Nichtverlängerung des Rückversicherungsvertrages mit Russland

In der Fronde des AA gegen Bismarck war auch Kiderlen-Wächter beteiligt; der hat sich auch in Sachen Nichtverkängerung des Rückversicherungsvertrages deutlich stärker aus dem Fenster gelehnt, als beispielsweise Holstein, der als der eigentlich Drahtzieher gilt. Kiderlen seine Stellungnahmen zu diesem Thema fielen um einiges deutlicher aus, als die von Holstein.
 
Ich würde die russische Initiative nicht zu hoch bewerten.

Die Motive dafür waren ieL innenpolitisch, und entsprachen außenpolitisch vorübergehend Zweckmäßigkeitserwägungen.

Der Vertrag hätte allenfalls in einer ausgehöhlten, wertlosen Form für das Deutsche Reich verlängert werden können.

Ein Querverweis zum überschneidenden Thema:
http://www.geschichtsforum.de/476749-post35.html

Die innenpolitische Auseinandersetzung über die außenpolitische Orientierung im Zarenreich dauerte ja schon länger an. Katkow, der ja mit seinen antideutschen Ausfällen und sein Eintreten für ein Bündnis mit Frankreich, hatte schon 1887 von Alexander den Wladimirorden erhalten. Und das obwohl der französische Ministerpräisdent Freycinet gegenüber den deutschen Botschafter Münster die Frage aufgeworfen hatte, ob der russische Zar geisteskrank sei. Bismarck hatte natürlich nichts Eiligeres zu tun, als diese „erfreuliche“ Botschaft Petersburg zu hinterbringen.

Giers hingegen trat für eine Bindung mit dem Deutschen Reich ein, weil er möglicherweise ein Hebel sah, auf Sicht den Zweibund auseinanderzudividieren und natürlich brauchte auch das Russische Reich eine Verbindung. Erhielt nichts von der Staatsform, genau wie Alexander, der Republik und Demokraten waren ihm suspekt.

Unter dem Datum des 20.März 1890 meldete der Staatssekretär das Auswärtigen Amtes Herbert von Bismarck Wilhelm II, das ihm der russische Botschafter darüber informiert hätte, das er von Alexander dazu ermächtigt worden sei, den bestehenden Vertrag um sechs Jahre zu verlängern und diese Abmachung als eine dauernde anzusehen. (1) Von einer inhatlichen Reduzierung des Vertrages ist hier nichts zu erkennen.

Schon am 23.März fertigte der Unterstaatssekretär Graf von Berchem eine Denkschrift für den Reichskanzler Caprivi an. Berchem vertritt dort die interessante These, dass Rückversicherungsvertrag den Zweck hätte, einen Krieg herbeizuführen. Des Weiteren meinte er, dass das Vertragswerk im Widerspruch zu bestehende Abmachungen stehe. Eine Auffassung, der Bismarck, der Ältere, später vehement entgegentrat. Abschließend wagte Berchem noch ein Blick in die Glaskugel und tätigte die Prognose, das die Gefahr eines Zusammengehens Frankreichs mit Russland geringer als in der Vergangenheit sei. (2) Ein krasses Fehlurteil, wie wir wissen.

Nachdem Petersburg von der ersten Ablehnung Kenntnis erhalten und man sich die Sängerbrücke von dem ersten Schock erholt hatte, setzte Giers sein werben um eine Verbindung mit dem Deutschen Reich unverdrossen fort.
Unter dem dem des 15.Mai 1890 schreibt der deutsche Botschafter Schweinitz an Caprivi, dass man bereit sei, auf das geheime Zusatzprotokoll zu verzichten und darüber hinaus man willens ist, alles zu tun, um etwas schriftliches zu vereinbaren. Giers war sogar mit „nur“ einen Austausch von Noten oder einen entsprechenden Briefwechsel der Monarchen. Schweinitz war beeindruckt und versäumte es nicht darauf hinzuweisen, dass im Falle der Ablehnung die Russen gezwungen seien, eine Verbindung mit Paris einzugehen. (3)

Schon ein Tag später, also am 16.Mai 1890, empfahl Schweinitz dem Reichskanzler in einem Privatbrief die Annahme der russischen Offerte.

In Berlin fühlte man sich durch das russische Werben eher genervt und wies es zurück. Obwohl man zu jenem Zeitpunkt mit den Briten nicht weitergekommen war.

Mittlerweile war ja auch Herbert von Bismarck nicht mehr in Amt und Würden und der badische Gesandte in Berlin, Adolf Marschall von Bieberstein, war Staatsekretär des Auswärtigen Amtes geworden. Der Mann verfügt sicher nicht über die entsprechende Kompetenz über die auswärtigen Geschäfte des Reiches zu führen. Dafür war er aber Wachs in den Händen von der grauen Eminenz des AA Friedrich von Holstein.

(1) Hofman, Fürst Bismarck 1890-1898 Bd. I und auch der Bericht von Schuwalow bei Gorianow, S.343
(2) GP Band 7, S.4, Nr.1368
(3) GP Band 7, Seite 17, Nr. 1372
(4) GP Band 7, Seite 19, Nr. 1373
 
Das wenig professionelle Vorgehen betraf in erster Linie Bismarck.

U.a. dessen wirtschaftspolitische Handlungen und Angriffe gegenüber Rußland (innenpolitisch bedingt, Interessenverbänden folgend) lieferten einen wichtigen Beitrag zur Entfremdung.

Die späteren Indiskretionen zum Rückversicherungsvertrag durch Bismarck sind in diesem Zusammenhang bezeichnend, ein billiges und durchsichtiges Manöver. Das hat in der deutschen Wahrnehmung allerdings Jahrzehnte funktioniert.

Hierzu ist aber anzumerken, dass die Russen nach wie vor, auch in der Ära nach Gortschakow, gegenüber dem Deutschen Reich die Stellung eines Fordernden einnahmen. Bemerkenswert ist gerade hier die Bulgarienfrage, in der die Russen quasi erwarteten, dass Berlin seine Geschäfte in Wien erledigen solle. Alexander III. jedenfalls war nie mit den Diensten der Deutschen zufrieden.

Des Weiteren ist die schon bemerkenswerte antideutsche Haltung eines Teils der russischen Presse, hervorhebenswert ist hier insbesondere Katkow, der gegen den die zaristische Zensur nicht vorging, bemerkenswert. Das AA hatte mehrfach darum ersucht, dagegen einzuschreiten, aber es geschah nichts.Schon ein etwas eigenartiger Umgang mit einem Verbündeten.
Katkow machte für die peinliche Pleite in Bulgarien den Dreibund verantwortlich, womit er schlicht die Realitäten verdrehte. Es war ja wohl das ziemlich ungeschickte russische Vorgehen in Sofia, was hierfür verantwortlich zeichnen dürfte. Und Bismarck bekam natürlich auch sein Fett weg, da er es versäumt habe, auf die Österreicher entsprechenden Druck auszuüben. Katkow trat für ein russisch-französisches Bündnis ein und da sich der Zar konsequent weigerte gegen diese Pressekampagne vorzugehen, sah Bismarck für sich, leider, keine andere Möglichkeit, als auf die Russen entsprechenden Druck auszuüben, da auch bei anderen Gelegenheiten so ein Bündnis das Wort geredet wurde. So sollte wohl eine Entscheidung herbeigeführt werden. Das dies ein vollkommen untaugliches Mittel war, hätte Bismarck, den die Strömungen in der Petersburger Gesellschaft und um den Zaren herum doch sicher bekannt waren, eigentlich klar sein müssen. Nur, die Russen waren sicher auch nicht gerade das, was man einen fairen Partner nennen würde. Ihre Anspruchshaltung war schon ganz erheblich.
 
Ist es nicht eigentlich nebensächlich, wer wann was zu der russischen Bitte auf Verlängerung des Rückversicherungsvertrages sagte ?
Das stellt doch nur die unterschiedliche Wichtigkeit dieses Vertrages dar, ist allenfalls etwas zum Diskutieren unter Fachleute.


Die generelle Frage lautet doch: hätte der Rückversicherungsvertrag verlängert werden sollen, und daraus; warum wurde er nicht verlängert, welche Gründe waren es, dass er nicht verlängert wurde, und dann die sich daraus ergebende politischen Entwicklungen.


Bismarks Politik hatte das Ziel, Preußen nicht in ein Zweifronten-Verhaltnis kommen zu lassen, das sich mit dem Ende des Krimkrieges durch die Hinwendung Frankreichs an Russland abzuzeichnen begann. Frankreich sah die für sich beunruhigende Entwicklung Preußens bereits zu dieser Zeit.
Bismark könnte diese drohende Alliance aufbrechen , mit dem Dreikaiserabkommen nach der Reichsgründung (sogar noch mit Osterreich, das damit auch versucht hat, das ramponierte Verhältnis zu Russland durch sein Verhalten im Krimkrieg etwas zu verbessern.)
Dem Dreikaiserabkommen von 1873 war dann der Dreikaiserbund , ebenfalls mit Österreich gefolgt, der allerdings auch an den Interessen Österreichs und Russland auf dem Balkan zerbrach.


Dennoch schaffte es Bismark zu einem weiteren Vertrag mit Russland, den Rückversicherungsvertrag, nun ohne Österreich, das er politisch als Sicherheitsrisiko für das Deutsche Reich ansah.
Preußen war, im Gegensatz zu Österreich saturiert. Österreich träumte von neuer Macht, und kam damit auf dem Balkan mit Russland aneinander.


Dass dann später dieser Rückversicherungsvertrag nicht verlängert wurde, hat dann genau die gleichen Gründe dann auch beim Deutschen Reich: Unzufriedenheit, sich unsaturiert zu fühlen, das Grundübel der Abkehr der wilhelminischen von der Bismarkschen Politik.
Und da trafen sich plötzlich die Interessen Österreichs und die des Deutschen Reiches auf fürchterliche Weise. Das größte und das reichste Land Europas war innerhalb weniger Jahre zum unzufriedensten Land Europas geworden.
Das Deutsche Reich nach Bismark wollte nicht mehr im europäischen Konzert eine wichtige Geige spielen, es wollte die erste Geige spielen, wollte die europäische Politik ganz bestimmen, nicht nur mitbestimmen, und da war eine vertragliche Bindung an Russland fehl.


Es gibt schöne Parallen, wie auch später eine Abwendung von Russland für Deutschland ganz fürchterlich in die Hose ging. Die Nichtverlängerung des Rückversicherungsvertrages gehört zu diesen Beispielen. .
 
ferbitz schrieb:
Das stellt doch nur die unterschiedliche Wichtigkeit dieses Vertrages dar, ist allenfalls etwas zum Diskutieren unter Fachleute.

Das ist hier im Forum auch sehr häufig der Fall. Insofern hat diese Diskussion, und nicht nur deshalb, ihr Berechtigung. Hier kann jeder über alles in Sachen Geschichte, sofern die Regeln beachtet werden, diskutieren.


ferbitz schrieb:
Dennoch schaffte es Bismark zu einem weiteren Vertrag mit Russland, den Rückversicherungsvertrag, nun ohne Österreich, das er politisch als Sicherheitsrisiko für das Deutsche Reich ansah.
Preußen war, im Gegensatz zu Österreich saturiert. Österreich träumte von neuer Macht, und kam damit auf dem Balkan mit Russland aneinander.

[FONT=&quot]Das ist mir neu. Bismarck betrachtete Österreich-Ungarn als Sicherheitsrisiko? Und deshalb ist nur noch ein Abkommen mit Russland geschlossen worden?[/FONT]
[FONT=&quot]
[/FONT]
[FONT=&quot]Das stellt die historischen Realitäten nun doch ein wenig auf dem Kopf. Es war die Dauerkrise um Bulgarien, die Österreich-Ungarn und Russlands Interessengegensätze hart aufeinanderprallen ließen, so das Zar Alexander nicht mehr bereit und willens war, mit Österreich-Ungarn eine Verlängerung des Abkommens auch nur in Betracht zu ziehen.[/FONT]



ferbitz schrieb:
Dass dann später dieser Rückversicherungsvertrag nicht verlängert wurde, hat dann genau die gleichen Gründe dann auch beim Deutschen Reich: Unzufriedenheit, sich unsaturiert zu fühlen, das Grundübel der Abkehr der wilhelminischen von der Bismarkschen Politik.



Falsch. Der Grund für die Nichtverlängerung des Rückversicherungsvertrages, war der, dass das Auswärtige Amt im Rückversicherungsvertrag Widersprüche zu anderen vertraglich bindenden Abmachungen zu anderen europäsichen Großmächten sah; und das wohl nicht ganz zu unrecht. Trotzdem bestand kein Grund, so ganz ohne Not, den Draht nach Petersburg abreißen zu lassen. Des Weiteren bevorzugte die graue Eminenz des AA davon, dass ein Bündnis mit Großbritannien vorteilhafter wäre. Allerdings stellte man sich nicht gerade sonderlich geschickt in London an, um dort den Weg für ein Bündnis zu bereiten.



ferbitz schrieb:
Und da trafen sich plötzlich die Interessen Österreichs und die des Deutschen Reiches auf fürchterliche Weise. Das größte und das reichste Land Europas war innerhalb weniger Jahre zum unzufriedensten Land Europas geworden.



Das Deutsche Reich war weder das größte noch das reichste Land Eurpoas. Und die Interessen des Deutschen Reiches und Österreich-Ungarns haben sich nicht plötzlich getroffen. Der Annäherungsprozess begann schon sehr früh. Beide Seiten, Bismarck und Andràssy, habe eine Interesse an eine Vereinbarung gehabt; nur waren die Intentionen sehr unterschiedlich. Deshalb hat es auch bis 1879 gedauert, bis das Bündnis abgeschlossen worden war.







ferbitz schrieb:
Das Deutsche Reich nach Bismark wollte nicht mehr im europäischen Konzert eine wichtige Geige spielen, es wollte die erste Geige spielen, wollte die europäische Politik ganz bestimmen, nicht nur mitbestimmen, und da war eine vertragliche Bindung an Russland fehl.


Auch das würde ich so nicht unterschreiben. Sicher, das Deutsche Reich wollte eine anerkannte Groß- ja sogar wohl Weltmacht sein und auf Augenhöhe mit Großbritannien und dem Zarenreich stehen. Dem stand aber die entschlossene Ablehnung Großbritanniens gegenüber. Nun ja, die deutsche Diplomatie war bei der Verwirklichung dieses Anspruches auch nicht besonders geschickt.
 
Zuletzt bearbeitet von einem Moderator:
Interessant wäre es geworden, wenn das Deutsche Reich mit Rußland mehr als nur eine Rückversicherung zu vereinbaren. Ein Defensivbündnis z.B. Sowas wurde für Großbritannien angedacht, verlief aber im Sand und wurde sodann durch undiplomatische Äußerungen des Kaisers torpediert.

Bei einem deutsch russischen Defensivbündnis glaube ich aber, dass Frankreich sehr sehr weniger bereit gewesen wäre, sich auf einen Krieg mit dem Deutschen Reich einzulassen; man hätte eine koordinierte Balkanpolitik betreiben können und Österreich in die Schranken gewiesen...

All das verdrug sich aber schlecht mit der antislawischen Linie des Deutschen Reiches nach etwa 1890.
 
Interessant wäre es geworden, wenn das Deutsche Reich mit Rußland mehr als nur eine Rückversicherung zu vereinbaren. Ein Defensivbündnis z.B. Sowas wurde für Großbritannien angedacht, verlief aber im Sand und wurde sodann durch undiplomatische Äußerungen des Kaisers torpediert.


Was wäre denn interessant gewesen? Denkst du an ein Offensivbündnis?

Immerhin war ja vereinbart worden, das Russland im Falle eines unprovozierten Angriffs auf das Deutsche Reich neutral bleibt. Das gleiche galt für einen unprovozierten Angriffs Österreich-Ungarns auf Russland. Das war ja schon etwas und damals war auch sicher, nach den ganzen Querelen, nicht mehr zu erreichen gewesen.




Bei einem deutsch russischen Defensivbündnis glaube ich aber, dass Frankreich sehr sehr weniger bereit gewesen wäre, sich auf einen Krieg mit dem Deutschen Reich einzulassen; man hätte eine koordinierte Balkanpolitik betreiben können und Österreich in die Schranken gewiesen...

All das verdrug sich aber schlecht mit der antislawischen Linie des Deutschen Reiches nach etwa 1890.

Es war ohnehin sehr unwahrscheinlich, das Frankreich überhaupt, ohne Alliierten, einen Angriff auf das Deutsche Reich riskiert hätte. Hinsichtlich des Balkan war es für die deutsche Diplomatie ohnehin schwierig einen Spagat zwischen den divergierenden Interessen zwischen seinen beiden Bündnispartnern zu erreichen, ohne das sich eine der Mächte brüskiert fühlt.

Mir ist eine slawenfeindliche Politik der Donaumonarchie geläufig, aber kann man auch von einer dezidierten antislawischen Politik des Deutschen Reichs sprechen? Das es in der deutschen Presse ein entsprechendes Echo auf die Ausfälle der panslawistischen Presse gegeben hat, ist eigentlich nicht sonderlich verwunderlich.
 
Mir ist eine slawenfeindliche Politik der Donaumonarchie geläufig, aber kann man auch von einer dezidierten antislawischen Politik des Deutschen Reichs sprechen? Das es in der deutschen Presse ein entsprechendes Echo auf die Ausfälle der panslawistischen Presse gegeben hat, ist eigentlich nicht sonderlich verwunderlich.

Wir hatten schon mal über die Äußerung Wilhelms II. während des Kriegsrates im Dezember 1912 gesprochen: "Endkampf der Germanen gegen die Slawen (der die Angelsachsen auf der Seite der Slawen sieht)".

Solche Äußerungen finden sich mE als festgefügte Anschauung in weiten Teilen der deutschen Führungseliten, Wirtschaft, Militär und Politik, jedenfalls nach 1905. Von daher bin ich nicht sicher, dass die deutsche Presse immer nur auf die panslawistische russische Presse reagiert hat, sondern das ging mE (auch) vom Deutschen Reich aus.

Ein Grund mag die Wahrnehmung wachsender Stärke Russlands nach 1904/05 gewesen sein, die so auch zB in Großbritannien stark eingeschätzt wurde. Man überschlug sich in Szenarien, wie Russland in wenigen Jahren dastehen würde.
 
Mir ist im wesentlichen ein wirtschaftlicher Konflikt in Erinnerung, der sich aus der Rivalität der ostelbischen Junker und ihrer Getreideerzeugung und dem Export bzw. Import von russischen Getreide speiste.

Auf diesen materiellen Kern aufbauend wurden ideologische Konstruktionen gesetzt, die sich auch einer historisch verankerten antislawischen Terminologie bedient haben. Und sich somit diese Form des Nationalismus, bewußt oder unbewußt, in den Dienst von Wirtschaftsinteressen der ostelbischen Agrarlobby gestellt hat bzw. von diesen für ihre Interessen instrumentalisiert wurde.

Unter dieser Perspektive hatte sich der Konflikt zwischen dem Kaiserreich und Russland verschärft und zu einem beiderseitigen zugespitzten Nationalismus geführt.

Ein anti-Deutscher-Nationalismus, der in Russland vermutlich genauso ausgeprägt war wie sein Gegenpart im Kaiserreich.

Und vor diesem Hintergrund war eine Annäherung nicht unmöglich, aber erschwert.

Man mag im Hinterkopf noch die These haben, dass es sich um einen grundsätzlichen Konflikt gehandelt hat, welches der beiden Länder die kontinentale Hegemonie erlangen würde und in diesem Kontext die Politik des zwanzigsten Jahrhundert interpretieren.
 
Zuletzt bearbeitet:
Wir hatten schon mal über die Äußerung Wilhelms II. während des Kriegsrates im Dezember 1912 gesprochen: "Endkampf der Germanen gegen die Slawen (der die Angelsachsen auf der Seite der Slawen sieht)".

Wilhelm hat unendlich viele verbale Ausfälle gehabt! Ob man jede seiner peinlichen und überaus bedenklichen, ja entsetzlichen Äußerungen Ernst nehmen kann, steht auf einen anderen Blatt Papier.

Nur glaube ich nicht, das zum Zeitpunkt des Abschlusses des Rückversicherungsvertrages von einen antislawistischen Politik des Deutschen Reiches gesprochen werden kann.

Das sah sicher ganz anders aus, als aus Sicht des Kaiserreich,, die "Einkreisung" sich abzeichnete bzw. vollendet war.
 
Mir ist im wesentlichen ein wirtschaftlicher Konflikt in Erinnerung, der sich aus der Rivalität der ostelbischen Junker und ihrer Getreideerzeugung und dem Export bzw. Import von russischen Getreide speiste.

Es ging auch um dem Export deutscher industrieller Erzeugnisse nach Russland und das Interesse des Zarenreichs seine Industrie vor ausländischer, hier deutscher, Konkurrenz zu schützen. Die deutsche Industrie wollte nicht die zeche für die Begehrlichkeiten der Junker zahlen müssen.
 
Wilhelm hat unendlich viele verbale Ausfälle gehabt! Ob man jede seiner peinlichen und überaus bedenklichen, ja entsetzlichen Äußerungen Ernst nehmen kann, steht auf einen anderen Blatt Papier.

Nur glaube ich nicht, das zum Zeitpunkt des Abschlusses des Rückversicherungsvertrages von einen antislawistischen Politik des Deutschen Reiches gesprochen werden kann.

Das sah sicher ganz anders aus, als aus Sicht des Kaiserreich,, die "Einkreisung" sich abzeichnete bzw. vollendet war.

Ich bin da ganz bei Dir, 1887/90 von 1905/14 klar zu trennen. Die deutsche "Ausgrenzungspolitik" mit Bülows Weltmachtstreben spielt da auch eine Rolle.

Die Äußerung von Wilhelm II. sehe ich allerdings nicht als Eintagsfliege. Einerseits war diese Auffassung von "Krieg in Sicht" gegen Russland weit verbreitet, andererseits ist diese Perzeption auch in anderen Nationen (Großbritannien) auffindbar. Die Wahrnehmungen über das (anscheinend) militärisch erstarkende Russland waren weit verbreitet.

Großbritannien reagierte auf diese Perzeption russischer Stärke und künftiger russischer Bedrohung mit einer Frühform von "Appeasement", das Deutsche Reich mit Rüstung (in der "Zweifrontenklemme" auch kombiniert mit dem Blick nach Frankreich).
 
Die Äußerung von Wilhelm II. sehe ich allerdings nicht als Eintagsfliege. Einerseits war diese Auffassung von "Krieg in Sicht" gegen Russland weit verbreitet, andererseits ist diese Perzeption auch in anderen Nationen (Großbritannien) auffindbar. Die Wahrnehmungen über das (anscheinend) militärisch erstarkende Russland waren weit verbreitet.

Hinsichtlich des Kriegsrates von 1912 stimme ich dir zu.

Wilhelm hatte ja schon als "einfacher" Prinz im Januar 1888 einen Präventivkrieg gegen Russland befürwortet. Er ärgerte sich über Bismarck, das dieser das ablehne und er später dafür die Verzugszinsen zu entrichten hätte. (1)


(1) Holstein, Geheime Papiere Band II, S.407
 
Mir ist im wesentlichen ein wirtschaftlicher Konflikt in Erinnerung, der sich aus der Rivalität der ostelbischen Junker und ihrer Getreideerzeugung und dem Export bzw. Import von russischen Getreide speiste.

Auf diesen materiellen Kern aufbauend wurden ideologische Konstruktionen gesetzt, die sich auch einer historisch verankerten antislawischen Terminologie bedient haben. Und sich somit diese Form des Nationalismus, bewußt oder unbewußt, in den Dienst von Wirtschaftsinteressen der ostelbischen Agrarlobby gestellt hat bzw. von diesen für ihre Interessen instrumentalisiert wurde.

Unter dieser Perspektive hatte sich der Konflikt zwischen dem Kaiserreich und Russland verschärft und zu einem beiderseitigen zugespitzten Nationalismus geführt.

Ein anti-Deutscher-Nationalismus, der in Russland vermutlich genauso ausgeprägt war wie sein Gegenpart im Kaiserreich.

Und vor diesem Hintergrund war eine Annäherung nicht unmöglich, aber erschwert.

Man mag im Hinterkopf noch die These haben, dass es sich um einen grundsätzlichen Konflikt gehandelt hat, welches der beiden Länder die kontinentale Hegemonie erlangen würde und in diesem Kontext die Politik des zwanzigsten Jahrhundert interpretieren.

Ich denke, dass auch die damaligen Akteure eine nicht ganz unwichtige Rolle spielten.
So hatte beispielsweise Zar Alexander III. eine ausgeprägte Antipathie gegenüber Wilhelm II. .

Der engste Mitarbeiter des russischen Außenministers Giers, hier Lamsdorf, meinte sogar das Neid, konkret Machtneid, im Spiel war. Der Zar und die Zarin billigten den „kleinen „preußischen Prinzen einfach nicht zu, dem sie null Bedeutung zugestehen wollten, Herrscher eines Staates zu sein, vor dem sich Europa fast im Dreck wälze. (1)

Das Deutsche Reich war eine bedeutende wirtschaftliche und militärische Macht und Russland war in einem gewissen Ausmaß von Deutschland abhängig. Das rief zumindest ganz gewiss keine Sympathien hervor, da Deutschland seine stärkere Position gerne schamlos ausnutzte.

Dann ist sicher auch der russische Generalstabschef Obrutschew erwähnenswert, der ausgesprochen antideutsch eingestellt, Panslawist und energischer Verfechter eines Bündnisses mit Frankreich war.

Und dann natürlich der bedeutende Pressevertreter Katkow. Beiden Persönlichkeiten lieh Alexander immer wieder sein Ohr. Und beide sägten kräftig an Giers seinen Stuhl, der eine Verbindung mit dem Deutschen Reich dem Vorzug gab.

Und Alexanders Ehefrau Dagmar war Dänin, die er ein paar Jahre nach dem dänischen Krieg geheiratet hatte. Dagmar war ausgesprochen antideutsch eingestellt und beeinflusste ihren Gemahl entsprechend. Giers sah in ihr schwergewichtigen Gegenspieler seiner Außenpolitik. (2)


(1) Lamsdorf I, S.187, 27.März 1889
(2) Jakobs, Das Werden des französischen-russischen Zweibundes 1890-1894
 
Das Deutsche Reich war eine bedeutende wirtschaftliche und militärische Macht und Russland war in einem gewissen Ausmaß von Deutschland abhängig. Das rief zumindest ganz gewiss keine Sympathien hervor, da Deutschland seine stärkere Position gerne schamlos ausnutzte.

Die Abhängigkeit war insbesondere auf ökonomischem Gebiet unter Bismarck in anderem Maße als nach dem Zweiverband 1894 zwischen Russland und Frankreich gegeben.

Hier verschoben sich die Gewichte drastisch. Vor Beginn des Ersten Weltkrieges waren britische und französische Auslandsinvestitionen in Russland überwiegend, und hatte das starke deutsche Engagement überholt. Hinzu kam die Abhängigkeit Russlands von den Finanzmärkten in Paris und London, um den gewaltigen Kapitalbedarf der einsetzenden Industrialisierung, sowie den staatlichen Kapitalbedarf einer Heeres- und Marine-Aufrüstung nach 1905 zu decken.
 
Klar ist, das Holstein ein vehementer Gegner einer Verlängerung des Rückversicherungsvertrages gewesen war. Holstein traute dem Zarenreich nicht um die Ecke. Holstein wollte eine andere auswärtige Politik und er hat im diesem Sinne im AA „echte Wühlarbeit“ geleistet. In diesem Sinne hat er gegen Bismarck gearbeitet, von dem er sich innerlich immer mehr entfernt hat. Bismarck hatte aber fataler Weise von Holstein keine Bedrohung gesehen, da er ihm nicht als Konkurrenten einschätzte.

Holstein hat sicher auch Eulenburg und Waldersee als Sprachrohre genutzt, um seine Vorstellungen von der „richtigen Politik, insbesondere natürlich der auswärtigen Politik“ zu übermitteln und hat sicher auf diese Art und Weise mittelbar den Boden für Bismarcks Sturz mitbereitet.

In diesem Zusammenhang, nämlich den heraufziehenden Konflikt zwischen Kaiser und Kanzler, Die Arbeiterschutz-Konferenz, die Kabinettsorder von 1852, die Meldungen des Konsuls in Kiew über russische Truppenzusammenziehungen, später den Verlust der Mehrheit der Kartellparteien im Reichstag etc., hat dann Waldersee über Holstein dann notiert, „Einer der ersten Fahnenflüchtigen war Holstein.“

Holstein hat schon ab Ende 1885 seine "eigene Außenpolitik" gefahren. So hatte er einen engen Kontakt zur Botschaft Österreich-Ungarns hergestellt und hat die dort Verantwortlichen mit Informationen und "Winken" versorgt. Besonders auffällig ist sein Agieren in der Bulgarienkrise, wo Holstein, im Gegensatz zu Bismarck, Österreich-Ungarn diskret auf einen antirussischen Kurs bringen wollte. Auch informierte er über Strömungen im Auswärtigen Amt. (1)

Krausnick, Holsteins Geheimpolitik
 
Die Frage wäre eben, welchen Vertrag man inhaltlich und welcher Bindungswirkung verlängert bekommen hätte?


Bereits zum Rückversicherungsvertrag ist den Akten zu entnehmen, dass die russische Seite mit dem Rückhalt zum Vorgehen gegen Bulgarien und in Richtung Dardanellen "unzufrieden" war.

Und doch bemühte sich Giers intensiv um eine Verlängerung bzw. darum, eine schriftliche Vereinbarung zustande zu bekommen. Er hat bin in den Mai mehrfach mit Schweinitz besprochen und war schließlich bereit Bulgarien außen vor zu lassen. Nur Holstein, Raschdau und auch Kiderlen rieten Caprivi ab. Caprivi hat den Wert einen politischen Vereinbarung mit Petersburg wohl nicht so ganz verstanden, dabei hätte doch auch schon Ernüchterung in Sachen Großbritannien eintreten müssen.
 
Hat denn die russische Seite die Fortsetzung des Vertrages soweit verbindlich konkretisiert, dass weitergehende Forderungen (stärkere Unterstützung in Richtung Balkan und Dardanellen) auszuschließen waren?

Das man die Fortsetzung seitens Giers wollte, ist klar. Aber zu welchen Bedingungen wäre das realistisch gewesen, auch in Russland durchsetzbar?
 
Hat denn die russische Seite die Fortsetzung des Vertrages soweit verbindlich konkretisiert, dass weitergehende Forderungen (stärkere Unterstützung in Richtung Balkan und Dardanellen) auszuschließen waren?

Das man die Fortsetzung seitens Giers wollte, ist klar. Aber zu welchen Bedingungen wäre das realistisch gewesen, auch in Russland durchsetzbar?


Alexander III. hatte immerhin von sich aus eine Verlängerung um fünf Jahre initiiert und das trotz eines Katkow und der Bestrebungen des russischen Militärs in Richtung Frankreich. Aber ganz so einfach war das nicht, denn dem Monarchen war die Staatsform der Republik und der damit verbundenen Personenwechsel in den Staatsämtern, hier Außenamt und Botschafterposten in Petersburg, einfach zuwider. Er legte größten Wert auf personelle Kontinuität.

Mir sind auch keine weitergehenden Forderungen der Russen hinsichtlich der angedachten Verlängerung bekannt. Eher das Gegenteil, denn die Verlängerung wurde im Verlauf des Jahres 1890 ja noch einmal angeboten und diesmal eben zu günstigeren Konditionen. Caprivi meinte nur, die Russen wollen eine Tretmine unter dem Dreibund legen.
 
Ich denke, das die Zurückweisung der, aus russischer Sicht, der Minivariante des Rückversicherungsvertrages, musste zwangsläufig die Annäherung zu Frankreich beschleunigen und somit auch zu einer grundsätzlichen Neuausrichtung der Außenpolitik des Zarenreiches führen. An der Sängerbrücke ging man richtigerweise davon aus, dass das Reich sich zu Großbritannien wenden will. Im Mai hatte Giers Schweinitz das erneute Angebot unter5 Ausklammerung Bulgariens und der Dardanellen, gemacht. Dieses wurde im Juni 1890 von Caprivi unter Einfluss von Holstein und Co. zurückgewiesen.

Am 01.07.1890 wurde der Helgoland-Sansibar-Vertrag zwischen dem Deutschen Reich und Großbritannien abgeschlossen. Was öffentlich bekannt wurde, veranlasste sowohl Frankreich als auch Russland anzunehmen, dass Großbritannien Berlin Zusagen gemacht haben müssen, denn das Deutsche Reich sei London ja weit entgegengekommen. 1891 wurde der Dreibund vorzeitig verlängert. An der Sängerbrücke wurde man zunehmend besorgter und auch der Zar sah sich gezwungen seine Abneigung gegen die Republik zu überwinden. Im Juli 1891 besuchte ein französisches Geschwader Kronstadt und der Zar grüßte die Trikolore.
 
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