Timur i Lenk

Außerdem: Wenn eine Stadt rasch wiederaufgebaut wird - wie es z. B. auch mit Lissabon nach dem großen Erdbeben von 1755 geschah - kann man von der Archäologie kaum eindeutige Beweise erwarten.

Gerade der rasche Wiederaufbau ist ein recht eindeutiger Beleg dafür, dass die Bevölkerung weitgehend intakt blieb und nicht nur verbrannte Erde hinterlassen wurde.

Insofern muss ich Quellenzitate den Kundigen überlassen. Aber Turandokht hat schon erklärt, dass z. B. Monika Gronke, auf die sich Dieter stützt, die Originalquellen studiert hat.

Gronke zeichnet ein durchaus differenzierteres Bild.
 
Es kann ja nun kaum bezweifelt werden, dass Timur im Zuge seiner Eroberungen auch Städte zerstört hat, dass es zu "Greueltaten" kam. Wie E.Q. schon schrieb, versucht ihn niemand zum Heiligen zu machen.
Andererseits beruht die Verteufelung seiner Person praktisch ausschließlich auf iranischen Quellen, in welchen sich immer gleiche Beschreibungen der angeblichen Brutalitäten wiederholen, was die Vermutung stützt, dass eben diese Quellen sich immer wieder aufeinander beziehen und so manche Beschreibung wohl als Topos anzusehen ist.
Selbstverständlich war Timur ein Kind seiner Zeit, ein Eroberer. Ob seine Handlungsweise den Rahmen des damals üblichen sprengte, kann aber kaum schlüssig abgeleitet werden, dafür sind die Quellen zu einseitig bzw. einfach ungenügend.
 
Um das mit dem Spottnamen mal quellenmäßig zu untermauern, hier mal ein Ausschnitt aus einer 1406 fertiggestellten Schrift von einer Botschafterreise vom Hofe Heinrichs von Kastilien zu Timurlenk:

Et cada vn señor ha aujdo su nonbre apartado & otrosy el tamurbeque es su nonbre propio este & non taborlam commo le nos llamamos ca tamurbeque quiere dezir en su lenguaje tanto commo senor de fierro ca por señor dizen ellos veque & por fierro tamur & taborlan es bien contrario de su nonbre ca es nonbre que se llaman en denuesto por taborlan que quiere dezir tollido asy commo lo era del anca drecha & delos dos dedos pequenos dela mano derecha de feridas quel fueron dadas Roua[n]do carneros vna noche segu[n]d adelante vos sera contado.

Übersetzung:

Und ein jeder Herr hatte (ha habido) seinen eigenen Namen und so ist auch der Name Tamurbeque/Tamur Beg (Beg im Alttürkischen offensichtlich noch mit aulautendem und gar verhärtetem [g] bzw. [k] gesprochen, gegenüber dem heutigen Beg welches eher als [bej] ausgesprochen wird) sein Eigenname und nicht Taborlan/Tamorlan, so wie wir ihn nennen. Denn Tamur Beg bedeutet in seiner Sprache soviel wie 'Eiserner Herr', denn für Herr sagen sie Veque/Beque/Beg und für Eisen Tamur. Und Taborlan/Tamorlan meint genau das Gegenteil. Sie sagen es zur Schmähung (denuesto) für Tamorlan/Taborlan, was bedeuten soll lahm, weil er das an der rechten Hüfte ist und ihm die zwei kleinen Finger der rechten Hand fehlen (also offenbar kleiner Finger und Ringfinger), Verletzungen die er erhielt, als er Schafe (wörtl. Widder) raubte, wie euch an anderer Stelle berichtet werden wird.
 
Hä?! Was ist an der Feststellung, dass wir so von antitimuridischen Quellen beeinfluss sind, dass wir Timur als 'Hinkenden' oder 'Lahmen Timur' kennen, timuridische Propaganda?

Der Behauptung, es seien "antitimuridische Quellen", sollte man die Einschätzung entgegenstellen, dass diese Quellen ein objektives Bild der Tatbestände zeichnen.

Dann möchte ich dich bitten, aus den unterschiedlichen Quellen doch mal zu zitieren.

Diese originalen Quellen können wir beide nicht zitieren. Daher müssen wir uns auf das Urteil der Historiker und Iranisten verlassen und das fällt unisono nicht nur negativ aus, sondern beschreibt Kriegsgräuel, die das damals bekannte Maß übersteigen. Eine andere Position, die unseren hinkenden Freund in einem besseren Licht erscheinen lässt, kenne ich nicht.

Die Islamwissenschaftlerin und Iranistin Monika Gronke fällte - wie schon zitiert - dieses Urteil und ähnliches finde ich in der übrigen deutschsprachigen Literatur:

Alles in allem wurden Timurs Kampagnen, die bei seinen Zeitgenossen ebenso berüchtigt wie gefürchtet waren, mit ungeheurer Grausamkeit, ja Bestialität geführt ...

(Monika Gronke, Geschichte Irans, München 2003/2006, S. 60, Beck Wissenschaftliche Reihe)
 
Zuletzt bearbeitet:
Andererseits beruht die Verteufelung seiner Person praktisch ausschließlich auf iranischen Quellen, in welchen sich immer gleiche Beschreibungen der angeblichen Brutalitäten wiederholen, was die Vermutung stützt, dass eben diese Quellen sich immer wieder aufeinander beziehen und so manche Beschreibung wohl als Topos anzusehen ist.
Wenn eine Person immer wieder ähnlich gehandelt haben soll, muss man das nicht als "Topos" abtun, man kann darin auch eine typische Verhaltensweise dieser Person sehen. (Bei Serienverbrechern kann man auch nicht sagen, in Wahrheit hätten sie nur einen Mord oder einen Missbrauch begangen, alle weiteren Verbrechen seien Erfindungen der Polizei oder Staatsanwaltschaft.)
Ebensogut könnte man die immer wiederkehrenden Berichte über Plünderungen und Verwüstungen im Dreißigjährigen Krieg als "Topos" abtun und behaupten, dass es in Wahrheit nur einmal oder einige wenige Male zu Übergriffen auf die Zivilbevölkerung gekommen ist. Auch die Gräuel z. B. im Kongo-Staat waren dann wohl nur ein Topos, während es in Wahrheit nur vereinzelte Übergriffe gab?

Selbstverständlich war Timur ein Kind seiner Zeit, ein Eroberer. Ob seine Handlungsweise den Rahmen des damals üblichen sprengte, kann aber kaum schlüssig abgeleitet werden, dafür sind die Quellen zu einseitig bzw. einfach ungenügend.
Dass Timurs Handlungsweise offenbar den Rahmen des Üblichen sprengte, zeigt sich schon daran, dass anderen großen Eroberern (außer Dschingis Khan) kein derartig schlechter Ruf anhängt. Babur oder vor allem Nadir Schah z. B. haben sich auch einiges zuschulden kommen lassen (letzterer vor allem eine Plünderung Delhis mitsamt Massaker), trotzdem ist ihr Ruf wesentlich besser, bei ihnen waren so massive Exzesse wohl doch eher die Ausnahme als die Regel wie anscheinend bei Timur.
 
Wenn eine Person immer wieder ähnlich gehandelt haben soll, muss man das nicht als "Topos" abtun, man kann darin auch eine typische Verhaltensweise dieser Person sehen.

Kann man, natürlich. Es kann aber eben auch anders sein.
Darauf zielen doch die Beiträge von ElQ., und auch von mir, ab: Die Quellenlage ist einfach zu dürftig.

Daran ändert auch Frau Gronke nichts, und Aussagen wie "die wird es schon wissen" erscheinen nicht unbedingt wissenschaftlich.
 
Wenn eine Person immer wieder ähnlich gehandelt haben soll, muss man das nicht als "Topos" abtun, man kann darin auch eine typische Verhaltensweise dieser Person sehen. (Bei Serienverbrechern kann man auch nicht sagen, in Wahrheit hätten sie nur einen Mord oder einen Missbrauch begangen, alle weiteren Verbrechen seien Erfindungen der Polizei oder Staatsanwaltschaft.)

Temür ibn Taraghai Barlas war ziemlich eindimensional konstruiert und gekennzeichnet von einer dissozialen, schizoiden und narzisstischen Persönlichkeitstörung mit paranoiden Zügen, die Gefühlarmut, Verantwortungslosigkeit und Missachtung sozialer Normen mit sich brachten. Geringes Frustrationsniveau und eine niedrige Schwelle für aggressives, gewalttätiges Handeln sind durch seine verheerenden Kriegszüge und Massenmorde gut dokumentiert.
 
Temür ibn Taraghai Barlas war ziemlich eindimensional konstruiert und gekennzeichnet von einer dissozialen, schizoiden und narzisstischen Persönlichkeitstörung mit paranoiden Zügen, die Gefühlarmut, Verantwortungslosigkeit und Missachtung sozialer Normen mit sich brachten. Geringes Frustrationsniveau und eine niedrige Schwelle für aggressives, gewalttätiges Handeln sind durch seine verheerenden Kriegszüge und Massenmorde gut dokumentiert.


Du kennst seinen Psychoanalytiker?
 
Kann man, natürlich. Es kann aber eben auch anders sein.
Darauf zielen doch die Beiträge von ElQ., und auch von mir, ab: Die Quellenlage ist einfach zu dürftig.
Aber anscheinend eindeutig. Solange es keine Gegenbeweise gibt, kann man sie nicht einfach ins Reich der Fantasie verweisen. (Ansonsten müssten wir auch 90% unseres Wissens über die Antike und das Mittelalter wegwerfen: Welche Belege außer den schriftlichen Quellen gibt es schon für den Zweiten Punischen Krieg oder die Schlacht am Lechfeld?) Gerade die Geschichte der letzten beiden Jahrhunderte zeigt doch, zu welchen Gräueln Menschen in der Lage sind. Freilich wäre es schön, wenn die Massaker in den Balkankriegen der 90er nur ein literarischer Topos wären, nur waren sie es leider nicht.
 
Zuletzt bearbeitet:
Der Behauptung, es seien "antitimuridische Quellen", sollte man die Einschätzung entgegenstellen, dass diese Quellen ein objektives Bild der Tatbestände zeichnen.

Warum verstehe ich dich nicht?

Diese originalen Quellen können wir beide nicht zitieren. Daher müssen wir uns auf das Urteil der Historiker und Iranisten verlassen und das fällt unisono nicht nur negativ aus, sondern beschreibt Kriegsgräuel, die das damals bekannte Maß übersteigen. Eine andere Position, die unseren hinkenden Freund in einem besseren Licht erscheinen lässt, kenne ich nicht.

Noch einmal: Wir haben im Nahen Osten das Problem, dass wir, im Gegensatz zu Europa, an schriftlichen Quellen fast nur literarische (historiographische) Quellen haben. Kaum Korrespondenz, kaum Rechnungen, kaum Urkunden, kaum Verträge. Nicht weil es sie nicht gegeben hätte, sondern weil es i.d.R. keine Archive gab, in denen solches Schriftgut gesammelt wurde. Mit ein wenig Glück hat sich jüdisches Schriftgut in einer Geneeza gesammelt (berühmt ist die Geneeza aus Kairo). Schriftgut, welches den Namen Jahwes trug durfte nicht vernichtet werden, weshalb es in Nebenräumen von Synagogen, den Geneezas gesammelt wurde. Allerdings sind die Erhaltungsbedingungen in Ägypten außerordentlich gut, weshalb etwa eine Geneeza in Bagdad, die es sicherlich auch gab, wohl weniger ergiebig ist, als die Kairoer Geneeza. Wir haben also nur einen schriftlichen Befund, der sich auf wenige interessengeleitete iranische Quellen stützt. Die Perser hatten aber eine kulturelle Tradition und sie waren geschichtsbewusst und sie kannten ihre große Geschichte. Es wird den Persern daher kaum geschmeckt haben, von türkischen und mongolischen Reiternomaden und deren teilzivilisierten (hier mit der ganzen Arroganz des Wortes gemeint) Nachkommen regiert worden zu sein, wo man doch selbst auf eine so großartige Geschichte zurückschauen konnte.

Aber wir haben auch andere Quellen: So berichtet der oben schon zitierte Botschafter Heinrichs von Kastilien, Gonzales de Clavijo, zwar durchaus von brutalen Maßnahmen, aber eben auch davon, wer "Timburlenk" oder "Tamborbeque" alles Tribute zahlen musste. Und hiermit kommen wir wieder zur Prestigeökonomie der Reitervölker: Die Reitervölker stellten ja selbst kaum etwas nennenswertes her, weil die Steppe es nicht hergab, lediglich Fleisch und Milchprodukte. Sie hatten nichts, was die zivilisierten Völker nicht auch selbst hatten, standen also als Händler auf einer äußerst schlecht Position, weil sie nur etwas anbieten konnten, wo keine Nachfrage bestand. Es war daher nie im Interesse der Reitervölker, die Bevölkerungen der Städte am Rand der eurasischen Graslandzone auszurotten. Schon gar nicht ihrer auf die Prestigökonomie angewiesenen Anführer. Einem Nomaden kann man auch kein Land anbieten. Man muss ihm etwas anbieten, was einigermaßen einfach zu transportieren ist und trotzdem großen Wert hat. Wie also soll ein Attila, ein Dschingis Khan oder ein Timur Lenk seine Leute zufriedenstellen, wenn er die Bevölkerung eroberter Gebiete ausrottet? Das System funktioniert so nicht. Und schon deshalb ist es wahrscheinlich, dass wir es hier mit Propaganda zu tun haben. Und erneut frage ich nach dem archäologischen Befund: Bestätigt dieser die Tabula Rasa-Methode oder nicht?


Die Islamwissenschaftlerin und Iranistin Monika Gronke fällte - wie schon zitiert - dieses Urteil und ähnliches finde ich in der übrigen deutschsprachigen Literatur:

Und deshalb stimmt das? Hat Monika Gronke selber zu Timur Lenk geforscht? Oder übernimmt sie das Urteil aus der älteren Literatur? Gibt es irgendwelche Anmerkungen zur Quellenkritik? Eine Überprüfung der Unabhängigkeit der Quellen voneinander? Wurden nichtiranische Quellen in irgendeiner Form berücksichtigt?

Wir müssen uns nämlich eines vor Augen führen: Islamwissenschaftler sind in der Regel Philologen, also Sprach- und Literaturwissenschaftler, viele davon ohne Geschichte als ergänzendes Fach. Leider habe ich schon ein paar Mal festgestellt, dass Literaturwissenschaftler der verschiedenen Disziplinen in der Quellenkritik nicht besonders versiert sind. Historiker, die in meinen Augen ja auch Philologen sind, gehen mit Quellen einfach anders und vor allem kritischer um, stellen die Frage nach dem cui bono.
 
Welche Belege außer den schriftlichen Quellen gibt es schon für den Zweiten Punischen Krieg ....

Eigentlich ein schönes Beispiel.

Wir wissen daraus, dass die Karthager den Krieg angefangen haben, dass Rom nur Verbündeten zu Hilfe kam, dass die Karthager aber allesamt üble Krämerseelen waren, die letztlich dem römischen Bürgersinn nichts entgegenzusetzen hatten.

Wir ahnen aber auch, dass diese Aussagen mit großer Vorsicht zu genießen sind.
 
Die Perser hatten aber eine kulturelle Tradition und sie waren geschichtsbewusst und sie kannten ihre große Geschichte. Es wird den Persern daher kaum geschmeckt haben, von türkischen und mongolischen Reiternomaden und deren teilzivilisierten (hier mit der ganzen Arroganz des Wortes gemeint) Nachkommen regiert worden zu sein, wo man doch selbst auf eine so großartige Geschichte zurückschauen konnte.
Warum haben sie dann nicht auch Nadir Schah (der ebenfalls kein Perser war) oder den turkmenischen Herrschern der "Weißen Hammel" einen vergleichbaren Ruf angehängt?

Es war daher nie im Interesse der Reitervölker, die Bevölkerungen der Städte am Rand der eurasischen Graslandzone auszurotten. Schon gar nicht ihrer auf die Prestigökonomie angewiesenen Anführer. Einem Nomaden kann man auch kein Land anbieten. Man muss ihm etwas anbieten, was einigermaßen einfach zu transportieren ist und trotzdem großen Wert hat. Wie also soll ein Attila, ein Dschingis Khan oder ein Timur Lenk seine Leute zufriedenstellen, wenn er die Bevölkerung eroberter Gebiete ausrottet?
Damit unterstellst Du allerdings, dass alle Herrscher mit ökonomischem Weitblick sowie dem Fokus auf eine langfristig angelegte Bildung eines wirtschaftlich soliden Reiches handelten. Gerade das war bei Timur aber nicht der Fall, er zog von einem Feldzug zum nächsten, ohne sich viel Mühe zu geben, seine Eroberungen zu sichern. (Ähnlich hatte z. B. auch schon in der Antike Pyrrhos gehandelt.) Außerdem stützte sich seine Macht, da er kein legitimer Khan werden konnte, in erster Linie auf seine militärischen Erfolge und seine Truppen statt auf den zeitaufwändigen Aufbau eines loyalen Verwaltungsapparates und funktionierenden Abgabensystems.
Da er sich so massiv auf Truppen und Eroberungen stützte, musste er natürlich auch den Erwartungshaltungen seiner Truppen gerecht werden. Erkläre einmal einem einfachen Krieger, dass er einen Bauern nicht ausplündern darf, weil der Erhalt des Bauern langfristig gesehen für ihn vorteilhafter ist.
Die Plünderung einer Stadt, die man längerfristig beherrschen möchte, macht ökonomisch langfristig gesehen fast nie Sinn, trotzdem kam sie auch anderweitig vor. Die Plünderung Konstantinopels (mit zahlreichen Todesopfern) 1204 z. B. war auch Unfug, vor allem in Hinsicht darauf, dass man die Stadt als Hauptstadt eines neuen Kaiserreiches weiterverwenden wollte, trotzdem wurde sie geplündert.

Und erneut frage ich nach dem archäologischen Befund: Bestätigt dieser die Tabula Rasa-Methode oder nicht?
Widerlegt er sie?

Eigentlich ein schönes Beispiel.

Wir wissen daraus, dass die Karthager den Krieg angefangen haben, dass Rom nur Verbündeten zu Hilfe kam, dass die Karthager aber allesamt üble Krämerseelen waren, die letztlich dem römischen Bürgersinn nichts entgegenzusetzen hatten.

Wir ahnen aber auch, dass diese Aussagen mit großer Vorsicht zu genießen sind.
Tatsächlich ein schönes Beispiel. So einseitig und tendenziös wurde das von den Quellen nämlich keineswegs dargestellt.
 
Tatsächlich ein schönes Beispiel. So einseitig und tendenziös wurde das von den Quellen nämlich keineswegs dargestellt.

Gut, dann nehmen wir ein ganz einfaches Beispiel.

Das Liber Historiae Francorum leitet die Herkunft der Frankenkönige bis nach Troja zurück. Ist gibt keine Quelle, die das Gegenteil belegt, und auch keinen entsprechenden archäologischen Befund. Nehmen wir deshalb an, dass diese Chronik auf Tatsachen beruht?

 
Erstens ist diese Quelle nicht einmal ansatzweise zeitnah entstanden. (Zwischen dem Untergang Trojas und dem Liber liegt dreimal so viel Zeit wie zwischen Timur und heute!) Nicht nur das: Obendrein gibt es ältere Quellen zur fränkischen Geschichte, die diese Ursprungssage noch nicht kennen.
Zweitens widersprechen sich die verschiedenen fränkischen Versionen der Ursprungssage deutlich.
Drittens widerspricht die Liber-Version sehr wohl den anderen "Quellen" zum Trojanischen Krieg, da in ihm Aeneas als König Trojas dargestellt wird.
 
Widerlegt er sie?

Du hast nicht begriffen, worum es mir geht. Mir geht es nicht darum, Timurs Ruf zu bessern. Mir geht es darum, die Quellen zu überprüfen. Zu einem Verständnis von Q-Kritik zu kommen anstatt ein weiteres Mal einen Irrtum zu wiederholen, dass Spinat besonders eisenhaltig ist. Letztendlich ist die Frage, ob der archäologische Befund die Quellen bestätigt oder widerlegt, dieselbe Frage. Der archäologische Befund lügt aber im Gegensatz zu den historiographischen Quellen, auf die hier alleine rekurriert wird, nicht. Er ist nicht durch Interessen steuerbar. Darum geht es.
 
Du hast nicht begriffen, worum es mir geht. Mir geht es nicht darum, Timurs Ruf zu bessern. Mir geht es darum, die Quellen zu überprüfen.
In gewisser Weise läuft das aber aufs Gleiche hinaus. Du vertrittst anscheinend die (heutzutage weitverbreitete) Auffassung, dass, wenn ein Herrscher in den Quellen ein besonders schlechtes Image hat, das wahrscheinlich nur darauf zurückzuführen ist, dass die Quellen ihm feindlich gesinnt waren, sie ihn also bewusst negativ dargestellt haben, während er in Wahrheit eh ganz "normal" oder sogar "gut" war. Das kann man zwar nie ausschließen, sollte man aber nicht zur Grundlage der Betrachtung machen, indem man sagt, wir verwerfen die Quellen erstmal, es sei denn sie werden durch archäologische Befunde bestätigt. Natürlich muss man mit Quellen kritisch umgehen, aber sie nur deshalb infrage zu stellen, weil sie ein negatives Bild von einem Herrscher zeichnen, halte ich für einen zu einseitigen Umgang (schon deshalb, weil er die fragwürdige Annahme impliziert, dass "schlechte Menschen" eine "Neuentwicklung" des 19./20. Jhdts. seien, während es davor nur mehr oder weniger durchschnittliche Herrscher gegeben habe). Denn die Möglichkeit, dass Quellen bewusst ein falsches Bild zeichnen, besteht grundsätzlich immer: Wenn ein Herrscher in den Quellen ganz "normal" dargestellt wird, könnte er auch in Wahrheit ein brutaler Schlächter gewesen sein, bloß dass ihm die Quelle wohlgesonnen war und daher seine Untaten verschwieg. So gesehen müssten wir schriftliche Quellen als Mittel der historischen Forschung komplett verwerfen, denn wie soll man z. B. nachweisen, dass z. B. Arnulf von Kärnten nicht 20.000 Menschen abschlachten ließ und die ihm wohlgesonnenen Quellen das bloß verschwiegen haben? Umgekehrt könnte er aber auch ein engagierter Kämpfer für die Menschenrechte gewesen sein, aber die missgünstigen Quellen haben das verschwiegen. So gesehen müssten wir sagen, dass wir über Arnulf von Kärnten nichts weiter wissen als dass er irgendwann mal gelebt hat, denn alles andere könnte erfunden sein. Außerdem sind auch archäologische Befunde allein nicht beweiskräftig, da die genaue Datierung oft unsicher ist oder auch der Befund allein keinen sicheren Schluss gestattet (Wenn z. B. eine Stadt dem archäologischen Befund zufolge irgendwann zwischen 1380 und 1420 abgebrannt ist, geschah das dann wegen einer Feuersbrunst oder weil sie von einem Feind niedergebrannt wurde?) und sie daher oft zusammen mit den schriftlichen Quellen interpretiert werden müssen, um aus ihnen schlau zu werden.

Unterm Strich bleibt uns also nur übrig, die verschiedenen Quellen sorgfältig abzuwägen. Wenn wir also (wie das offenbar bei Timur der Fall ist) mehrere Quellen haben, die ihn allesamt als Kriegsverbrecher darstellen, es aber keine Gegenbeweise gibt, spricht mehr dafür, sie für glaubwürdig zu halten, als ohne jeglichen Beweis zu sagen, dass in Wahrheit vermutlich alles ganz anders war. Dafür sprechen nicht nur die Quellen zu Timur selbst: Ich habe schon oben darauf hingewiesen, dass keineswegs alle ausländischen Feldherren, die den Iran heimgesucht haben, ein dermaßen schlechtes Image haben. Das spricht also auch dagegen, dass iranische Autoren Timur nur deshalb so schlecht gemacht haben, weil sie fremde Feldherren aus nationalistischen Gründen schlecht machen wollten.

Im Übrigen möchte ich noch anmerken, dass die Quellen oft keineswegs so einseitig sind, wie sie von der modernen Literatur oft dargestellt werden. Die Quellen zu Timur habe ich nicht selbst gelesen, wohl aber etliche zur griechisch-römischen Geschichte, und da stelle ich immer wieder fest, dass sie oft keineswegs so einseitig und tendenziös sind wie ihnen das heutzutage gerne unterstellt wird. (Siehe das Beispiel mit dem Zweiten Punischen Krieg oder dass Du selbst schon kritisiert hast, dass Herodot heutzutage gerne als simpler Märchenonkel abgestempelt wird.) Es würde mich also nicht überraschen, wenn die Quellen zu Timur in Wahrheit auch ein wesentlich vielseitigeres Bild zeichnen als ihnen vorgeworfen wird. Dann ist es aber erst recht unangebracht, einseitig nur die negativen Darstellungsteile für unglaubwürdig zu erklären (wie es oft auch bei Quellen zur Antike gemacht wird).

Der archäologische Befund lügt aber im Gegensatz zu den historiographischen Quellen, auf die hier alleine rekurriert wird, nicht. Er ist nicht durch Interessen steuerbar.
Das ist er sehr wohl, weil Funde in der Regel auch interpretiert werden müssen, z. B. einer bestimmten Kultur zugeordnet. Vor allem in Israel spielt bei der Interpretation von Ausgrabungen aus der biblischen Zeit eine Rolle, ob die Forscher die Wahrheit der Bibel beweisen wollen oder nicht. Mitunter ist auch nicht so ohne Weiteres feststellbar, ob ein erstaunliches Fundstück von der Kultur selbst hergestellt wurde oder importiert wurde, ob es also einen hohen Entwicklungsstand dieser Kultur belegt oder nicht. Da spielen dann schnell die persönlichen Ansichten der Forscher hinein.
 
Wenn ich bei Gonzales des Clavijo weiter lese, dann komme ich zu einer Stelle, wo die Botschafter Heinrichs III. erstmals über die Grenze des Machtbereichs Timurs treten. Sie berichten von einem Empfangsritual, bei welchem sie die Ehrengäste sind, nachdem sie zunächst von zehn Reitern eines griechischen Statthalters des Kaisertums von Trapezunt durch die Berge bis zur Grenze begleitet wurden.
Nach dem Empfangsritual beginnt ein Gelage während dem mehrere Leute eintreffen, die direkt von Timur kommen. Ein zwölfjähriger Knabe mit Bedeckung - der den Botschaftern als Neffe Timurs vorgestellt wird und der eine Burg übernehmen soll - und zwei Reiter. Diese beiden Reiter sind interessant: Die waren Krieger eines Statthalters von Timur, der mit einer trapezuntinischen Prinzessin verheiratet war. Weil er aber keine Kinder mit der Prinzessin hatte, adoptierte er jemanden - mir ist nicht ganz klar geworden, ob das vielleicht ein Sohn aus einer früheren Beziehung der Trapezuntinerin war - und dieser Adoptivsohn folgte ihm dann nach. Darüber war Timur aber erbost und es kam zu Kämpfen. Während dieser Kämpfe wurden die beiden Reiter, die Anhänger des Statthalters und seines Adoptivsohns waren, gefangen genommen. Zwei Jahre später begegnen sie, von Timur freigelassen, den kastilischen Botschaftern, denen sie ihre Geschichte erzählen können. Aus Timurs Sicht wären diese beiden Reiter als Verräter zu bezeichnen. Trotzdem haben sie die Gefangenschaft in Samarkand überlebt und bekommen auch einen Platz im Festzelt des Statthalters Timurs, bei dem sie den kastilischen Botschaftern begegnen.

Hier ist doch zu fragen, wie sich diese Begebenheit mit dem Bild eines völlig entgrenzten Timur vereinbaren lässt.
 
Interessant zu Timur ist übrigens auch das autobiographische Buch von Hans Schiltberger, der in den timuridischen Armeen kämpfte. Die Sache mit den Schädelpyramiden hat er zwar nicht selbst gesehen, bezeugt aber, davon gehört zu haben. Das zeigt, dass das keine nachträgliche Erfindung iranischer Nationalisten sein kann, sondern schon damals in Umlauf war.
 
In gewisser Weise läuft das aber aufs Gleiche hinaus. Du vertrittst anscheinend die (heutzutage weitverbreitete) Auffassung, dass, wenn ein Herrscher in den Quellen ein besonders schlechtes Image hat, das wahrscheinlich nur darauf zurückzuführen ist, dass die Quellen ihm feindlich gesinnt waren, sie ihn also bewusst negativ dargestellt haben, während er in Wahrheit eh ganz "normal" oder sogar "gut" war.

Das ist mir zu polemisch. Natürlich wird heute stärker hinterfragt, was in den historiographischen Quellen steht. Früher hat man das hingenommen und allenfalls phantastische Geschichten etwas belächelt. Dahinter steckt aber mitnichten "die Auffassung, dass, wenn ein Herrscher in den Quellen ein besonders schlechtes Image hat, das wahrscheinlich nur darauf zurückzuführen ist, dass die Quellen ihm feindlich gesinnt waren, sie ihn also bewusst negativ dargestellt haben, während er in Wahrheit eh ganz 'normal' oder sogar 'gut' war."
Vielmehr wird heute endlich die Frage nach der Deutungshoheit gestellt, statt dass man sicher geglaubtes Wissen nachplappert. So sicher geglaubtes Wissen, wie die Länge des Rheins oder der Eisengehalt im Spinat (ersteres hatte allerdings weniger Auswirkungen als letzteres, was ganzen Generationen von Kindern den Geschmack an einem eigentlich leckeren Gemüse verleidet hat).


Das kann man zwar nie ausschließen, sollte man aber nicht zur Grundlage der Betrachtung machen, indem man sagt, wir verwerfen die Quellen erstmal, es sei denn sie werden durch archäologische Befunde bestätigt.

Vom Verwerfen der Quellen ist gar nicht die Rede. Vielmehr von einer Einordnung: Das ist das Geschäft des Historikers. Abgesehen davon wurde mir hier noch keine Quelle präsentiert. Alles, was bisher angeführt wurde, wurde aufgrund sehr indirekter Literaturstellen - etwa den anderthalb Seiten bei Hunke - angeführt. Weder ein Quellenausschnitt, noch eine Quellendiskussion wurde eingestellt. Ich finde das für so apodiktische und dazu noch sehr heftige Urteile ein wenig wage.


Natürlich muss man mit Quellen kritisch umgehen, aber sie nur deshalb infrage zu stellen, weil sie ein negatives Bild von einem Herrscher zeichnen, halte ich für einen zu einseitigen Umgang (schon deshalb, weil er die fragwürdige Annahme impliziert, dass "schlechte Menschen" eine "Neuentwicklung" des 19./20. Jhdts. seien, während es davor nur mehr oder weniger durchschnittliche Herrscher gegeben habe).

Auch dies ist ein völliges Missverständnis dessen, was ich will. Es geht nicht darum Quellen in Frage zu stellen "weil sie ein negatives Bild von einem Herrscher zeichnen". Um das weil geht es dabei sogar am Allerwenigsten. Es geht darum, ein völlig unrealistisches Bild zu hinterfragen, welches hier völlig unkritisch geglaubt wird. Ich darf zum wiederholten Mal auf die Prestigeökonomie hinweisen und auf die Interessen, die ein eurasischer nomadisierender Steppenkriegerherrscher hat. Wir könnten uns mal im Vergleich das Attila-Bild ansehen und das sehr erhellende Buch von Timo Stickler zu den Hunnen anschauen. Dort wird genau unser Problem behandelt, dass die Quellen ein sehr viel negativeres Bild von Attila und seinen Scharen zeichnen, als dies vielleicht dem tatsächlichen Handeln entsprach. Es ist ohne Frage so, dass die Steppennomaden immer wieder grausame Taten begingen. Doch geschahen diese nicht um ihrer Selbst willen, sondern des Effektes wegen. Nur durch die Verhehrung von Landstrichen konnten die Steppennomaden jeweils die Drohkulisse aufbauen, die sie benötigten, um ihre Beute zu erpressen. Stickler führt das bei Attila sehr schön vor, auch wie Attila eben Drohkulissen aufbaut und friedlich abzieht, wenn er erreicht hat, was er will, aber eben, wenn er merkt, dass seine Drohkulissen nicht mehr ernst genommen werden, auch sehr grausam sein kann. Es wird bei Timur ganz genauso gewesen sein. Die Grausamkeiten geschahen nicht um ihrer Selbst willen, sondern um die Wirksamkeit der Drohkulisse zu erhalten.

Ist das jetzt Verharmlosung, Schönrederei, o.ä.? Nein, mitnichten.

Denn die Möglichkeit, dass Quellen bewusst ein falsches Bild zeichnen, besteht grundsätzlich immer: Wenn ein Herrscher in den Quellen ganz "normal" dargestellt wird, könnte er auch in Wahrheit ein brutaler Schlächter gewesen sein, bloß dass ihm die Quelle wohlgesonnen war und daher seine Untaten verschwieg. So gesehen müssten wir schriftliche Quellen als Mittel der historischen Forschung komplett verwerfen, denn wie soll man z. B. nachweisen, dass z. B. Arnulf von Kärnten nicht 20.000 Menschen abschlachten ließ und die ihm wohlgesonnenen Quellen das bloß verschwiegen haben?

Also schlägst du einen Umgang mit den Quellen wie im 19. Jhdt. vor: Naiv alles zu glauben, was darin steht? Nein, es geht nicht darum, die Quellen zu verwerfen. Es geht darum, den Subtext zu lesen, die Aussageabsichten herauszufiltern, textimmanente Widersprüche zu finden und die historiographischen Quellen mit anderen Quellen - auch schriftlichen im Übrigen! - zu kalibrieren.
Ein Beispiel: Es gibt zu einer Schlacht die um 1079 stattgefunden hat, nur eine einzige Quelle, die diese Schlacht erwähnt. Danach wird berichtet, dass der Protagonist dieser Quelle alles getan habe, um die Schlacht abzuwenden und die Angreifer in Briefen beschworen habe, sich doch zu besinnen, aber es kam zur Schlacht und er besiegte seine Gegner. Nach dieser Quelle sind die Agressoren also klar. Man könnte es leicht übersehen, aber dummerweise wissen wir aus einer anderen Quelle, die diese Schlacht aus guten Gründen überhaupt nicht erwähnt, obwohl der Verfasser dieser zweiten Quelle sie miterlebt haben dürfte (naja, er wird sogar in der ersten Quelle namentlich erwähnt), dass das Gebiet, in der die Schlacht geschlagen wurde zu dem Gebiet der angeblichen Aggressoren gehörte. Desweiteren wissen wir, dass das angeblich angegriffene Reich in diesen Jahren eine recht aggressive Expansionspolitik betrieb. Hätten wir also nur die Quelle A oder würden, was leicht passieren könnte, die wichtige Passage in Quelle B, die sich auf das Gebiet bezieht, nicht aber auf die Schlacht, überlesen, dann hätten wir nur die einseitige Darstellung der Quelle A, die aber falsch ist.


Außerdem sind auch archäologische Befunde allein nicht beweiskräftig, da die genaue Datierung oft unsicher ist oder auch der Befund allein keinen sicheren Schluss gestattet (Wenn z. B. eine Stadt dem archäologischen Befund zufolge irgendwann zwischen 1380 und 1420 abgebrannt ist, geschah das dann wegen einer Feuersbrunst oder weil sie von einem Feind niedergebrannt wurde?) und sie daher oft zusammen mit den schriftlichen Quellen interpretiert werden müssen, um aus ihnen schlau zu werden.

Ein Zerstörungshorizont alleine ist es ja nicht. Es macht die Menge aus. Wenn in einem bestimmten Gebiet alle größeren Ansiedlungen zur gleichen Zeit Zerstörungshorizonte aufweisen und - ich sprach ja die Siedlungsarchäologie an - ein Wiederaufbau gar nicht stattfindet oder nur in deutlich reduzierten Arealen, dann lässt sich daraus für unsere Fragestellung etwas schließen. Oder aber, wenn die Zerstörungshorizonte gar nicht so ausgiebig sind bzw. eine Kontinuität in der Bevölkerungsmasse feststellbar ist. Darum geht es: Wie sieht der archäologische Befund aus: Haben wir - in dem fraglichen Zeitraum, in der fraglichen Region eine Häufung der Zerstörungshorizonte? Wie viele Orte werden für immer oder zumindest für längere Zeit aufgelassen? Gibt es Neugründungen oder nicht, so dass wir Migration ausschließen können.



Wenn wir also (wie das offenbar bei Timur der Fall ist) mehrere Quellen haben, die ihn allesamt als Kriegsverbrecher darstellen, es aber keine Gegenbeweise gibt, spricht mehr dafür, sie für glaubwürdig zu halten, als ohne jeglichen Beweis zu sagen, dass in Wahrheit vermutlich alles ganz anders war.

Wie gesagt, bisher haben wir zwar die Informationen aus den antitimuridischen Quellen vorgesetzt bekommen, aber wir haben keine der Quellen auch nur ansatzweise gesehen, wir kennen nicht einmal ihre Abhängigkeit voneinander, wissen also nicht, ob sie für eine Konformitätsaussage geeignet sind oder nicht. Das sind sie nämlich nur dann, wenn sie - obwohl sie unabhängig von einander sind, Verfasser A also den Text von B nicht kennt und umgekehrt - dieselben Sachverhalte berichten. Sobald aber Verfasser A Text B kennt oder Verfasser B Text A, bestätigen sich die Quellen nicht mehr gegenseitig. Wenn Gonzales de Clavijo, den ich hier nun mehrfach angeführt habe etwas berichtet, was sich auch in der persischen Historiographie wiederfindet, dann haben wir zwei voneinander vermutlich unabhängige Aussagen über einen Sachverhalt, lesen wir zwei persische Historiographen, müssen wir zumindest schauen, ob sie nicht voneinander abschreiben.


Im Übrigen möchte ich noch anmerken, dass die Quellen oft keineswegs so einseitig sind, wie sie von der modernen Literatur oft dargestellt werden. Die Quellen zu Timur habe ich nicht selbst gelesen, wohl aber etliche zur griechisch-römischen Geschichte, und da stelle ich immer wieder fest, dass sie oft keineswegs so einseitig und tendenziös sind wie ihnen das heutzutage gerne unterstellt wird. (Siehe das Beispiel mit dem Zweiten Punischen Krieg oder dass Du selbst schon kritisiert hast, dass Herodot heutzutage gerne als simpler Märchenonkel abgestempelt wird.)

Das Herodot zum Märchenonkel abgestempelt wird, ist allerdings kein Problem der Geschichtswissenschaft sondern einiger User dieses Forums. Ich kenne auch keine Pauschalvorwürfe der wissenschaftlichen Literatur, dass Quellen einseitig seien. Ich kenne allerdings Arbeiten, in denen die Einseitigkeit einzelner Quellen sauber herausgearbeitet wird.

Dann ist es aber erst recht unangebracht, einseitig nur die negativen Darstellungsteile für unglaubwürdig zu erklären (wie es oft auch bei Quellen zur Antike gemacht wird).

Wird es das?


El Quijote schrieb:
Der archäologische Befund lügt aber im Gegensatz zu den historiographischen Quellen, auf die hier alleine rekurriert wird, nicht. Er ist nicht durch Interessen steuerbar.
Das ist er sehr wohl, weil Funde in der Regel auch interpretiert werden müssen, z. B. einer bestimmten Kultur zugeordnet. Vor allem in Israel spielt bei der Interpretation von Ausgrabungen aus der biblischen Zeit eine Rolle, ob die Forscher die Wahrheit der Bibel beweisen wollen oder nicht. Mitunter ist auch nicht so ohne Weiteres feststellbar, ob ein erstaunliches Fundstück von der Kultur selbst hergestellt wurde oder importiert wurde, ob es also einen hohen Entwicklungsstand dieser Kultur belegt oder nicht. Da spielen dann schnell die persönlichen Ansichten der Forscher hinein.

Der archäologische Befund mag ja fehlinterpretiert werden. Ob man nun Ende des 19. Jhdts. in den neolithischen Pfahlbauten der Alpenregion eine keltische Eigenschaft sah, auf der man einen schweizerischen Nationalmythos aufbauen konnte oder ob man in Deutschland, Frankreich oder Israel Grabungen nutzt, um irgendwelche nationalen Ansprüche zu historisieren (das Ggt. ist auch häufig der Fall, manche Stellen bleiben für Archäologen tabu, weil die Regierungen Angst haben, das etwas ungünstiges dabei herauskomme, wie z.B. eine jüdische Siedlung zwischen Damaskus und dem Golan). Aber darum geht es nicht. Es geht um die Unerscheidung in Traditions- und Überrestquellen. Historiographische Quellen sind Traditionsquellen, ein archäologischer Befund ist aber nun mal nicht mit Absicht für die Nachwelt geschaffen worden. Genau so wenig, wie eine zufällig überlieferte Rechnung, die vielleicht ereignishistorisch viel aufschlussreicher ist, als der blumige Bericht eines Historiographen. Darum ging es.
 
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