Archäologie mit der Textquelle in der Hand

El Quijote

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Vor längerer Zeit las ich mal, anlässlich der Grabungen israelischer Archäologen in Jodphat/Jotapata, dass es heutzutage verpönt sei, mit der Quelle in der Hand - hier Josephus Flavius - zu graben. Das erschien mir sinnvoll, schon allein wegen der suggestiven Kraft von Worten und Bildern. (Repo zitierte mal das Buch Sie fanden, was sie kannten, wo es im Prinzip auch um suggestive Quellen für archäologische Fehlinterprationen geht.

Ich benötige jetzt mal von den Archäologen etwas Unterstützung in der Theorie: Wo lässt sich das begründet nachlesen, dass die Grabung mit der Q in der Hand verpönt ist? Am liebsten wäre mir eine Publikation, statt Links. Die nehme ich aber auch. Danke sehr!
 
Schau doch mal ob du an den folgenden Artikel kommst, da dürfte dann auch weitere Literatur angegeben sein.
- Die Tyrannei der Schriftquellen?
Heinz, Marlies / Eggert, Manfred K. H. / Veit, Ulrich (Hrsg.): Zwischen Erklären und Verstehen? Beiträge zu den erkenntnistheoretischen Grundlagen archäologischer Interpretation. Tübinger Archäologische Taschenbücher Bd. 2. Münster et al.: Waxmann Verlag 2003

Überhaupt kann man in die Tübinger Taschenbücher der Archäologie reinschauen, dort sind je nach Schwerpunkt gute Aufsätze zur theoretischen Archäologie vorhanden.
 
Zuletzt bearbeitet:
Ich habe den Text von Scholkmann nun gelesen. Er geht davon aus, dass insbesondere die Mediävisten, aber auch einige Mittelalterarchäologen, die Schriftquellen über die materiellen Quellen stellen, diesen mehr Aussagekraft zugestehen. Das geht zwar in die von mir angesprochene Richtung, aber nicht ganz. Dem Artikel, den ich vor Jahren zu Jotapata - Josephus Flavius und den Ausgrabungen dort las, zufolge, legten die Archäologen den Josephus Flavius aus der Hand, mit dem Ziel Funde und Befunde möglichst unvoreingenommen zu interpretieren. Am Ende aber wollten sie den Josephus Flavius zu einer Gesamtbewertung wieder vornehmen.
 
Ich bin ja kein archäologischer Insider. Aber nachdem die noch nicht hier zusammenströmen, will ich mal meine Assoziationen zum Thema einbringen.

Bei Tübingen ist mir das eingefallen:
Troja-Debatte ? Wikipedia

Israel
Das ist aus meiner Sicht einer, der nicht mit der Quelle in der Hand gräbt:
Israel Finkelstein ? Wikipedia
In Israel ist ja die Frage des Verhältnisses von dem, was "im Buch steht", zu dem, was "im Boden liegt", nicht nur eine wissenschaftliche.
 
Ein Dozent der Alten Geschichte sagt neulich, dass man in Rom alles Mögliche finden könne, wenn man mit dem Livius in der Hand zu graben beginne.

Beweisen würde das allerdings gar nichts, solang die archäologischen Befunde (z.B. Inschriften) nicht für sich sprechen.
Recht hat er.

s.d.caes.
 
Graben mit Quellen

Das Arbeiten mit Schriftquellen ist ein zweischneidiges Schwert. Ein Problem ist es dann, wenn man schon vorher weiß, was man finden will, und seine Funde entsprechend der Schriftquelle interpretiert. In der Regel merkt man das aber der jeweiligen Publikation schon an. Auf der anderen Seite ist die römische Kultur aber eine Schriftkultur, und wir wären verloren ohne die Schriftquellen. Ich arbeite seit zehn Jahren in Baalbek, und wir verfluchen die Römer dafür, daß sie nichts über diese Stadt mit ihrem riesigen Bauten hinterlassen haben.
 
Das Arbeiten mit Schriftquellen ist ein zweischneidiges Schwert. Ein Problem ist es dann, wenn man schon vorher weiß, was man finden will, und seine Funde entsprechend der Schriftquelle interpretiert.

Ja, das ist mir klar, mir ging es eben darum, für eine Arbeit die entsprechende theoretische Literatur zur Hand zu bekommen.


Auf der anderen Seite ist die römische Kultur aber eine Schriftkultur, und wir wären verloren ohne die Schriftquellen.

Ja, umgekehrt die Schriftquellen bei der Interpretation nicht zu nutzen wäre natürlich blödsinnig.
 
Gerade zur Archäologie Israels fällt mir natürlich Finkelstein/Silberman ein.
„Keine Posaunen vor Jericho“ erschien bei C.H Beck und gibt’s im Moment noch bei DTV.
Dort sollten sich Textstellen und Querverweise finden lassen.

Die Israelische Archäologie leidet ganz besonders unter politischer und theologischer Beeinflussung, auch durch die „Christliche Archäologie“ der evangelischen und katholischen Kirche.

Außer den beiden Büchern (Die Tyrannei... und eben Finkelstein) fällt mir leider auch keine weitere Publikation ein, die sich speziell diesem Thema widmet, obwohl dies im Rahmen der Diskussion um die Erkenntnistheorie in der Archäologie sehr wichtig wäre.

Wofür brauchst Du denn eine Quelle ? Um es kurz, knapp und prägnant zu machen ?

Dass Historie und Archäologie nicht gut zusammenpassen liegt an sich ja nicht zu allzu verborgen.
Diese Endlosdiskussionen über „Troja“, „Teutoburger Wald“ etc. zeigen die Problematik ja deutlich. Oder eben, wie in Israel die Bibel als Leitfaden für die Suche nach Artefakten und deren anschließende Interpretation....
Oder eben Themen am Übergang der Vorgeschichte in den historischen Zeitabschnitt.
Zum Beispiel leiden hier im Forum die Diskussion zur Keltike und/oder Germanen unter dem Aufeinanderprallen der unterschiedlichen Quellen enorm.
Auch wenn es sich jetzt vielleicht eigenartig oder engstirnig anhört:
Ich kann mir nicht helfen, aber Archäologische Fakten sind erstmal Fakten, die zwar interpretiert werden müssen, aber trotzdem Primärquellen sind. In jeder normalen Publikation werden erstmal die arch. Fakten beschrieben und vorgestellt. (Klar, immer wenn Menschen handeln, bleibt Subjektivität, aber trotzdem erfolgt eine genauest mögliche „Tatortbeschreibung“.)
Historie ist bereits interpretiert und erfordert ein weitaus höheres Ausmaß an Quellenkritik, die sich widerrum „nur“ auf historischen Quellen stützt.
Die Archäologie kann da korrigieren und unterstützen.
Es wäre also geradezu absurd, diesen Prozess umzudrehen...

Vielleicht als grusseliges Beispiel:
In Bayern wurde vor ein/zwei Jahren ein Familie verurteilt, weil sie nach eigener Aussage gemeinsam den Vater/Ehemann/Großvater getötet haben und dessen Leiche mithilfe der auf dem Bauernhof lebenden Hausschweine beseitigt haben.
Keine Leiche auffindbar. Urteil rechtskräftig, Akte geschlossen.

Nur – kürzlich tauchte im wahrsten Sinne des Wortes die Leiche auf. Mehr oder weniger vollständig. Im PKW des Mannes, in einem aufgestauten See.....Untersuchungen laufen.
Ob es sich tatsächlich um eine kriminelle Handlung handelt, ist wieder völlig unklar.

Fakten ? Historie ? Wenn ich, wie oben, der Geschichte glaube, untersuche ich den Stall, schlachte vielleicht ein Schwein oder widme mich dem Misthaufen in der Hoffnung evtl. Überreste des Mannes dort zu finden. Wenn ich nix finde, bleibt ja trotzdem die Geschichte, die ja durch die Aussagen der Beteiligten bestätigt wird....

Nur sind halt jetzt die Fakten anders.....

Nix für ungut
Thomas
 
Zuletzt bearbeitet:
Gerade zur Archäologie Israels fällt mir natürlich Finkelstein/Silberman ein.
„Keine Posaunen vor Jericho“ erschien bei C.H Beck und gibt’s im Moment noch bei DTV.
Dort sollten sich Textstellen und Querverweise finden lassen.

Die Israelische Archäologie leidet ganz besonders unter politischer und theologischer Beeinflussung, auch durch die „Christliche Archäologie“ der evangelischen und katholischen Kirche.

Um biblische Archäologie ging es mir nicht, dass wir bei der Bibel große Abstriche gerade bei der ereignishistorischen Glaubwürdigkeit machen müssen ist klar. Mir geht es um ernstzunehmende ereignishistorische historiographische Literatur, wie etwa den Augenzeugenbericht des Josephus, der als Stadtkommandant von Jotapata ja Kronzeuge für die Erstürmung Jotapatas durch die Römer ist. Aber dies ist eben nur ein Beispiel. Ich hatte vor Jahren im Netz einen Grabungsbericht gefunden, in dem das Problem reflektiert wurde, dass man, würde man bei den Ausgrabungen in Jotapata ständig den Josephus in der Hand halten, die Versuchung zu groß sei, der Suggestion zu erliegen, man habe nun gerade den Ort eines bestimmten Geschehens vor sich (z.B. die Zisterne, in welcher Josephus und seine Gefährten sich gegenseitig umbrachten, um nicht den Römern in die Hand zu fallen - bis die beiden letzten übrig waren, eben Jospehus und noch jemand, die sich dann den Römern stellten).

Es muss aber nicht per se etwas zur Archäologie Israels sein.

Wofür brauchst Du denn eine Quelle ? Um es kurz, knapp und prägnant zu machen ?
Ich brauchte im Prinzip nur eine Stelle zu erkenntnistheoretischen Problemen der Archäologie.
Dass Historie und Archäologie nicht gut zusammenpassen liegt an sich ja nicht zu allzu verborgen.
Diese Endlosdiskussionen über „Troja“, „Teutoburger Wald“ etc. zeigen die Problematik ja deutlich. Oder eben, wie in Israel die Bibel als Leitfaden für die Suche nach Artefakten und deren anschließende Interpretation....
Diese Einschätzung kann ich nicht teilen. Die Problematik ist eher die, dass wir immer nur einen Ausschnitt aus der Geschichte sehen, egal ob wir über Textquellen oder archäologische Funde verfügen. Die Suche nach dem Artefakt mit der Bibel in der Hand möchte ich mal als "naive Archäologie" bezeichnen.

Ich kann mir nicht helfen, aber Archäologische Fakten sind erstmal Fakten, die zwar interpretiert werden müssen, aber trotzdem Primärquellen sind. In jeder normalen Publikation werden erstmal die arch. Fakten beschrieben und vorgestellt. (Klar, immer wenn Menschen handeln, bleibt Subjektivität, aber trotzdem erfolgt eine genauest mögliche „Tatortbeschreibung“.)
Historie ist bereits interpretiert und erfordert ein weitaus höheres Ausmaß an Quellenkritik, die sich widerrum „nur“ auf historischen Quellen stützt.
Die Archäologie kann da korrigieren und unterstützen.
Es wäre also geradezu absurd, diesen Prozess umzudrehen...

Naja nicht ganz. Sollen die klassischen Archäologen jetzt etwa auf Pausanias, den "Reiseführer der Archäologen" verzichten?

Dieses Gegeneinander von Archäologen und Historikern, welches hier im Forum ab und zu postuliert wird, das sehe ich in der Fachwelt nicht.

 
Wie gesagt, es tut mir leid, dass ich leider auch keine weitere Quelle, außer den bereits erwähnten, habe.

Ich gebe zu, dass ich befürchte, mich im folgende ein wenig aus dem Fenster zu lehnen.
Ich sehe allerdings (subjektiv) aber schon graduelle Unterschiede in der Bewertung der „passenden“ schriftlichen Quellenlage in den einzelnen archäologischen Disziplinen.
In der klassischen Arch. scheint mir der Hang, die Schriftquellen gerne zu verwenden, wesentlich deutlicher, als in der Vorgeschichtlichen Arch.
Klar – Vorgeschichte ist ja per Definition der Zeitraum ohne schriftliche Quellen, könnte man einwenden. Na ja, nicht ganz, da ja zeitgleiche Berichte außerhalb der betreffenden vorgeschichtlichen Kultur oder historische Berichte, die sich mit der entsprechenden Vergangenheit befassen, auch für vorgeschichtliche Zeiträume vorliegen.

Ich sehe da einfach die Gefahr, dass historische Quellen bei der Interpretation von arch. Befunden/Funden, egal nun, ob klassisch oder vorgeschichtlich, zu Fehlschlüssen führen können und zwar aufgrund der Methodik, nicht nur einfach aufgrund von „banalen“ Denkfehlern.
Ich habe versucht, das Problem mit der realen Kriminalgeschichte oben zu erläutern.
Die Geschichte, die erzählt wurde, war plausibel, war von Zeugen bestätigt. Der Trick war, dass eben der „Nichtfund“ der Leiche die Geschichte bestätigt.
Selbst wenn ich mir die Mühe mache und den Misthaufen nach menschlichen Überresten, die durch die Schweine hindurch waren, untersuche, bestätigt das immer die Geschichte. Finde ich Knöchelchen, stimmt die Story. Finde ich keine, stimmt sie halt trotzdem.....


Nach meinem Verständnis berührt das Problem „schriftliche Quellen“ auch das Problem „Induktiv/Deduktive Methodik“.
Die Quellen verleiten zu Fehlschlüssen innerhalb der induktiven Methode:
„Waldi ist ein Dackel“.“ Waldi ist ein Hund“ Schluss: Alle Hunde sind Dackel.

Offensichtlich falsch.

Aber im Fall:
„im Hausgrundriss B24 liegen in einer Grube zwei menschliche Schädel“
„der Hausgrundriss datiert nach Beifunden nach LTC2, spätkeltisch“

wird der Schluss: „Kelten sind Kopfjäger“ dann unterstützt, wenn entsprechende schriftliche Meldungen vorliegen. Damit ergibt sich von vornherein ein Erklärungsmuster für den Befund, zum anderen scheint der Befund die Historie zu bestätigen.
Weitere Untersuchungen werden vielleicht nicht vorgenommen, die aber erbringen könnten, dass die Schädel zeitlich gar nicht nach LT C2 passen, oder die Überreste einer Sekundärbestattung sind oder gar nicht im Verband mit Kiefer und Halswirbel eingelagert wurden oder gar vom Sterbealter her keine Krieger waren oder gar Neandertaler.....

Ganz schlimm wird es, wenn die Quellen an sich gar nicht zusammenpassen.
Hört sich nach offensichtlichen Fehler an, geschieht aber häufig.

„In Herxheim liegen im Graben menschliche Knochen mit Schnittspuren“
„Der Graben datiert in die späte Linienbandkeramik“
„Linienbandkeramik ist Steinzeit“
„in historischen Zeiten zeigen ethnologische Quellen, dass Menschen auf Steinzeitniveau
gerne auch mal sich des Nachbarn als Eiweißquelle bedienten.“

Schluss: In Herxheim wurde Menschenfresserei betrieben. Natürlich nicht......

Umgekehrt geht´s eigentlich auch nicht.

„Um Troja war Krieg, es wurde abgebrannt“
„Schon in der römischen Geschichtsschreibung steht, der Hügel X ist der, auf dem Troja stand“
Also sind meine Brandspuren in Schicht 14 des Hügels X Troja.....

Auch wenn sich die Beispiele albern anhören, vorliegende Fakten nach einem bereits vorliegenden Muster zu interpretieren, ist an sich nicht richtig.
Und was noch hinzukommt:
An sich passen die Quellen schon deshalb nur schwer bis gar nicht zusammen, weil die Historie und die Archäologie oft unterschiedliche Themen erfasst. Die Geisteswelten bleiben in der Arch. außen vor, die Arch. liefert dafür Fakten, die in der Historie, vielleicht weil zu banal, nicht erfasst werden. Fehlschlüsse sind vorprogrammiert.
Im Prinzip haben wir mit der Historie als zusätzliche Hilfsquelle der Arch. das gleiche Problem wie mit Vergleichen aus der Ethnologie. Und umgekehrt werden arch. Spuren schnell als Bestätigungen für Geschichte(n) hergenommen. Demnach sind alle männliche Moorleichen im nördlichen germanischen Sprachraum homosexuelle Wehrdienstverweigerer, wenn man Tacitus folgt. Oder Ehebrecherinnen. (die sich jetzt aber als männlicher Jugendlicher herausstellte....)

Zum Schluß noch mal ein moderner Kriminalfall: Die Geschichte der raubend und mordend durch Deutschland ziehenden Frau, die überall ihren genetischen Fingerabdruck hinterließ. War plausibel, weil wir ja alle Bonny oder Calamity Jane kennen.
War aber nicht so. Es war nur die genetische Spur der Verpackerin der Teststäbchen......:pfeif:

Nix für ungut.

Thomas
 
Zuletzt bearbeitet:
Vielleicht ist dieses Buch interessant für das Thema, habe es nicht gesichtet ist also ein reiner Internetfund:

Between Text and Artifact: Integrating Archaeology in Biblical Studies Teaching (Archaeology and Biblical Studies)
Milton C. Moreland | Brill Academic Publishers | 2011-05-01 | 246 pages
 
Auch wenn sich die Beispiele albern anhören, vorliegende Fakten nach einem bereits vorliegenden Muster zu interpretieren, ist an sich nicht richtig.

@thomas, ich finde garnicht, dass sich deine Beispiele albern anhören. Im Gegenteil, sie sind teilweise 1:1 aus dem Leben gegriffen. Und es handelt sich tatsächlich um ein entscheidendes Problem, das dem Laien vieleicht garnicht gleich verständlich wird.

Ich will es mal so umschreiben: Der Archäologe zieht sich absichtlich oder unabsichtlich einen Schleier über, der aus den antiken Schriftquellen besteht und seine Interpretation des Fundmaterials beeinflusst. Und das Publikum erwartet auch diesen Schleier, hat ihn teilweise selbst auf. Glücklich der, der den Schleier auch wieder abnehmen kann, aber das funktioniert meistens nicht.

Schuld daran ist meines Erachtens der Anspruch des Publikums. Die eigentlichen, harten Fakten der Archäologie sind meistens nicht direkt beeindruckend, es sind Daten, Masse, Bodenverfärbungen und unscheinbare Scherben.
Das Publikum möchte aber etwas über das Leben der Menschen in der Vergangenheit erfahren, es möchte Geschichten hören.

Und da der Mensch ein Geschichten erzählender Affe ist (T. Pratchett et al.), erfüllt der Wissenschaftler das Bedürfnis des Publikums und versucht, gute Geschichten zu erzählen. Und genau hier kommen die antiken Quellen ins Spiel.

Alle schriftlichen Quellen zu vorgeschichtlichen Kulturen sind grundsätzlich erstmal sehr kritisch zu bewerten, einfach weil darin nicht die betroffenen Menschen zu uns sprechen, sondern Nachbarn und Gegner, die vielfach keinen direkten Bezug zu den Menschengruppen hatten.
Eines von vielen Beispielen ist die Germania des Tacitus - Tacitus war nie in Germanien, er hat keinerlei eigene Erfahrung mit diesem Land. Trotzdem prägen seine Aussagen das Geschichtsbild der Mehrheit der deutschen Bevölkerung mehr, als die tausenden von Ergebnisse aus mehr als einem Jahrhundert Ausgrabungen.

Und du hast Recht, Thomas, das ist gefährlich - für das Publikum und für die Wissenschaft. Es verstellt den Blick auf die Realität, wenn es nicht mit einer radikalen Quellenkritik zusammen geht und wenn der beteiligte Forscher sich der Nachteile der Schriftquellen nicht vollständig bewusst ist.

Aber eine Lösung für das Problem sehe ich nicht. Es sei denn, man wollte einen neuen Ossian in die Welt setzen.
 
@ElQuijote:
Dieses Gegeneinander von Archäologen und Historikern, welches hier im Forum ab und zu postuliert wird, das sehe ich in der Fachwelt nicht.

Es geht garnicht um ein "Gegeneinander" in dieser Sache. Jede Wissenschaft ist erst mal von ihren Methoden überzeugt. Aber die beiden Wissenschaften untersuchen auf völlig unterschiedlichem Weg Zeugnisse, die zufällig aus der gleichen Zeit stammen. Im Idealfall sollten sich also die Ergebnisse ergänzen. Tun sie aber - häufig - nicht. Und dann stellt sich die Frage, welchen Erkenntnissen im Dienste der "Wahrheit" der Vorzug zu geben ist.

Die Funde der Archäologen sind überwiegend nicht intentionell vergraben, sondern verloren oder weggeworfen worden. Kaum jemand wird sich Gedanken gemacht haben, dass es einmal eine Wissenschaft geben würde, die seine Hinterlassenschaften ausgraben und daraus Schlüsse ziehen würde.
Und das ist in meinen Augen der entscheidende Unterschied zu den Quellen der Historiker: Die Schriftquellen sind alle intentionell entstanden, die Autoren hatten Hintergedanken und Überzeugungen, die sich in der Quelle niederschlagen.
Tacitus schreibt im Vorwort der Germania, dass er den Bericht über die Germanen abliefert, um dem dekadenten und verdorbenen Rom das Leben der Einheimischen, der "Eingeborenen" vorzuhalten, dass ja noch viel ehrlicher und näher an der Natur sein muss. Das ist der Sinn des Textes. Kann ich diesen Text dann heran ziehen, um die Ergebnisse von Ausgrabungen zu interpretieren? Was würde denn Tacitus uns wohl dazu sagen?
Noch dazu gehört das Buch nicht zum Kanon der Klassiker, der in Byzanz kopiert wurde. Im 8. Jahrhundert gibt es noch ein Exemplar in einer Klosterbibliothek, danach verschwindet das Buch ganz und taucht erst im 15. Jahrhundert wieder auf. Wer sagt uns, was in der Zwischenzeit mit dem Text passiert ist? Wurde er in den Fälscherwerkstätten der katholischen Kirche vielleicht verändert, entschärft? Der Archäologe würde in einem solchen Fall von "umgelagerten" Quellen sprechen und sie noch vorsichtiger interpretieren.
In der Realität sieht man aber - auch hier im Forum - immer wieder Menschen, die das dort geschriebene für bare Münze nehmen und bei jeder Diskussion über die Germanen zur Grundlage machen.

Und da geht es meines Erachtens wieder um den Geschichten erzählenden Affen.
 
Die Funde der Archäologen sind überwiegend nicht intentionell vergraben, sondern verloren oder weggeworfen worden. Kaum jemand wird sich Gedanken gemacht haben, dass es einmal eine Wissenschaft geben würde, die seine Hinterlassenschaften ausgraben und daraus Schlüsse ziehen würde.
Und das ist in meinen Augen der entscheidende Unterschied zu den Quellen der Historiker: Die Schriftquellen sind alle intentionell entstanden, die Autoren hatten Hintergedanken und Überzeugungen, die sich in der Quelle niederschlagen.

Das sehe ich doch ganz genau so. Wobei ich die Schriftquellen nun nicht auf die Traditionsquellen reduziert sehen will, wie das hier geschieht.
 
Tacitus schreibt im Vorwort der Germania, dass er den Bericht über die Germanen abliefert, um dem dekadenten und verdorbenen Rom das Leben der Einheimischen, der "Eingeborenen" vorzuhalten, dass ja noch viel ehrlicher und näher an der Natur sein muss. Das ist der Sinn des Textes.
Was für ein Vorwort? Die "Germania" startet direkt mit einer Beschreibung der Geographie Germaniens.
Der "Sinn des Textes" ist im Wesentlichen moderne Interpretation.

Noch dazu gehört das Buch nicht zum Kanon der Klassiker, der in Byzanz kopiert wurde. Im 8. Jahrhundert gibt es noch ein Exemplar in einer Klosterbibliothek, danach verschwindet das Buch ganz und taucht erst im 15. Jahrhundert wieder auf. Wer sagt uns, was in der Zwischenzeit mit dem Text passiert ist? Wurde er in den Fälscherwerkstätten der katholischen Kirche vielleicht verändert, entschärft?
Wenn schon, dann wäre er höchstens verschärft worden, um die heidnischen Germanen als gottlose wilde Barbaren hinzustellen.

Im Übrigen sehe ich eher das Gegenteil von Dir: Gerade dann, wenn es keine schriftlichen Quellen gibt, sondern eine Kultur rein archäologisch erschlossen werden muss, neigen Archäologen zu klischeehaften Schlüssen. Wenn z. B. weibliche Statuetten gefunden werden, heißt es schnell, es habe einen "Große Mutter"-Kult gegeben oder die Gesellschaft sei gar matriarchalisch organisiert gewesen. Noch abenteuerlicher wird es, wenn z. B. ausgegrabene Objekte oder Gebäude mit ähnlichen Objekten und Gebäuden in ganz anderen Ländern und aus anderen Zeiten verglichen werden, um die Bedeutung zu erschließen. Da wären schriftliche Quellen wesentlich zuverlässiger. Vor allem bei den Frühmenschen staune ich immer wieder, welch weitreichende Schlüsse aus Funden gezogen werden.
 
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Im Übrigen sehe ich eher das Gegenteil von Dir: Gerade dann, wenn es keine schriftlichen Quellen gibt, sondern eine Kultur rein archäologisch erschlossen werden muss, neigen Archäologen zu klischeehaften Schlüssen. Wenn z. B. weibliche Statuetten gefunden werden, heißt es schnell, es habe einen "Große Mutter"-Kult gegeben oder die Gesellschaft sei gar matriarchalisch organisiert gewesen.

Man muss ja nicht gleich Leute wie Gimbjutas mit der gesamten Archeologic Community* gleichsetzen.


Noch abenteuerlicher wird es, wenn z. B. ausgegrabene Objekte oder Gebäude mit ähnlichen Objekten und Gebäuden in ganz anderen Ländern und aus anderen Zeiten verglichen werden, um die Bedeutung zu erschließen. Da wären schriftliche Quellen wesentlich zuverlässiger. Vor allem bei den Frühmenschen staune ich immer wieder, welch weitreichende Schlüsse aus Funden gezogen werden.

Butter bei die Fische, bring mal konkrete Beispiele.




*angelehnt an Scientific Community
 
Im Übrigen sehe ich eher das Gegenteil von Dir: Gerade dann, wenn es keine schriftlichen Quellen gibt, sondern eine Kultur rein archäologisch erschlossen werden muss, neigen Archäologen zu klischeehaften Schlüssen. Wenn z. B. weibliche Statuetten gefunden werden, heißt es schnell, es habe einen "Große Mutter"-Kult gegeben oder die Gesellschaft sei gar matriarchalisch organisiert gewesen.
Darum gibt es unter den Archäologen auch den Witz, wenn man nicht weiß was es ist, dann ist es halt kultisch :D

Noch abenteuerlicher wird es, wenn z. B. ausgegrabene Objekte oder Gebäude mit ähnlichen Objekten und Gebäuden in ganz anderen Ländern und aus anderen Zeiten verglichen werden, um die Bedeutung zu erschließen. Da wären schriftliche Quellen wesentlich zuverlässiger. Vor allem bei den Frühmenschen staune ich immer wieder, welch weitreichende Schlüsse aus Funden gezogen werden.

Ethnografische Vergleiche können nützlich sein müssen aber immer mit Vorsicht behandelt werden und dürfen nie alleine stehen.
Die Schäftung und Herstellung neo und mesolithischer Beilklingen ist ein gutes Beispiel dafür.
Weiner und Pawlik untersuchten die neolitischen Dechsel und Beile aus dem Brunnenschacht in Erkelenz Kükhoven. (Den kann man sich übrigens im LVR-Museum in Bonn in original anschauen)
Mittels mikro und makroskopischer Gebrauchsspurenanalyse kann heutzutage das Material mit dem es geschäftet war und die Art und Weise und das Material welches damit bearbeitet wurde sehr gut nachgewiesen werden. Experimentalarchäologische Experimente stützten und bestätigten diese Untersuchungen. Ebenso konnte man bei Ureinwohnern Neuguineas fast vollkommen gleiche Steinwerkzeuge vorfinden. Diese Vergleiche dienen nur als zusätzliche Stütze und nicht als alleinige Säule.

Hier kann man noch mehr nachlesen diesbezüglich
"
J. Weiner/A. Pawlik, Neues zu einer alten Frage. Beobachtungen und Überlegungen zur Befestigung altneolithischer Dechselklingen und zur Rekonstruktion bandkeramischer Querbeilholme. In: Experimentelle Archäologie in Deutschland. Bilanz 1994. Symposium in Duisburg, August 1993. Arch. Mitt. Nordwestdeutschland Beih. 8, 1995, 111-144."
 
Im Übrigen sehe ich eher das Gegenteil von Dir: Gerade dann, wenn es keine schriftlichen Quellen gibt, sondern eine Kultur rein archäologisch erschlossen werden muss, neigen Archäologen zu klischeehaften Schlüssen. Wenn z. B. weibliche Statuetten gefunden werden, heißt es schnell, es habe einen "Große Mutter"-Kult gegeben oder die Gesellschaft sei gar matriarchalisch organisiert gewesen. Noch abenteuerlicher wird es, wenn z. B. ausgegrabene Objekte oder Gebäude mit ähnlichen Objekten und Gebäuden in ganz anderen Ländern und aus anderen Zeiten verglichen werden, um die Bedeutung zu erschließen. Da wären schriftliche Quellen wesentlich zuverlässiger. Vor allem bei den Frühmenschen staune ich immer wieder, welch weitreichende Schlüsse aus Funden gezogen werden.

Für das fett markierte wären moderne Bsp. hilfreich, danke.
Also das mit der Großen Mutter hat man schon lange ad acta gelegt, das sind leider die Nachwehen von Gimbutas.
Die Analogie so wie du sie beschreibst ist ebenso mittlerweile verpönt und wird von der Mehrzahl der Archäologen kritisch gesehen und so nicht mehr angewendet.
Kurzum du beziehst dich hier auf Methoden die im großen und ganzen heute nicht mehr angewendet werden.
Ich sehe das so:
Schrifl. und archl. Quellen können sich ergänzen, müssen sie aber nicht zwangsläufig. Gerade Ogrim hat hier einen sehr wichtigen Punkt herausgestellt:
Die Funde der Archäologen sind überwiegend nicht intentionell vergraben, sondern verloren oder weggeworfen worden. Kaum jemand wird sich Gedanken gemacht haben, dass es einmal eine Wissenschaft geben würde, die seine Hinterlassenschaften ausgraben und daraus Schlüsse ziehen würde.
Und das ist in meinen Augen der entscheidende Unterschied zu den Quellen der Historiker: Die Schriftquellen sind alle intentionell entstanden, die Autoren hatten Hintergedanken und Überzeugungen, die sich in der Quelle niederschlagen.

Code:
Alle schriftlichen Quellen zu vorgeschichtlichen Kulturen sind  grundsätzlich erstmal sehr kritisch zu bewerten, einfach weil darin  nicht die betroffenen Menschen zu uns sprechen, sondern Nachbarn und  Gegner, die vielfach keinen direkten Bezug zu den Menschengruppen  hatten.
 
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