Alter von Literatur als KO-Kriterium?

excideuil

unvergessen
In einem anderen Thread fand ich diese Aussage zu historischer Literatur:
Ich meine Literatur, die über 10 Jahre alt ist (außer unmstößliche Stand.Werke) ist grenzwertig, Literatur, die über 20 Jahre alt ist, ist wertlos (für die Wissenschaft), und alles noch ältere ist schon als Quelle zu methodischer Geschichte der Geschichtswissenschaft zu werten.
Wie darf/muss ich das verstehen? Ist tatsächlich das Alter einer Untersuchung/Biografie/wissenschaftlichen Darstellung das KO-Kriterium? Oder ist diese Aussage nur pauschal zu werten?

Um meine Frage zu illustrieren, 2 Beispiele:

"Fournier, August: Die Geheimpolizei auf dem Wiener Kongress. Eine Auswahl aus ihren Papieren, Wien und Leipzig, 1913"
Dieses Thema ist in diesem Buch überzeugend - dargestellt und kommentiert - umgesetzt. Dies zeigt sich auch daran, dass selbst in neuen Untersuchungen auf dieses Werk zurückgegriffen wird. Es darf daher davon ausgegangen werden, dass eine Neuuntersuchung zu keinen anderen - besser neuen - Ergebnissen führt. Damit darf es sich wohl trotz des hohen Alters, doch immer noch Referenz nennen, oder?

"Oer, Rudolfine Freiin von: Der Friede von Pressburg – Ein Beitrag zur Diplomatiegeschichte des napoleonischen Zeitalters, Aschendorffsche Verlagsbuchhandlung, Münster, 1965"

Dies Buch, auch fast 50 Jahre alt, behandelt ein Thema, das bis heute im deutschsprachigen Raum keine Neuuntersuchung erfuhr. Kann damit das Alter eine Rolle zur "Abqualifizierung" spielen, anders, muss es nicht bis zu einer Neubetrachtung als Referenz gelten?

Und vllt. noch ein Aspekt:
Im Zuge des 2. Weltkrieges verschwanden ganzen Truhen von Briefen, Dokumenten ... des Schlosses von Sagan. Können Bücher/Darstellungen, die auf diese - später vernichteten - Quellen abheben, überhaupt als wissenschaftlich überholt gelten?

Grüße
excideuil
 
Die Fragestellung ist subjektiv *strengguck* ;)

Trotzdem beantworte ich sie in deinem Sinne:
Das Alter per se kann nicht das KO-Kriterium sein. Es kommt vielmehr darauf an, was seitdem zum Thema geschrieben worden ist und ob die in einem Text vertretene Hypothese sich durchsetzen konnte oder als widerlegt angesehen werden muss.
Ein weiteres Kriterium ist der methodische Zugang. Wenn sich das Handwerkszeug in der jeweiligen Wissenschaft seit der Veröffentlichung eines wissenschaftlichen Textes sehr verändert hat, bedarf es natürlich einer Revision des Textes, was aber nicht unbedingt zur Folge hat, dass man zu anderen Ergebnissen kommen muss. Mit neuen Methoden und speziell in den Geschichtswissenschaften auch mit neuen Quellenfunden kann sich ein Bild zum Teil auch verschieben. Das betrifft aber dann nur den entsprechenden Teil der Literatur, der dadurch korrigiert wurde.
Was den Geisteswissenschaften zudem sehr zu eigen ist, das ist der Paradigmenwechsel. Vor ein paar Jahren, so munkelt man, soll es an der LMU zu der Frage gekommen sein, wann denn eine neue Professorenstelle in der Alten Geschichte besetzt werden sollte. Der Rektor der Münchener Uni soll daraufhin angeblich gefragt haben, ob das denn notwendig sei und die Althistoriker nicht bald mal ausgeforscht hätten.
Wir dürfen wohl unterstellen, dass diese Anekdote eher in den Bereich der Urban Legends gehört und der Rektor der Münchener Uni diese Frage so nie gestellt hat, aber beantworten können wir die Frage trotzdem: Nein, die Althistoriker haben noch lange nicht ausgeforscht, obwohl beinahe jedes althistorische Dokument schon mehrfach ausgewrungen wurde, einfach weil sich - eben typisch für die Geisteswissenschaften - immer neue Fragestellungen ergeben. Diese Fragestellungen sind Moden unterworfen oder sie können sinnstiftend sein, häufig sind sie einfach ein Reflex auf die Umwelt der jeweiligen Historiker.
 
In einem anderen Thread fand ich diese Aussage zu historischer Literatur:

Wie darf/muss ich das verstehen? Ist tatsächlich das Alter einer Untersuchung/Biografie/wissenschaftlichen Darstellung das KO-Kriterium? Oder ist diese Aussage nur pauschal zu werten?

Ein KO-Kriterium ist es sicher nicht. Es kommt sehr darauf an. In meinem Forschungsschwerpunkt gilt, das die Literatur vor 1989 überholt ist. Das bedeutet, dass nach 1990 sehr viel neues Veröffentlicht wurde, weil eben die Archvie im Osten aufgingen und die Historiker so neues Quellenmaterial zur Verfügung hatten.

Dies bedeutet jetzt aber nicht, dass man keine Literatur von vor 1989 mehr lesen soll oder diese in seine Arbeit einfliessen lassen darf. Denn nicht alles Aussagen haben sich ja verändert, nur gewisse Punkte. Es hilft da natürlich, dass man den neusten Forschungsstand kennt.


Es gibt aber auch historische Themen da gibt es nur "alte" Literatur da nichts mehr erforscht wurde.

Dann gibt es Werke die älter sind aber immer noch zu den Standardwerken zählen, trotz neuer Forschung. Als Beispiel kann man hier Raul Hilberg. Die Vernichtung der europäischen Juden nennen. Dies schrieb er 1961 und kam 1982 in Deutsch auf den Markt. Er hat das Standardwerk laufen überarbeitet und 1994 wurde es dann noch im Fischer Verlag herausgegeben.





Um meine Frage zu illustrieren, 2 Beispiele:

"Fournier, August: Die Geheimpolizei auf dem Wiener Kongress. Eine Auswahl aus ihren Papieren, Wien und Leipzig, 1913"
Dieses Thema ist in diesem Buch überzeugend - dargestellt und kommentiert - umgesetzt. Dies zeigt sich auch daran, dass selbst in neuen Untersuchungen auf dieses Werk zurückgegriffen wird. Es darf daher davon ausgegangen werden, dass eine Neuuntersuchung zu keinen anderen - besser neuen - Ergebnissen führt. Damit darf es sich wohl trotz des hohen Alters, doch immer noch Referenz nennen, oder?

Ja klar darf man das als Referenz nehmen.

"Oer, Rudolfine Freiin von: Der Friede von Pressburg – Ein Beitrag zur Diplomatiegeschichte des napoleonischen Zeitalters, Aschendorffsche Verlagsbuchhandlung, Münster, 1965"

Dies Buch, auch fast 50 Jahre alt, behandelt ein Thema, das bis heute im deutschsprachigen Raum keine Neuuntersuchung erfuhr. Kann damit das Alter eine Rolle zur "Abqualifizierung" spielen, anders, muss es nicht bis zu einer Neubetrachtung als Referenz gelten?

Ja auch hier klar gilt dies als Referenz

Und vllt. noch ein Aspekt:
Im Zuge des 2. Weltkrieges verschwanden ganzen Truhen von Briefen, Dokumenten ... des Schlosses von Sagan. Können Bücher/Darstellungen, die auf diese - später vernichteten - Quellen abheben, überhaupt als wissenschaftlich überholt gelten?

Grüße
excideuil

Meiner Ansicht nach nein. Diese Bücher/Darstellungen sind sehr wichtig, da sie noch die einzigen "Zeugen" dieser vernichteten Quellen sind.
 
Vielleicht noch etwas: Die aus Amerika zu uns geschwappte Mode im Wissenschaftsbetrieb des publish or perish ("veröffentliche oder krepiere") sorgt zwar dafür, dass die wissenschaftlichen Veröffentlichungen mengenmäßig exponentiell in die Höhe schießen, aber wird von einigen Wissenschaftlern durchaus auch als Quelle eines Qualitätsverfalls angesehen.
 
Nun, das Alter einer Veröffentlichung sagt nichts über den "Wahrheitsgehalt" aus.
Ich kann das jetzt nur als Ingenieur schreiben, da gibt es etliches, was vor 100 Jahren empirisch gefunden wurde, und das heute noch genauso gilt, vielfach theoretisch überprüft.

Wenn vor 100 Jahren jemand seine "Quellen" (Versuche/Mathematische Sätze/Funde/literarische Quellen) wissenschaftlich sauber durchgearbeitet hat, ist auch heute mit den gleichen Quellen kein anderes Ergebnis zu erwarten.
 
Die Fragestellung ist subjektiv *strengguck* ;)
Wie wohl jede Frage :pfeif:

Meine Bibliothek besteht nun einmal nicht nur aus sündhaft teuren Neuerscheinungen, sondern auch, besser vor allem aus - m.A.n. - durchaus soliden Werken, mit denen sich mitreden läßt, ohne als wissenschaftlich antiquiert zu gelten.
Und so eine Aussage stellt natürlich Fragen.

Aber, und da sind sowohl ursi als auch du bei mir, gelten solche Aussagen nur eingeschränkt. Gut aus berufenem Mund zu lesen! Und das war der Ansatz meiner Frage.
Dass dazu noch eine Anekdote herumkommt, zusätzlich eine Einschätzung zu aktuellen amer. Veröffentlichungen folgt, freut mich umso mehr, weil, als Hobby-Historiker habe ich eine andere Vorstellung vom Wissenschaftsbetrieb. Das relativiert natürlich.

Ich danke euch beiden!

Grüße
excideuil
 
Das Alter per se kann nicht das KO-Kriterium sein.
Sehr richtig!
Unbesorgt werde ich z.B. H. Wolframs "die Goten" nicht ins Altpapier werfen, obwohl das angeblich magische alter von zehn Jahren schon überschritten ist :yes:
anzumerken wäre noch, dass ältere Forschungsliteratur durchaus selber zum Gegenstand der Forschung werden kann: hier wären z.B. die Harmonielehren von Hindemith und Schönberg zu nennen.
 
Vielleicht noch etwas: Die aus Amerika zu uns geschwappte Mode im Wissenschaftsbetrieb des publish or perish ("veröffentliche oder krepiere") sorgt zwar dafür, dass die wissenschaftlichen Veröffentlichungen mengenmäßig exponentiell in die Höhe schießen, aber wird von einigen Wissenschaftlern durchaus auch als Quelle eines Qualitätsverfalls angesehen.


Klar, weil sich junge Wissenschaftler unter dem Publikationsdruck nicht mehr die Mühe machen, die Texte nach langem Studium von (bisher auch ungeschöpften) Quellen zusammen zu "zimmern".
 
Natürlich sollte man, wenn man sich mit irgendeinem Thema beschäftigt, die aktuelle Forschungsliteratur zu kennen. Das Problem ist praktisch häufiger, dass man die neue Literatur ignoriert hat oder nicht kennt. Ist mir auch schon mal während des Studiums im Vorfeld einer Prüfung passiert. Ansonsten sehe ich - außer man schreibt über brandheiße zeitgeschichtliche Themen - innerhalb der Geschichtswissenschaften den Aktualitätsdruck nicht ganz so hoch wie in anderen Fächern. Die Forschungsdiskussion, so zumindest mein Eindruck, formt sich hier teils über Jahrzehnte hinweg. Selbst bei so stark beachteten Themen wie dem Holocaust sind Namen wie Kogon oder Reitlinger sicher jedem kompetenten Forscher noch ein Begriff, selbst wenn deren Werke am Anfang der Forschung stehen und methodisch zu Recht intensiv kritisiert wruden.
 
Ergänzend zu den Ausführungen El Q.s und Ursis, denen ich zustimme, kurz hierzu:


Und vllt. noch ein Aspekt:
Im Zuge des 2. Weltkrieges verschwanden ganzen Truhen von Briefen, Dokumenten ... des Schlosses von Sagan. Können Bücher/Darstellungen, die auf diese - später vernichteten - Quellen abheben, überhaupt als wissenschaftlich überholt gelten?

Das können sie, wenn nicht ein anderes der oben genannten Ausschlusskriterien vorliegt. Und die Frage danach, ob sie es sind, ist wichtig für die Einschätzung ihres Quellenwertes. Wenn ich z. B. in einem Buch von 1937 Auszüge einer im Original verschollenen Quelle finde, kann das für mich als Historiker natürlich sehr hilfreich sein. Wenn ich aber weiß, dass der Autor des Buches fanatischer Nationalsozialist war und sein Werk wissenschaftlich absolut nicht haltbar ist, muss ich mich fragen, inwieweit ich auf die Authentizität bzw. Repräsentativität der fraglichen Quellenauszüge vertrauen darf.
 
Zuletzt bearbeitet:
Selbst bei so stark beachteten Themen wie dem Holocaust sind Namen wie Kogon oder Reitlinger sicher jedem kompetenten Forscher noch ein Begriff, selbst wenn deren Werke am Anfang der Forschung stehen und methodisch zu Recht intensiv kritisiert wurden.

Wobei gerade Kogon - als politisches Opfer der Nationalsozialisten - irgendwo zwischen Quelle und Literatur steht, wie ich meine.
 
Viel wurde ja schon gesagt, nur noch eine Anmerkung, wo mir gleich beim Lesen die Haare zu Berge standen. Wenn man Literatur nach Ablauf von xx Jahren einfach zu einer Primärquelle macht, frage ich mich, was für ein Doktorant so arbeiten kann? Ich hoffe, ich habe das Posting falsch verstanden, sonst verliere ich endgültig meinen Glauben in die aktuelle Geschichtswissenschaft.

Wenn ich zum Thema deutsche Kolonialgeschichte (1884-1943) ein Buch von 1980 mit Wertungen, Analysen oder ähnliches zitiere, bleibt das immer Sekundärquelle/-literatur und ist durch das Alter nicht zu einer (Primär ?)-quelle geworden. Für mich ist eine Primärquelle eine Darstellung "aus erster Hand", also von unmittelbar Beteiligten. Sekundärquelle oder Literatur ist immer eine Schilderung aus "zweiter Hand".

Das Begriffspaar Primärquelle/Sekundärquelle steht für sich und hat nichts mit dem Begriffspaar Quelle/Sekundärliteratur zu tun. Sowohl Primärquellen als auch Sekundärquellen sind schlicht „Quellen“, und unter Sekundärliteratur versteht man die Fachliteratur zu einem Thema. In der Geschichtswissenschaft wird auch das Begriffspaar Quelle/Darstellung verwendet. Dabei bezeichnet der Begriff „Darstellung“ jede Erzählung über vergangenes Geschehen, unabhängig von der Frage, ob diese als „Sekundärliteratur“ veröffentlicht wurde.

Zitiert aus:

Primärquelle und Sekundärquelle ? Wikipedia
 
Wenn ich zum Thema deutsche Kolonialgeschichte (1884-1943) ein Buch von 1980 mit Wertungen, Analysen oder ähnliches zitiere, bleibt das immer Sekundärquelle/-literatur und ist durch das Alter nicht zu einer (Primär ?)-quelle geworden. Für mich ist eine Primärquelle eine Darstellung "aus erster Hand", also von unmittelbar Beteiligten. Sekundärquelle oder Literatur ist immer eine Schilderung aus "zweiter Hand".

Hallo Arne,

Kommt darauf an, ... auf die Problemstellung. Ich habe das oben so verstanden, dass die auch Rezeptionsgeschichte (bezogen auf Dein Beispiel Kolonialgeschichte) angesprochen ist.

Da kann die Literatur zur Quelle werden.:winke:

Ansonsten schließe ich mich den Vorrednern an.
 
Hallo Arne,

Kommt darauf an, ... auf die Problemstellung. Ich habe das oben so verstanden, dass die auch Rezeptionsgeschichte (bezogen auf Dein Beispiel Kolonialgeschichte) angesprochen ist.

Da kann die Literatur zur Quelle werden.:winke:

Du meinst, wenn der Untersuchungstatbestand zum Beispiel heißt "Wie hat sich die Sicht der deutschen Kolonialgeschichte in Deutschland nach 1945 gewandelt?"

Richtig, dann ist ein Buch von 1980 eindeutig eine Primärquelle, weil es ja ein unmittelbar Beteiligter geschrieben hat. :friends:
 
Viel wurde ja schon gesagt, nur noch eine Anmerkung, wo mir gleich beim Lesen die Haare zu Berge standen. Wenn man Literatur nach Ablauf von xx Jahren einfach zu einer Primärquelle macht, frage ich mich, was für ein Doktorant so arbeiten kann? Ich hoffe, ich habe das Posting falsch verstanden, sonst verliere ich endgültig meinen Glauben in die aktuelle Geschichtswissenschaft.

Das Posting hast du vermutlich richtig verstanden, aber das ist kein Grund den "Glauben in die aktuelle Geschichtswissenschaft" zu verlieren. Eine Schwalbe macht noch keinen Sommer und ein Doktorand bestimmt nicht, wie die Geschichtswissenschaft mit älterer Literatur umzugehen hat. Es kommt vielmehr darauf an, ob sich der Forschungsstand wesentlich verändert hat.
Als Beispiel: 1989 veröffentlichte Heinz Halm seine Hypothese, dass der Begriff al-Andalus ein verschliffener Gotizismus sei (das hat er nicht so ausgedrückt), dem wurde von Volker Noll 1997 heftig widersprochen, Noll kehrte zur Vandalen-Hypothese zurück, die er über ein griechisches Adstrat zu rechtfertigen versuchte. Dann kam 2002 Georg Bossong und griff sowohl Halms als auch Nolls Erklärungen an, um diese durch eine baskoide (waskonische) Hypothese zu ersetzen. Letztlich kann keiner der drei seine Hypothese überzeugend beweisen, lediglich aufgrund von außerlinguistischen Daten mehr oder weniger plausibel machen. Ist nun Halm durch Noll und Noll durch Bossong widerlegt? Mitnichten, ich halte Halms Erklärung sogar für die historisch und linguistisch am plausibelsten belegte Hypothese, Bossongs Erklärungsversuch krankt daran, dass er die dokumentarischen Lücken, die er Halm vorwirft, für seine eigene Hypothese völlig ignoriert. Neuer ist also nicht unbedingt besser.
Allerdings ist natürlich die Geschichte der letzten ca. 150 Jahre ein sehr stark durchdrungenes Forschungsfeld, Sperrfristen in Archiven laufen ab etc., da kann sich innerhalb weniger Jahre der Forschungsstand tatsächlich sehr stark verschieben. Aber wie gesagt, Pauschalisieren verbietet sich trotzdem. Wenn man einem Werk also nur noch forschungsgeschichtlichen Wert beimessen möchte, dann sollte man auch tunlichst zeigen, dass es im Forschungsstand völlig überholt ist. Ansonsten gilt die mittelalterliche Weisheit, dass wir quasi nanos gigantum umeris insidentes - wie Zwerge auf den Schultern von Riesen sitzend - sind.
 
Das Beispiel legt noch einen weiteren Gedanken nahe, wenn ich mal an den Ausgangspunkt der Diskussion, Literatur zum Kaiserreich 1871/1914, denke.

Bei der Frage des "Verfallsdatums" ist zu beachten, dass Einzelaspekte älterer Arbeiten durchaus - weiterhin - den aktuellen Stand der Forschung bzw. der herrschenden Meinung widerspiegeln können.

Es ist also zu differenzieren, bzw. müsste man das auch partiell betrachten.
 
Nun, ich denke tendenziell sollte man, je älter eine Sekundärquelle ist, je quellenkritischer an die Sache rangehen.
Ich bin da halt sehr "vorbelastet" durch mein "Spezialgebiet" die Kostümkunde. Wenn man sich hier Literatur aus dem frühen 20.Jh. anschaut dann stellen sich einem die Nackenhaare auf... Als Beispiel sei hier mal Max von Boehn vorgestellt. Sein Werk "Die Mode", wird immernoch brav aufgelegt und verbreitet trotz Überarbeitungen immernoch plumpe Unwahrheiten, bzw. sehr verfälschende Ungenauigkeiten, ausserdem schrieb er extrem wertend und subjektiv. Klar, kein Autor kann 100% objektiv sein, er ist ja auch nur ein Mensch, aber ich sehe es als sehr unwissenschaftlich an eine Mode als "geschmacklos" abzukanzeln, nur weil sie dem gerade aktuellen Zeitgeist oder dem persönlichen Gusto zuwider läuft.
Oder Erika Thil "Geschichte des Kostüms", hier sind zwar nicht ganz so viele brutale Schnitzer drin, aber man merkt einfach dass das Buch in der DDR geschrieben wurde und vieles sehr durch die "rote Brille" gefiltert ist.

Es ist halt doch nach wie vor das Beste, wenn man sich selbst durch möglichst viele entsprechende Primärquellen ackert und sich diese nicht nur in bereits verwursteter bzw. mehrfach wiedergekäuter Form zu Gemüte führt. (wobei ich nicht sagen will, dass Sekundärquellen immer Mist sind - ohne die kommt man ja auch nicht weiter!)
 
Nun, ich denke tendenziell sollte man, je älter eine Sekundärquelle ist, je quellenkritischer an die Sache rangehen.
Ich bin da halt sehr "vorbelastet" durch mein "Spezialgebiet" die Kostümkunde. Wenn man sich hier Literatur aus dem frühen 20.Jh. anschaut dann stellen sich einem die Nackenhaare auf... Als Beispiel sei hier mal Max von Boehn vorgestellt. Sein Werk "Die Mode", wird immernoch brav aufgelegt und verbreitet trotz Überarbeitungen immernoch plumpe Unwahrheiten, bzw. sehr verfälschende Ungenauigkeiten, ausserdem schrieb er extrem wertend und subjektiv. Klar, kein Autor kann 100% objektiv sein, er ist ja auch nur ein Mensch, aber ich sehe es als sehr unwissenschaftlich an eine Mode als "geschmacklos" abzukanzeln, nur weil sie dem gerade aktuellen Zeitgeist oder dem persönlichen Gusto zuwider läuft.
Oder Erika Thil "Geschichte des Kostüms", hier sind zwar nicht ganz so viele brutale Schnitzer drin, aber man merkt einfach dass das Buch in der DDR geschrieben wurde und vieles sehr durch die "rote Brille" gefiltert ist.

Es ist halt doch nach wie vor das Beste, wenn man sich selbst durch möglichst viele entsprechende Primärquellen ackert und sich diese nicht nur in bereits verwursteter bzw. mehrfach wiedergekäuter Form zu Gemüte führt. (wobei ich nicht sagen will, dass Sekundärquellen immer Mist sind - ohne die kommt man ja auch nicht weiter!)

Achtung, du verwechselst Quellen mit Literatur. Innerhalb der Quellen gibt es Primär- und Sekundärquellen, wobei mache Quelle je nach Fragestellung und Sachverhalt Primär- oder Sekundärquelle sein kann. Ein Kleidungsstück oder ein zeitgenössisches Werk über Kleidung von einem Insider wäre z.B. eine Primärquelle, Heinrich von Kleists subtile Lästereien über die Moden in Paris zur Zeit der Kontinentalsperre wären dagegen eine Sekundärquelle, zumindest wenn man sie zu tatsächlichen Modefragen heranziehen wollte. Literatur sind die wissenschaftlichen Darstellungen, die zu einem Thema verfasst werden, die aber, wie hier im Thread mehrfach angemerkt, wiederum zur Quelle werden können. Letztlich wird eine Quelle zur Quelle durch die (Art der) Fragestellung, die sie zu beantworten helfen soll.
Der Begriff Sekundärliteratur wird eigentlich nur in den Literaturwissenschaften verwendet. Aber da die Macht der Gewohnheit manchmal stärker ist, als sprachliche Präzision (und aufgrund der sehr hohen personellen Überschneidungen von Historikern und Philologen) begegnet man häufig auch in der Geschichte dem Begriff der Sekundärliteratur.

Was nun speziell die Autoren Boehn und Thil angeht, so scheint hier ein Mangel an Ideologiekritik vorzuherrschen. Ideologiekritik heißt, dass ein Verfasser, um möglichst objektiv zu sein (was er nie erreichen wird, also um intersubjektiv zu sein) sich seiner eigenen ideologischen Vorbelastung bewusst wird und diese möglichst zu neutralisieren versucht.
Das war in der DDR natürlich in Bezug auf den Marxismus-Leninismus unerwünscht, und man hatte sich da ja eine Brücke gebaut, indem man den Marxismus-Leninismus einfach als Wissenschaft hinstellte; vielleicht würde Thil heute also das Buch ganz anders schreiben.
 
Zuletzt bearbeitet:
Das Beispiel legt noch einen weiteren Gedanken nahe, wenn ich mal an den Ausgangspunkt der Diskussion, Literatur zum Kaiserreich 1871/1914, denke.

Uff... Dann brauche ich also mein im Antiquariat erstandenes Buch "Sieg und Krieg - 1870-71 - Ein Gedenkbuch" von 1896 nicht wegzuwerfen.
Von Militärs geschrieben, zeigt es recht deutlich deren Denkweise. smilie_les_008.gif"Zum Sturm, Gewehr rechts! Marsch, marsch, Hurra!"
 
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