Kontext Völkerwanderung:
Wirklich sehr schöner Beitrag von Dieter! Kann ich nur unterstreichen.
Generell sollte man auch unterscheiden von der Art des Nomadismus. Es können auch wandernde Hirten mit ihren Schafen sein, doch was man normalerweise unter Nomaden versteht, ist ohne (teils zusätzliche) Reit-/Zugtiere nicht möglich. Das klassische Tier dafür ist das Pferd, durch welches die Nomaden in der Regel erst ihre ausgedehnten Wanderungen durchführen können und um Weidegebiete zu nutzen, die sonst nicht wirtschaftlich zu erreichen sind (Saisonweiden). In der Tundra spielt das Pferd keine Rolle und es sind Rentiere, die gleichermaßen den Reichtum der Herden bilden, als auch Transportmittel bilden. Auf weitere Tiere mag ich nicht eingehen, denn die klassisch- antiken Nomaden sind nun einmal die Steppennomaden als Reiter!
Wenn der Bauer sein Land bestellt und dadurch seinen Lebensunterhalt erwirtschaftet, entwickelten sich rasch Städte und Reiche. Sie alle basierten letztlich auf der Tätigkeit des Bauern. Landbesitz war die Grundlage des Reichtums, noch vor Handwerk oder Handel. Egal ob altorientalisch/ägyptische „Tempelstadt“, antike Polis, römische Republik oder mittelalterliches Feudalsystem: Sie alle basieren auf Landbesitz und Verfügungsgewalt darüber. Erinnert sei nur daran, dass es für einen römischen Senator nicht als Standesgemäß galt, seinen Lebensunterhalt durch für ihn arbeitende Handwerker oder Händler zu bestreiten (und Senator zu werden hing unter Anderem von persönlichem Reichtum ab!); die einzige Art „anständig“ Geld zu verdienen war über Landbesitz! So gab es sogar Vorschriften wie viel Land ein solcher Senator in Italien zu bewirtschaften hatte…
Das ist der vollkommenste, denkbare Gegensatz zum Reiternomaden! Ihm bedeutet Land nur so lange etwas, wie er es beweidet, es wird erst durch seine Tiere wertvoll und diese hegt, pflegt und zählt er ständig. Schon in der Bibel zählen die Patriarchen gerne ihre Tiere, obwohl sie (wohl) Hirtennomaden waren und keine Reiternomaden. Die „reisende“ Lebensweise macht Nomaden zu natürlichen Händlern, zumal sie selbst oft genug auf Produkte von Sesshaften angewiesen sind – oder besser Bedarf danach haben! Neben dem Besitz von Tieren ist die Beherrschung von Menschen für die Clanführer der Reiternomaden sehr wichtig, denn sie sind ebenso wie die Weiden aus ihrer Sicht „Produktionskapital“, durch welche sich ihr Tierreichtum und ihr Ansehen mehren lassen lässt. Daher ist der ständig in der Literatur anzutreffende „Menschenraub“ der Nomaden (sprich Versklavung) zu erklären. Dabei sind aber nur Menschen wertvoll, die Produktiv sein können. Bei den bereits von Dieter angesprochenen Überfällen auf Sesshafte, können etwa Städte, deren Bewohner sie nicht alle mit sich schleppen können, eine grausige Behandlung erfahren haben. Dergleichen ist daher nicht zuletzt etwa im Kontext mit dem Hunnensturm der Völkerwanderungszeit zu finden.
Hierbei finden sich auch Beispiele von Völkern, die (wieder) sesshaft werden. Das passt sehr gut in manche Diskussion die im Bereich Völkerwanderung hier anzutreffen sind. Es gibt verschiedene Abstufungen des Nomadismus. Die Hunnen kamen aus der Steppenwelt des Ostens und lebten von ihrem Vieh, waren berüchtigte Reiter, kämpften vor allem mit dem Bogen (und erst dann mit dem Schwert), kannten keinen Landbesitz und strebten ihn Anfangs in Europa wohl auch kaum an. Sie gingen unter, als sie sich nicht erfolgreich in die europäische Völkerwelt integrieren konnten.
Ein anderes Beispiel sind die Ostgermanen, früher teils auch als „gotische Völker“ bezeichnet. Zu ihnen gehören vor allem West- & Ostgoten, Vandalen und Gepiden. Als die Hunnen kamen waren Teile von ihnen (etwa Terwingen, oder „Westgoten“) noch eindeutig Bauernkulturen, während weiter östlich lebende Gruppen (etwa Greutungen, oder „Ostgoten“) schon zu großen Teilen verreitert waren. Diese Verreiterung ging aber nicht so weit wie bei den Hunnen, sondern kannte wohl auch eher sesshaftes Leben, wenn wir auch keine Details kennen. Die verreiterten Ostgermanen kannten weiterhin Landbesitz (strebten ihn etwa im Kontext mit dem Römischen Reich zumindest ständig an!!), waren ebenfalls berüchtigte Reiter, kämpften aber vor allem mit Reiterlanze und Schwert. Diese Lebensform nahmen zeitweilig alle „wandernden Ostgermanenvölker“ an.
Die Vandalen etwa marschierten zuerst nach Spanien, als sie Gallien verheert hatten und ließen sich dort auch als Bauern nieder, denn sie verkauften den nach der Plünderung Roms nach Südfrankreich im Konflikt mit Rom abgezogenen Westgoten zu überteuerten Preisen Getreide! Nachdem sie sich Nordafrikas bemächtigt hatten, nahmen sie sich wieder Landbesitz als Grundlage ihres Lebens. Obwohl sie in militärischem Sinne (wie die genannten Goten) verreitert waren, ja allein in Afrika eine jahrzehntelange Wanderung hinter sich hatten, basierte ihr Leben auf den Abgaben des Landes. Bei Ost- und Westgoten war es vergleichbar, nur das diese ihre Ländereien meist als Gegenleistung für ihren Militärdienst zur Nutzung überlassen bekamen. Wenn sie allerdings wollten, zahlten sie den eigentlichen, römischen Eigentümern ungefragt eine festgelegte Ablösesumme und damit hatten sie das Land auch als rechtliche Eigentümer übernommen.
Während also Ostgermanen anscheinend nur wenige Probleme dabei hatten zuerst zu „Nomaden“ zu werden und anschließend wieder sesshaft zu werden, scheiterten „echte“ Nomaden wie die Hunnen dabei sich umzustellen. Die nach den Hunnen eintreffenden Awaren machten kompromisse und passten ihre Lebensweise teilweise an, gingen dann aber politisch unter, da es ihnen an bestimmten, im damaligen Europa wohl notwendigen Anpassungen ihrer politischen Struktur fehlte. Erst bei der nächsten Reiterwelle: Den Ungarn gelang dies erfolgreich, indem sie eine sesshafte Lebensweise annahmen, sich christianisieren ließen und ein Feudalsystem ausbildeten.
Dieter schrieb:
Zu betonen wäre noch, dass die Reiternomaden die Ausbeutung sesshafter Völker keineswegs als Unrecht oder Makel empfanden, sondern ganz im Gegenteil einen reichen Beutezug als besonderen Gunsterweis der Götter betrachteten und die Bedeutung des Einzelnen um so höher schätzten, je mehr Beute er heimbrachte. Das Wertesystem und der Moralkodex waren somit von dem sesshafter Völker fundamental verschieden.
Und hier sind wir schon nahe am Kriegerideal der Völkerwanderungszeit. Dieses Kriegertum wurde von vielen kriegerischen Völkern mit einem entsprechenden Ehrbegriff geteilt, auch ohne „echte Nomaden“ zu sein. Das ermöglichte sowohl eine ethnische, als auch eine gewisse soziale Mobilität in solchen Gesellschaften. „Völkische“ Abstammung war für gewöhnliche Volksangehörige/Krieger kein Hinderungsgrund für die Aufnahme in wandernde Stämme. Sowohl in die Reihen der Goten, Hunnen als auch anderer Völker wurden fremde Ethnien aufgenommen: Als Einzelperson ebenso wie als Teilgruppen. Ethnische Barrieren scheinen sich in Bauerngesellschaften und auch bei sesshafter Lebensweise deutlich stärker auszuwirken als bei „frei ziehenden Nomaden“…
@Reinecke:
Ist zwar richtig, aber eingehegte Ackerflächen in großem Umfang kannte die Antike nicht. Dazu musste erst der "Stacheldrahtzaun" erfunden werden. Vorher gab es vielleicht Gebiete, die nicht leicht durchzogen werden konnten, aber keeine großflächige Abgrenzung. Natürlich sind Oasen/Wasserlöcher oder wichtige Raststationen ihrer saisonalen Wanderungen durch Bauernbesiedlung eine praktisch gleichbedeutende Einengung ihrer Lebensgewohnheiten. Sie werden aber in der Lage gewesen sein ihre Ansprüche kurzerhand durchzusetzen...