Dass Wodan Tiu verdrängt hat als obersten Gott ist auch nur eine Theorie - wenngleich ich sie aufgrund der weitverbreiteten verwandten Gottheiten wie Zeuz/Jupiter/Dyau etc. für wahrscheinlich halte.
Es scheint zumindest so zu sein, dass der Himmelsgott Tyr/Zeus/Dies/Dyaus/Tiwaz ursprünglich der höchste Gott der Indogermanen war und an der Spitze des Götterpantheons stand. Diese Stellung hat er in Skandinavien verloren, wo Odin an seine Stelle rückte, auf dem Kontinent Wotan. Bereits im 1. Jh. n. Chr. spricht Tacitus in seiner
Germania davon, dass
Mars der Hauptgott bei den Germanenen sei, was die Forschung im allgemeinen mit
Tiwaz/Tyr identifiziert und er spricht ferner von
Mercurius, was mit
Wotan/Odin gleichgesetzt wird. Ob eine solche Gleichsetzung wirklich zutrifft, ist problematisch und nicht unstrittig.
Falls es wirklich zu einer solchen Verdrängung kam, kann man über die Ursachen nur spekulieren. Der Sturm- und Todesgott Wotan/Odin ist in seiner Persönlichkeit vielschichtiger, dynamischer und geistiger als der eher statische Tiwaz/Tyr. Andererseits könnte die Verdrängung des Tiwaz auch mit innergermanischen Machtverschiebungen und der Entstehung neuer Großstämme zu tun haben.
Beide könnten aber z.B. auch ursprünglich eine Gottheit gewesen sein die sich dann im Laufe der Zeit in zwei Entitäten aufspaltete... Beinamen Odins wie Alfodur oder Hanga-Tyr könnten so zu deuten sein ,daß sich Odin aus einem ähnlichen Himmels/Vatergott wie die anderen indo-europäischen Himmelsväter entwickelt hat... der spätere Tyr könnte dann als Hyposthase des jungen, kriegerischen Aldodur deutbar sein, gedacht als Odins Sohn.
Eine Abspaltung des Odin von Tyr halte ich für zweifelhaft. Es erscheint mir wahrscheinlicher, dass beide die gegensätzlichen Pole des indogermanischen Götterhimmels bildeten: Tyr/Tiwaz als lichter, weiser, friedliebender Himmelsgott (der er ursprünglich einmal war, bevor er zum Gott des Kampfes mutierte) und Odin als Todes- und Sturmgott, usprünglich ein nur ein dunkler Gott der Gespenster, der wilde Jäger, dem die Geister folgen.
WANN solche religiösen Vorstellungen zuerst auftraten kann man nicht mehr feststellen... die ersten Erwähnungen Wodans sind IIRC aus dem 6. Jhd. allerdings wird der Gott um einiges älter sein... wobei sich aber kaum rekonstruieren lassen wird welche Vorstellungen mit dem Gott damals verknüpft waren... die Darstellungen der Liederedda sind jedenfalls vergleichsweise spät und aus lokaler isländischer Tradition entstanden, die sich nicht allgemein auf die anderen Germanen, schon garnicht heidnischer Zeit verallgemeinern lassen.In der Antike hatte man es ja zumeist mit stark regionalisierten Kultgemeinschaften zu tun... möglich ,daß Götterhierarchien und Mythen sich von Stamm zu Stamm stark unterschieden haben.
Dass der allen Indogermanen gemeinsame Himmelsgott Tyr/Zeus/Dies/Dyaus/Tiwaz auf eine Epoche weit vor der Zeitenwende zurückgeht, ist unumstritten. Ob auch Odin/Wotan so weit zurückreicht, ist nicht schlüssig zu beantworten. Sollte die von vielen Forschern postulierte Identität von Mercurius = Odin/Wotan bei
Tacitus (Germania) zutreffen, dann geht auch dieser Gott weit in vorchristliche Zeiten zurück.
Auf jeden Fall muss man davon ausgehen, dass sich der Götterhimmel der Germanen im Verlauf von über tausend Jahren veränderte und nicht statisch blieb, einige Gottheiten versanken, andere in der Gunst der Menschen nach vorn rückten. Ob einst mächtige Götter wie Tuisto, Tanfana, Baduhenna oder Nerthus ab der Völkerwanderungszeit noch eine Rolle spielten, ist zweifelhaft. Daneben wird es weitere germanischer Götter und Göttinnen geben, die uns gar nicht bekannt sind, da entsprechende Quellen verloren gingen oder fehlen.