Unterschied von Islamwissenschaft / Orientalistik und islamischer Theologie

lynxxx

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Vielleicht möchte ja mal jemand tatsächlich sowas studieren (ist sehr schwer!) und sollte daher wissen, was der Unterschied ist?

Was ist Islamwissenschaft/Orientalistik und was ist "islamische Theologie"?

Definition und Konzept der Islamwissenschaft:

Wie definiert man "Islam" in der Islamwissenschaft?

Meint man eine theologische Tradition, meint man ein Rechtssystem, Gesellschaftsordnung, usw.?

Der Begriff "Islam" wird unter anderem als ein Zeichensystem aufgefasst, das Menschen benutzen um Identität zu stiften, um zu kommunizieren und um sich in der Welt gerade auch zeitlich zu verorten.
Darunter kann man dann auch die theologische Tradition, Rechtssystem, usw. verstehen. Darunter fällt dann auch die Dimension der historisch gewachsenen Erfahrung der Menschen.

Damit geraten automatisch die Menschen in den Mittelpunkt der Forschung, und weniger ein überzeitlicher Gegenstand "Islam". Damit ist auch ausgeschlossen, dass man essentialisiert. Denn Identitätstiftungen und Kommunikation verändern sich im Laufe der Geschichte.

Es geht also hier nicht darum festzulegen oder herauszufinden, was "der Islam" ist (wie z.B. im 19. Jh. das die Orientalisten wollten), sondern wie Muslime im Laufe der Geschichte definiert haben was es bedeutet, Muslim zu sein.

Damit hat man mit diesem definitorischem Problem auch das konzeptionelle Problem gelöst.

Würde man nämlich sagen, wir wollen eine Geschichte eines Gegenstandes namens Islam betrachten, würde man damit sagen, dass "der Islam" an irgendeinem Punkt in diese Welt gekommen ist. Und dann würde man damit definieren, dass an einem bestimmten Punkt ein Kern, ein "Ideal" namens "Islam" existierte und alles weitere würde dann nur noch zu erklären sein aus diesem Kern heraus. Das würde bedeuten, dass Veränderungen nur noch als Abweichungen dieses Ideals gesehen würden, als Verfallserscheinungen des Ideals. Man würde also einen "Charakterkern" einer "Person" namens "Islam" herauspräparieren wollen, und würde damit genau in die veralteten Denkstrukturen verfallen, wie im 19. Jahrhundert, als gefragt wurde, was den Charakter eines Franzosen, eines Deutschen. ausmache und als Nationen ein Verhalten wie Personen unterstellt wurde (Franzosentum, Deutschtum, etc.). Dann müsste man fragen, was der "Charakter des Islam" sei.
Das Problem dieses veralteten Vorgehens des 19. Jh. ist schlichtweg, dass sie den empirischen Tatsachen und Quellenfunden nicht standgehalten haben.
Ein Beispiel: Das Rechtssystem des Islam ist zu Zeiten der Hidschra noch gar nicht voll ausgearbeitet, bedeutet es nun, es gehört nicht zum "Charakter des Islam"?

Es wird im Fach Sprache, Geschichte und Kulturen des Nahen Osten studiert. In der Reihenfolge ihrer Gewichtung aufgezählt.



Ausflug: Definition von Kultur

Die ersten beiden Begriffe sind klarer. Größere Schwierigkeiten hat man mit der Definition von Kultur. Annäherungsweise kann man sagen, dass Kultur die Gesamtheit von Kommunikationstechniken und -systemen derer sich die Menschen bedienen und bedienen müssen ist. Der Mensch ist ein soziales Wesen. Als soziales Wesen muss der Mensch kommunizieren. Damit einher geht das Erlernen von einem vielschichtigen Satz von Techniken und Strategien um zu kommunizieren, also eines komplexen Gesamtsystems, was ein Kind tagtäglich erlernt (Sprache, Mimik, Wortbedeutungen, etc.). Dazu muss vorher ein gemeinsamer Nenner gegeben sein, indem die Kultur als selbstverständlich und nicht fremd angesehen werden, damit man sich überhaupt versteht, also ein Satz von Vorannahmen.
Einfachstes Beispiel ist die Sprache. Ein Kleinkind könnte z.B. alle Laute aller Sprachen aussprechen, z.B. das berühmte Ayn des Arabischen. Der Vorgang des Erlernens des Kommunikationssystem Kultur ist nichts weiter ein langgezogener Prozess des Verlernens, des Vergessens, so dass wir heute das Ayn erst mühsam wieder erlernen müssen. Kultur ist praktisch ein Betriebssystem des Menschen, dass man nicht bemerkt, man bemerkt es erst, wenn etwas fremd erscheint, z.B. der arabische Buchstabe Ayn.

Im 19. Jh. dominierten Theorien, indem die Unterschiede der Völker (rassistisch) durch die Biologie (Gene) und das Klima erklärt wurden. Als eine Kombination der beiden (Rassentheorie). Sie gingen davon aus, ohne es zu beweisen, dass Rassen existierten, in einer Rangfolge von höherwertig und niedrig geordnet.

Dann kam die Theorie auf, dass Menschen sich weltweit unterscheiden, weil sie unterschiedliche Kulturen entwickelten. Da Kultur von Kindheit an angelernt ist, unterscheidet es sich fundamental von der vorigen Rassen-Theorie. Es ist also nicht mehr quasi ein Naturgesetz, dass ein Mensch von Geburt an dumm, schlau, faul, fleissig ist, sondern es hängt davon ab, in welcher Kultur das Kind aufwächst. Menschen und Völker können also ihre Verhaltensweisen und charakteristischen Eigenschaften im Laufe der Zeit verändern. Kultur ist also nicht statisch (wiewohl er heute oft statisch verwendet wird, siehe deutsche Leitkulturdebatte).

Dann kamen in den letzten 20-30 Jahren weitere Theorien hinzu, um die Vergangenheit besser erklären zu können, die ich hier nur anschneide:
Konstruktivistische Ansätze, also moderne Nationen sind konstruiert:

- Imagined Communities (Vorgestellte Gemeinschaften) von Benedict Anderson:
Nationen sind vorgestellte Gemeinschaften, nicht naturgegeben, erst entstanden im 18./19. Jh. mit der Verbreitung von Massenmedien (Zeitungen), die ein Gemeinschaftsgefühl produzierten.

-Invented Traditions (Erfundene Traditionen) von Habsbawm/Ranger:
Nationalismen brauchen Symbole zur Identifikation, die für sich beanspruchen müssen, der Nation bereits vorauszugehen. Z.B. ist der Schottenrock erst im 19. Jh. richtig populär und als typisches Merkmal der Schotten in Erscheinung getreten, es war quasi eine Schreibtischtat, eine erfundene Tradition wie der Dudelsack. Geschaffen, um Identität zu stiften. "Braveheart" trug noch keinen Schottenrock.

Bislang nahm man im 19. und Anfang des 20. Jh. an, Nationen gäbe es schon lange, und sie formierten sich nach der französischen Revolution 1789. Es hätte also schon lange eine französische, eine deutsche, eine schottische Nation gegeben, und nun im 19. fand diese Nation im Nationalstaat einen Rahmen, der dieser Nation entspräche. Diese veralteten Vorstellungen erzeugten Legitimität.



Was ist Islamwissenschaft nicht?

Er ist kein Theologiestudium. Es ist keine Werte vermittelnde Wissenschaft.

Es ist ein philologisch, soziologisch, historisch arbeitender Studiengang. Deshalb kann es auch nicht das Thema der Islamwissenschaft sein, was "Wahrheit" ist, es kann auch nicht das Thema sein, wer "Recht" hat (z.B. die Schiiten oder die Sunniten), denn diese Fragen kann die Islamwissenschaft in dieser Form nicht beantworten, weil es das Fach mit seinen Methoden einfach nicht hergibt.

In der islamischen Theologie hat man z.B. kaum oder nicht in dieser Gewichtung Elemente enthalten, die Geschichte thematisiert. Es gibt in der islamischen Theologie auch kaum oder selten Soziologie. (Nur in der Türkei gibt es da eine größere Gewichtung der Soziologie in der islamischen Theologie).

An der Fakultät der islamischen Theologie der Al Azhar in Kairo wird faktisch was anderes gelehrt, als in der Islamwissenschaft. Es werden dort nicht historisch oder soziologisch Dinge betrachtet.

Deshalb ist es auch kein Wunder, wenn Uni-Scheine der Al Azhar Universität in der Islamwissenschaft in Deutschland z.T . nicht angenommen werden können, weil es eben ein anderer Studiengang ist. Da gibt es immer wieder Mißverständnisse und Unkenntnis.

Wer mal Studienpläne im Vergleich der Scharia-Fakultät der Al-Azhar Universität in Kairo mit der Islamwissenschaft in Tübingen sehen will, der schaue in die Onlinevorlesung in unten stehendem Link, 1. Stunde, und springe zu 1 Std. und 17 Minuten vor.


Wer obiges nicht lesen, sondern eher hören möchte, der kann sich die Online-Vorlesung: Einführung in die Geschichte und Kulturen des Nahen Ostens II, 1. Stunde reinziehen, besonders ab der Minute 40 etwa ist obiges entnommen. Davor ist die (etwas langweiligere) Geschichte des Faches erläutert, inkl. ihrer ideologischen und politischen Verschränkungen.

Hier kann man auch mal reinhören, es befasst sich allgemeiner mit praktischer Studienberatung auseinander, und zwar für die Turkologie, Iranistik und die Islamwissenschaft:
Podcast: Prof. Dr. Raoul Motika: Von Türken, Derwischen und jungen Tigern - Studium der Orientwissenschaften in Hamburg


:winke:
 
Bitte nimm mir das nicht für Übel.

Ich dachte eben, als ich das las, deine Signatur sagt doch fast das selbe aus.

"Serben, Vlachen, Albaner und andere haben sich fast unentwirrbar vermischt
 
Zuletzt bearbeitet:
Ich möchte die Diskutierenden sehr bitten, Metadiskussionen nicht im Pfad zu führen, sondern die Schwierigkeiten per PN zu klären. (Das dies aber auch noch altgedienten Forianern nochmal gesagt werden muß..... :nono: ) Danke!
 
Würde man nämlich sagen, wir wollen eine Geschichte eines Gegenstandes namens Islam betrachten, würde man damit sagen, dass "der Islam" an irgendeinem Punkt in diese Welt gekommen ist. Und dann würde man damit definieren, dass an einem bestimmten Punkt ein Kern, ein "Ideal" namens "Islam" existierte und alles weitere würde dann nur noch zu erklären sein aus diesem Kern heraus.

Es gibt keinen Zweifel, dass Religionen (so wie alles andere auch) einem geschichtlichen Wandel unterliegen und es keinen überzeitlichen, abgeschlossenen Ideal-Gegenstand "Islam" gibt. (Strenggläubige Muslime werden es anders sehen, nicht aber Historiker.) Nur sollte man darüber zweierlei nicht übersehen:

1) Einen "Kern" gibt es sehr wohl, nämlich die Mohammed seiner Überzeugung nach zuteil gewordene Offenbarung. Wer diese Überzeugung nicht teilt und sich nicht auf als Gläubige/r auf diese Offenbarung bezieht, wird schwerlich als Muslim bezeichnet werden können. Darauf können wir uns sicher einigen, denn ich würde selbstverständlich auch zustimmen, dass dieser Kern - nennen wir ihn "Ur-Islam" - nicht einfach mit "dem Islam" identisch ist bzw. dass es irrig wäre, den spätere Islam (egal an welchem Ort, egal zu welcher Zeit) ohne weiteres aus dem Ur-Islam ableiten zu wollen. Allerdings kann ich deiner folgenden Aussage nicht zustimmen:

Das würde bedeuten, dass Veränderungen nur noch als Abweichungen dieses Ideals gesehen würden, als Verfallserscheinungen des Ideals.

Das trifft nur zu, wenn man sich selbst in strengem Glauben zum Ur-Islam bekennt oder diesen aus anderen Gründen bewundert! Man kann Abweichungen von Idealen des Ur-Islam ja auch sachlich konstatieren und sie nicht etwa als Verfall bewerten, sondern sie stattdessen neutral sehen oder sogar für Verbesserungen halten.

2) Worauf ich eigentlich hinaus will: Religionen (besser gesagt: Gesellschaften, Kulturen im allgemeinen) sind natürlich dem historischen Wandel unterworfen und neigen dazu, im Nachhinein alte Traditionen und überkommene Texte umzuinterpretieren - gemäß ihrer neueren Bedürfnissen, ihrer gegenwärtigen Geisteswelt etc. Konkret gesagt werden dann z.B. moderne Vorstellungen in antike Texte hineininterpretiert, um das Alte (sei es Jesus oder Mohammed oder wer auch immer) mit dem Neuen in Übereinstimmung zu bringen bzw. es zumindest vereinbar zu machen. Das ist im Interesse der (Religions)gemeinschaft legitim, aber aus Sicht der Geschichtswissenschaft unseriös, weil man in Wirklichkeit ja nur die Tradition so umbiegt, dass sie einem in den Kram passt. Historikerinnen und Historiker sind dagegen berufen, festzustellen, was Jesus oder Mohammed (oder irgendeine andere historische Persönlichkeit) wirklich gelehrt und gedacht hat (so weit sich das anhand von Quellen eruieren lässt - diese Einschränkung gilt in vollem Umfang!).
Ein hypothetisches Beispiel: Wenn heutige Muslime davon überzeugt wären, der Islam fordere die Gewaltlosigkeit, weil Mohammed gelehrt habe, die andere Back hinzuhalten (die überlieferten Kämpfe Mohammeds hätten dagegen nie stattgefunden, sondern seien rein allegorisch zu verstehen), so können sie das zwar glauben, wenn es ihnen gefällt, wir aber müssten klar und unmissverständlich festhalten, dass das im Widerspruch zu den Methoden und Erkenntnissen der Geschichtswissenschaft steht, anders gesagt: Dass es historisch falsch ist.
Kurz: Es geht nicht an, den Islam auf einen idealen Kern zu reduzieren; es geht aber auch nicht an, aus dem Islam zu machen, was man will, und sich dabei in Übereinstimmung mit der Faktenlage zu wähnen.

Dann kam die Theorie auf, dass Menschen sich weltweit unterscheiden, weil sie unterschiedliche Kulturen entwickelten. Da Kultur von Kindheit an angelernt ist, unterscheidet es sich fundamental von der vorigen Rassen-Theorie.


Nur bleibt da die Frage offen, warum denn Menschen weltweit unterschiedliche Kulturen entwickeln. Für Erklärungsversuche könnte man z.B. wiederum Gene oder Klima in Betracht ziehen, sodass man dem Problem mit der "Kultur-Theorie" (die eigentlich nichts anderes ist als die altbekannte Milieu-Theorie) nicht grundsätzlich entkommt.

Es ist also nicht mehr quasi ein Naturgesetz, dass ein Mensch von Geburt an dumm, schlau, faul, fleissig ist, sondern es hängt davon ab, in welcher Kultur das Kind aufwächst.


Ich will nur festhalten, dass man die Milieu-Theorie auch bezweifeln und es für eine Tatsache halten kann, dass Intelligenz und Charaktereigenschaften sehr stark genetisch bedingt sind, ohne deswegen eine Rassenlehre oder ein Stufenmodell der Rassen zu verfechten. Das gilt sowohl in Hinsicht auf Individuen als auch auf Populationen. Ist es Rassismus, wenn man annimmt, dass in manchen Familien und in manchen Populationen bestimmte Gene oder Genkombinationen, die sich günstig auf mathematische oder künstlerische Leistungen auswirken, häufig auftreten, als in anderen?
 
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