...doch tue ich mir schwer mit der Frage nach den "Ursachen". Der Begriff "Ursache" erscheint mir als zu sehr kausal gedacht; nach dem Prinzip: Ursache - Wirkung. ... Und damit ganz philosophisch: Kann man immer abstrakt sagen, dass man alles ganz einfach auf "Ursache-Wirkung" runterbrechen kann?
Ich bin eben so skeptisch wie Du und schlage vor, nicht am Ursache-Wirkung-Paradigma zu kleben - sonst landen wir unweigerlich bei der aristolischen Unterscheidung (Causa formalis, c. materialis, c. efficiens und c. finalis) oder beim dialektischen Materialismus oder bei der Quantenmechanik... [1]
Ich würde meinen, die Ursache für die Aufklärung ist so banal, dass sie in diesem Thread bisher übersehen wurde. ... sollten wir als Ursache der Aufklärung weniger den wesentlichen Gedankenanstoß suchen, als die Gründe dafür, dass das System der geistigen Unterdrückung soweit an Kraft verlor, dass die Menschen sich wieder trauten, sich diesem Korsett zu widersetzen und schließlich über ihre Gedanken und Forschungsergebnisse endlich wieder in anwachsender Freiheit zu kommunizieren.
Man kann die Fragestellung sicher von verschiedenen Seiten angehen. Dein Hinweis erinnert mich an das sog. "Dampfkesselmodell" [2], weshalb ich es mal in didaktischer Absicht mit einer Illustration versuche. [3]
Siehe den Anhang von oben nach unten:
- Wir können über den "Deckel", d.h. über das "System der geistigen Unterdrückung", diskutieren. Dieser Aspekt wurde auch keineswegs übersehen, sondern etwa von Rafael (Aufbäumen gegen "Herrscher", #8) und Caro 1 ("Unterdrückung" z.B. durch die Kirche, #23) bereits genannt.
- Wir können uns die "Aufklärungssuppe" näher anschauen, die im Topf vor sich hinköchelt: Aus welchen Ingredienzen besteht sie? Welche sind die Hauptbestandteile, welches die Zutaten? Wie kam der Inhalt - und durch wen - in den Topf hinein?
- Wir können fragen, wer oder was die Suppe heiß macht bzw. den Erhitzungsprozess antreibt?
Das Bild verlassend, kann man auch fragen: Was wurde aus der Suppe? Wieviele haben davon gegessen? (Oder bloß genascht oder gerochen)? Wie ist das den Konsumenten bekommen? [4]
Ich verstehe das Zeitalter der Aufklärung ? Wikipedia als die dynamische Phase eines schon früher begonnenen Prozesses. Besonders Entwicklungen, die das Denken und Fühlen aller Menschen betreffen, benötigen meist mehrere Generationen bis sie bei der breiten Masse ankommen und eine Veränderung im Verhalten bewirken.
Diesen Hinweis muss man stets im Auge behalten. Der Beginn der Aufklärung im engeren Sinne wird ja zeitlich oft auf ca. 1725 gelegt. [5] Andere wiederum gehen, mit guten Gründen, zurück bis in die Renaissance oder wenigstens in den letzten Teil des 17. Jahrhunderts. [6] Und was das Ende betrifft, sind auch mehrere Daten möglich.
nun, Buchdruck ist der erste Grund, aber der WICHTIGSTE: Sehr vielen Menschen wurde das Lesen beigebracht und sie hatten dadurch die Möglichkeit, sich zu informieren und über größere Entfernungen auszutauschen. Ideen blieben also nicht mehr im Viertel stecken.
Wenngleich ich sowohl die Verbreitung von "aufklärerischer" Literatur quantitativ eher als bescheiden einschätze und auch vor Illusionen warne, was den Zuwachs an Lesefähigkeit (literacy) betrifft; Zeitpunkt und Umfang der Alphabetisierung der "breiten Massen" im 18. Jh. sind
faktisch nicht so, dass sie für unser Thema eine größere Rolle spielen könnte. Für die "oberen 10%" der Gesellschaft mag das Austausch-Argument jedoch zutreffen.
[1] Der Erzspötter Bertrand Russell meinte: "Der Grund, warum die Physik aufgehört hat, nach Ursachen zu suchen (liegt) darin, dass es nichts Derartiges gibt. Ich glaube, dass das Kausalitätsgesetz ... eine Reliquie aus vergangenen Zeiten darstellt, die sich, so wie die Monarchie, nur deshalb am Leben erhält, weil man ganz zu Unrecht annimmt, dass sie keinen Schaden stiftet" (zitiert in Papineau [Hg.], Philosophie. Darmstadt 2006, S. 22).
[2] Auch der sog. Topfherd mit obenliegender, gelochter Herdplatte ist bekanntlich ein Produkt der Aufklärung! (vgl.
François de Cuvilliés der Ältere ? Wikipedia)
[3] Gern hätte ich hierbei Hans' "Korsett"-Beispiel aufgegriffen, aber dazu reicht meine zeichnerische Potenz nicht aus..
[4] Zum Stichwort "Dialektik der Aufklärung" siehe andere Threads.
[5] Das ist auch der Zeitraum, den z.B. Olwen Hufton behandelt (
Aufstand und Reaktion. Europa von 1730-1789. München 1980).
[6] So z.B. Paul Hazard:
Die Krise des europäischen Geistes 1680-1715. Hamburg 1939.