"Geschichte ist eine Lüge, auf die man sich geeinigt hat"
Weil das Zitat in diesem Forum kürzlich wieder einmal benutzt wurde, hier ein paar Anmerkungen dazu:
Wir wissen nicht genau, was Napoleon damals auf St. Helena sagte. Es ist uns durch Emmanuel de Las Cases überliefert, der in seinen Gesprächsnotizen festhielt:
Mais qu’est alors cette vérité historique, la plupart du temps? Une fable convenue. Ainsi qu’on l’a dit fort ingénieusement…
Aber was ist nun meistens diese historische Wahrheit? Eine Fabel, auf die man sich geeinigt hat. Wie schon sehr genial gesagt wurde...
Napoleon zitierte also jemanden, den er nicht näher benannte.
Etwas ähnliches findet man früher (1764) bei Voltaire, oft als Urheber dieses Zitats benannt, in seiner Erzählung "Jeannot et Colin" in dieser Form:
Toutes les histoires anciennes, comme le disait un de nos beaux esprits, ne font que des fables convenues; et pour les modernes c’est un chaos qu’on ne peut débrouiller.
Wie schon einer unserer gescheiten Leute sagte, sind alle alten Geschichten nur Fabeln, auf die man sich geeinigt hat; und die modernen sind ein Chaos, das man nicht entwirren kann.
Auch er zitierte jemanden, benannte den Urheber aber erst 1768 in einem Brief an Horace Walpole:
J’ai toujours pensé, comme vous, qu’il faut se défier de toutes les histoires anciennes.
Fontenelle, ... , disait qu’elles étaient des fables convenues;
Ich habe, wie Sie, schon immer gedacht, dass man all diesen alten Geschichten misstrauen sollte.
Fontenelle, ..., sagte, dass sie Fabeln seien, auf die man sich geeinigt hat.
Es war also Bernard Le Bovier de Fontenelle. Er schrieb 1724 in dem Essay "De l'Origine des Fables":
Car les Fables des Grecs n’étoient pas comme nos Romans qu’on nous donne pour ce qu’ils sont, & non pas pour des Histoires; il n’y a point d’autres Histoires anciennes que les Fables.
Denn die Fabeln der Griechen waren nicht wie unsere Romane, die man uns als das, was sie sind, und nicht als wahre Geschichten verkauft. Es gibt keine anderen wahren alten Geschichten, ausser diese Fabeln.
Soweit die Geschichte des Napoleon-Zitats.
Meine Einschätzung ist, dass sowohl Fontenelle wie auch Voltaire keineswegs Historiker-Bashing betrieben. Ihre Aussagen sind eher ein Hilfeschrei geschichtlich Interessierter. Sie beklagen sich, dass es keine Tatsachenberichte aus der Antike gäbe, sondern nur Mythen, gegen die es schwer ist anzukämpfen. Das Wort "convenues", also"..auf die man sich geeinigt hat" bringt Voltaire zum ersten Mal, bezieht sich aber mMn nicht auf den Inhalt der Geschichten sondern auf deren Akzeptierung als zu erforschende Quellen.
Erst Napoleon macht aus den alten Geschichten die gesamte geschichtliche Wahrheit, spricht aber noch nicht von einer Lüge, wenn er es denn wirklich so sagte.
Das Wort "Lüge" findet man nachgewiesen 1881 bei Wendell Phillips in einer Rede in Boston:
...neither is it that last year’s almanac of dates, or series of lies agreed upon, which we so often mistake for history.
...noch ist es der letztjährige Almanach mit Daten oder Serien von Lügen, auf die man sich geeinigt hat, welche wir so oft für Geschichte halten.
Kurz: Urheber des Zitats, so wie es heute benutzt wird, sind mMn weder Napoleon, noch Voltaire.
Wenn wir gerade dabei sind und weil es zum Zitat passt:
In
Arthur Wellesley, 1. Duke of Wellington – Wikipedia wird das Zitat Arthur Wellesley, dem 1. Duke of Wellington zugeschrieben.
Quellen:
Mémorial de Sainte Hélène: Journal de la Vie Privée et des Conversations de l’Empereur Napoléon, à Sainte Hélène par Le Comte de Las Cases, Band 4, Abschnitt 7, Seite 238
Mémorial de Sainte Hélène
Oeuvres Diverses de M. De Fontenelle, Band 1, De L’Origine des Fables, Seite 329
Oeuvres diverses