Anglegenheiten Belgien einzumischen. Bismarck warb in Wien und London für Unterstützung für sein Vorgehen gegen Brüssel, aber er holte sich eine herbe Abfuhr. Auch Itlaien wurde aufgefordert gegen das Papstum und den Ultramontanismus vorzugehen.

Es war aus Bismarcks Sicht enorm wichtig, Frankreich "klein" zu halten und es auf keinen Fall bündnisfähig ,beispielsweise für Russland, werden zu lassen. Frankreich hat die enormen Reparationen in Höhe von 5 Milliarden Franc bereits 1873, unter tatkräftiger Hilfe der Rothschilds und auch deutscher Investoren, zurückgezahlt. Frankreich erholte sich politisch und vor allem auch wirtschaftlich sehr schnell, für Bismarck und Moltke viel zu schnell, von den Folgen des Kriegs . Diese Erholung schon wurde vom Deutschen Reich als beunruhigend wahrgenommen. Man nahm die Gefahr wahr, Bismarcks absoluter Albtraum, einer mögliche Allianz zwischen Frankreich und Russland, die in dem Bereich des Möglichen lag. So hatte doch der neue russische Botschafter in Paris durchblicken, das Frankreich keine Angst vor dem Deutschen Reich haben müsse.(3)

Große Aufregung in Berlin verursachte, das man in Diözese Nancy für die Wiedervereinigung mit Metz und Straßbrug gebetet hat. Nun wurde massiv gedroht, denn Bismarck ließ seinen Botschafter in Paris der französischen Regierung bestellen, dass das Deutsche Reich nur mit einem Frankreich und nur mit einer solchen französischen Regierung in Frieden bleiben könne, welche uns durch ihre Gesamthaltung Garantien dafür gibt, dass sie den jetzigen politischen zustand Europas als definitiv ansieht.(4)

Man fordertet unter Drohungen von Frankreich sich unterzuordnen und drohte nunmehr oder weniger mit dem Präventivkrieg.

Der nächste Höhepunkt war, als in Frankreich ein neues Kadergesetz verabschiedet wurde. Es sah vor, das die Regimenter nun vier statt bisher drei Regimenter haben sollten. Der deutsche Generalstab, insbesondere der Generalstabschef von Moltke, betrachtete diese Maßnahme als sehr bedeutsam. Man sah nunmehr die große Gefahr das Frankreich im Bunde mit Österreich-Ungarn in der Lage versetzt sein, einen Revanchekrieg durchzuführen. So war der große Aufmacher der Kölnischen zeitung vom 05.April "Neue Allianzen" und wenige Tage später erschien dann der "Ist Krieg in Sicht" Artikel. Das waren natürlich Auftragsarbeiten vom AA. Der Verlauf der Krise ist ja sicher bekannt.


(1) Kanis,Bismarcks Außenpolitik 1870 - 1890, S.86, Paderborn 2004

(2) Kanis,Bismarcks Außenpolitik 1870 - 1890, S.89, Paderborn 2004

(3) Mommsen, Bürgerstolz und Weltmachtstreben, S 262, Berlin 1993

(4) Mommsen, Bürgerstolz und Weltmachtstreben, S 263, Berlin 1993
 
Gandolf schrieb:
Ist der Krieg in Sicht?“, fragte am 8. April 1875 der Publizist Constantin Rößler in der Überschrift seines Artikels, der in der „Post“ erschien. Der Artikel nahm in aufheizendem Ton Bezug auf das französische Kammergesetz, das Frankreichs militärische Schlagkraft erhöhte. Die Zeitung, in der er erschien, war ein regierungsnahes Blatt und wurde häufig für offiziöse Zwecke benutzt. Daher provozierte und alarmierte der Artikel die europäischen Großmächte.

In Berlin drängte das Militär unter Moltke tatsächlich darauf die französische Gefahr, die keine war, mit Hilfe eines Präventivkrieges zu beseitigen. In einem solchen Krieg durfte das erst 1871 gegründete Reich nicht mit Rußlands Neutralität rechnen. Über seinen Gesandten von Radowitz erfuhr Bismarck, dass Rußland nicht bereit war, bei einem deutsch-französischen Krieg Neutralität zu wahren. Selbst das deutsche Versprechen, die Interessen Russlands in Südosteuropa auf Kosten Österreich-Ungarns zu fördern, konnte dem traditionellen Verbündeten Preußens diese Bereitschaft nicht entlocken.

Bismarck nutzte die durch den Zeitungsartikel inszenierte Kriegsgefahr, um die Frage zu klären, wie sich Europa verhalten würde, wenn Deutschland Frankreich ernsthaft drohte und die Rücknahme des Kadergesetzes verlangte.
Frankreich konnte dieser Forderung nicht nachgeben. Es wäre zu einer Mittelmacht abgestiegen.
Doch es zeigte sich, dass auch die miteinander zerstrittenen Flügelmächte Europas, England und Rußland, einen solchen Abstieg Frankreichs nicht akzeptieren konnten. Diese hätten einen möglichen Verbündeten verloren. So kamen England und Rußland notgedrungen gemeinsam dem ihnen bedroht vorkommenden Frankreich zu Hilfe. Sie bestanden darauf, ohne jedes Wenn und Aber, „ein Frankreich auf der Karte Europas“ zu sehen, „um das Gleichgewicht aufrechtzuerhalten“, wie sich der russische Kanzler Gortschakow 1875 in Berlin ausdrückte.


Hierzu ist aber noch anzumerken, dass der Frankfurter Friede für Frankreich zu jener Zeit sicher nicht das letzte Wort war. Die unselige Annektierung von Elsass Lothringen durch das Deutsche Reich war für Frankreich auf Dauer unakzeptabel. Und das die umfänglichen französischen Rüstungen, der Wiederaufbau und die Reorganisierung der französischen Armee Anlass zur Sorge waren, ist durchaus nachvollziehbar.

Für Bismarck, das war ihm sicher auch selbst bewusst, war eine direkte Konfrontation mit Frankreich nicht gangbar, denn das würde Großbritannien und noch mehr Rußland zu einer Stellungnahme zuungunsten des Deutschen Reiches provozieren. Auch stellt sich die Frage, ob die verbalen Drohgebärden Bismarcks nicht einfach nur der Beruhigung der erhitzten Gemüter daheim dienten, also innenpolitisch motiviert waren? Es wurde ja auch schon ein Pferdeausfuhrverbot erlassen, was das Publikum zufriedenstellte; von den Händlern einmal abgesehen.

Gortschakow hat dann später mit seinem Zirkularerlass an die russischen Botschaften vom 09.und 10.Mai 1875 Bismarck ja auch ganz schön gedemütigt, er reklamierte den Erhalt des Friedens als ausschließlichen Verdienst des Zaren. Gortschakow erwartete vom Deutschen Reich Gefolgschaft und Bismarck verlangte Reziprozität. Jedenfalls hat Bismarck Gortschakow die nie verziehen. Die Quittung kam dann 1878 auf dem Berliner Kongress.
 
Zuletzt bearbeitet:
Gandolf schrieb:
Eigentlich würde ich viel lieber über die Frage diskutieren, ob die deutschen Regierungen nach Bismarck aus dessen "Lehrstück für die Zukunft" die richtigen Schlüsse gezogen haben.

Diese Frage kann man getrost verneinen. Warum? Die deutschen Regierungen haben Bismarcks Grundsatz, das Deutsche Reich ist saturiert, einfach über Bord geschmissen. Es wurde der Status als Weltmach anvisiert, man begann eine Flotte von enormen Ausmaßen zu bauen, man begann "Weltpolitik" zu treiben, Waldersee fragt noch in seinem Tagebuch, was das überhaupt sei?, man mischte sich in allen möglichen diplomatischen Frage ein. Und das schlimmste dabei war, das die kaiserliche Diplomatie dabei auch noch recht plump und ungeschickt vorging.

Als Großbritannien seine selbst gewählte Splendid Isolation verließ und sich nacheinander mit den USA, Japan, Frankreich und schließlich auch noch dem Zaren arrangierte und langsam mit Frankreich auch militärische Absprachen traf, wurde man in Berlin, nicht ganz unverständlich, ziemlich nervös. Der Begriff der Einkreisung begann die Runde zu machen und soo ganz unzutreffend wa er auch nicht; auch, das möchte ich hier ausdrücklich betonnen, dies nicht die Zielsetzung der britischen Außpolitik unter Grey gewesen war. Aber es gab auch in London mahnende Stimmen. Zu nennen ist hier beispielsweise der Vorgänger im Amte von Grey Landsdowne.
 
Turgot schrieb:
Es war aus Bismarcks Sicht enorm wichtig, Frankreich "klein" zu halten und es auf keinen Fall bündnisfähig ,beispielsweise für Russland, werden zu lassen. Frankreich hat die enormen Reparationen in Höhe von 5 Milliarden Franc bereits 1873, unter tatkräftiger Hilfe der Rothschilds und auch deutscher Investoren, zurückgezahlt. Frankreich erholte sich politisch und vor allem auch wirtschaftlich sehr schnell, für Bismarck und Moltke viel zu schnell, von den Folgen des Kriegs . Diese Erholung schon wurde vom Deutschen Reich als beunruhigend wahrgenommen. Man nahm die Gefahr wahr, Bismarcks absoluter Albtraum, einer mögliche Allianz zwischen Frankreich und Russland, die in dem Bereich des Möglichen lag. So hatte doch der neue russische Botschafter in Paris durchblicken, das Frankreich keine Angst vor dem Deutschen Reich haben müsse


Hierdurch verengte sich der Spielraum der deutschen Außenpolitik wieder sehr deutlich. In den vergangenen Monaten hatte Bismarck eine außenpolitische Schlappe nach der anderen einfahren müssen.

So konnte er in der Frage der spanischen Thronfolge eben nicht das einvernehmliche Auftreten und Agieren der drei Kaiserreiche sicherstellen, die Regelung der Affäre Rosen in Belgrad war nicht so, wie man es hätte unter Verbündeten annehmen dürfen, die Polenproblematik wurde von den Russen „verniedlicht“ und die Nordschleswig Frage war immer noch nicht aus der Weltgeschafft.

Auch der k.u.k. Außenminister Andrassy war nicht so kooperativ, obwohl er ja eigentlich von Bismarck etwas wollte, nämlich das Bündnis mit dem Reich und Großbritannien, wie es man sich in der Wilhelmstraße gewünscht hätte.

In dieser Situation, die Krieg-in-Sicht-Krise war vielleicht Anlass aber nicht Ursache, schickte Bismarck den jungen aber fähigen Diplomaten Radowitz nach Russland. Er sollte dort an Stelle von Reuß, der erkrankt war, tätig werden. Alvensleben ließ sich von Gortschakow regelmäßig überfahren.

Diese Mission sorgte in Europa für nicht unerhebliche Beunruhigung. Im Prinzip ging es darum, das Bismarck die gespannte Atmosphäre zwischen der Sängerbrücke und der Wilhelmstraße beruhigen wollte, aber auch entsprechend Reziprozität einforderte.

Die weitergehende Intention Bismarcks dürfte wohl gewesen sein, das er bereit war, den Russen auf dem Balkan freie Hand zu lassen und dafür aber im Westen Handlungsfreiheit in Anspruch nehmen wollte. Es ging hier also wohl auch in gewisser Weise um die Teilung de Vorherrschaft in Europa zwischen dem Deutschen Reich und dem Zarenreich. Nur war das mit Gortschakow nicht zu machen, denn er nahm dies für Russland allein in Anspruch und Deutschland hatte Folge zu leisten.

Pikant dabei ist, dass Bismarck zu jener Zeit ganz offenkundig bereit war, die Interessen Österreich-Ungarns dabei vollkommen außer Acht zu lassen.
 
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