Kolonialismus, Medizin und Markt?

silesia

Moderator
Teammitglied
Mir geht es um die Wechselwirkungen von Kolonialismus und Medizin- und Heilkunde in den europäischen Kolonialmächten.

Dass im Zuge der späten kolonialen Ausdehnung Rückwirkungen zB auf die Tropenmedizin stattfanden, ist soweit klar.

Angesprochen ist aber ein anderer Aspekt. Inwiefern gab es wesentliche Rückwirkungen auf die medizinischen Erkenntnisse in europäischen Ländern durch die kolonialen Kontakte zB in Südostasien oder Amerika? Entstanden dadurch neben Opium (zB Importe durch England) "Märkte" für Medizin auch schon in der frühen Neuzeit in Europa?

Als Beispiel: Laurent Garcin, der wohl als Schiffsarzt (?) unterwegs war.
Garcin, Laurent (1683-1752) on JSTOR
Gab es nennenswerte "Importe" von pharmazeutischen Produkten oder was als solches angesehen wurde , oder Wissenstransfer?

Gibt es Literaturempfehlungen zum Gesamtüberblick?
 
Ein Beispiel, das halbwegs passen könnte, wäre Agar. Es wurde im 17.Jh in Japan erfunden und seit 1882 als Nährboden in der Mikrobiologie verwendet - erstmals durch Walther Hesse, einem Mitarbeiter Robert Kochs.

Ich weiß nicht, ob die spätere Zufallsentdeckung Penicilin auch mit der vorher üblichen Gelantine anstatt Agar in Petrischalen geglückt wäre.
 
Chinin:

Chinin wird aus der Rinde des Chinarindenbaums (Häufig Cinchona pubescens, Roter Chinarindenbaum, oder Cinchona officinalis) gewonnen (Familie Rubiaceae, Subfamilie Cinchonoideae).


Der Ursprungsort ist der Hochwald (1500–2700 m ü. M.) der Anden (Venezuela bis Bolivien). Der Name der Pflanze stammt von den Ureinwohnern (Quechua quina-quina ‚Rinde der Rinden‘), die bereits von den fiebersenkenden Eigenschaften wussten.

Den lateinischen Namen Cinchona, nach dem später auch das Chinin benannt wurde, erhielt die Pflanze vermutlich von der Gräfin von Chinchón, Gattin des Vizekönigs Luis Jerónimo de Cabrera der spanischen Kolonien, die 1638 durch den Arzt de Vega mit einem Sud aus Rindenpulver von der Malaria geheilt werden konnte.[13] Jesuiten sorgten für die Verbreitung des Mittels in Europa, daher auch die Namen Jesuitenrinde, Kardinalspulver etc.

(aus Wiki geklaut)
 
Das sind zwei interessante Beispiele.

Offenbar auch mit Importen nach Europa. Gibt es noch mehr, oder sogar Darstellungen, wie sich das in Europa verbreitet hat?
 
Curare (Pfeilgift) wäre vlt. auch noch ein Beispiel:

hier: Curare

Medizingeschichte Zu den ersten, die in der europäischen Medizingeschichte mit Curare experimentierten gehörte der französische Wissenschaftler Claude Bernard. An Experimenten mit Fröschen zeigte Bernard, dass das Gift die Leitungsfunktion der neuro-muskulären Synapsen blockiert. Damit kommt es zu keiner Reizübertragung zwischen Nerv und Muskel. Medizinische Verwendung fand das D-Tubocurarin, ein Alkaloid der Mondsamengewächse, das zur Ruhigstellung der Muskulatur der inneren Organe verwendet wurde.
bzw. hier: Medizin Gesundheit
Zu Beginn des 20. Jahrhunderts setzte man Curare therapeutisch gegen Tollwut, Epilepsie, Tetanus und Morbus Parkinson ein. Auch in der Psychiatrie wurde es verwendet, um die damals verbreitete Elektroschock-Therapie zu unterstützen. Letztlich erwies sich Curare aber nur in einem Bereich von nachhaltiger Bedeutung, nämlich als Relaxan bei chirurgischen Operationen. Hinsichtlich dieser Eigenschaft erwies sich der Stoff den bisher dagewesenen Mitteln wie Äther oder Chloroform als überlegen und wurde somit Mitte des 20. Jahrhunderts zum medizinischen Standard. Dies war jedoch nicht ohne Risiko, da die extrem lähmende Wirkung erst im Laufe der Zeit so kontrolliert werden konnte, dass es nicht zu ungewollten Todesfällen kam.
LG
 
ein negatives Beispiel ist vermutlich Elfenbein, das in der Traditionellen Chinesischen Medizin eine Rolle spielt. Hier werden noch andere Beispiele genannt:

China: Killen für Pillen - W wie Wissen - ARD | Das Erste

als altes Gewürz ist Bertram bekannt; wobei Bertram jetzt als Malaria Schutz eingesetzt wird - also quasi den umgekehrten Weg geht (erst nach Europa gekommen, jetzt von Europa in Afrika eingesetzt) St-Hildegard.com - Hildegard von Bingen - Die heilige Hildegard und ihre Medizin - Stiftungsprojekte: Bertramprojekt Sambia
 
Vielen Dank für die Weiteren Hinweise.

Das Problem ist wohl, dass es sich bzgl. Medizin nur um kleine Mengen handeln dürfte.

Es müsste doch Darstellungen in der Art geben: "englische Apotheke um 1825" (1900), und da dürfte sich eine Reihe von Stoffen kolonialer Herkunft finden?
 
Gibt es noch mehr, oder sogar Darstellungen, wie sich das in Europa verbreitet hat?

Der erste Schritt dürfte die "Entdeckung" tropischer Pflanzen durch Europäer gewesen sein, also die Botanik. Der nächste Schritt wäre der zur pharmazeutischen Anwendung. Für die Botanik Südamerikas ist Alexander von Humboldt jemand, der für Europa neues Wissen sammelte und verbreitete.
(Ideen zu einer Geographie der Pflanzen nebst einem Naturgemälde der Tropenländer. Historical Science, Band 13, Bremen 2010, ISBN 978-3-86741-174-5. könnte interessant sein)

Spannend wären natürlich auch Pflanzen deren pharmazeutische Wirkung in Übersee bekannt waren und "ohne Umweg über die Botanik" in Europa medizinisch genutzt wurden.
 
Inwiefern gab es wesentliche Rückwirkungen auf die medizinischen Erkenntnisse in europäischen Ländern durch die kolonialen Kontakte zB in Südostasien oder Amerika? Entstanden dadurch neben Opium (zB Importe durch England) "Märkte" für Medizin auch schon in der frühen Neuzeit in Europa?
Da Fortschritt meist das Ergebnis eines ganzen Puzzles von Leistungen ist, würde ich die frühe Botanik-Kunde nicht außer Acht lassen. Sammelwerke von Botanik-Radierungen -stichen wurden fast durchwegs von Apothekern und Ärzten herausgebracht, manchmal auch selber vorgezeichnet, was medizinische Gründe als Motivation für das Interesse an Pflanzen belegt. Pflanzenheilkunde war damals nicht ein kleiner, belächelter Teilbereich der Medizin, sondern das A und O der damaligen Arzneikunde. Es gab ein paar Botaniker (inkl. Zeichner und Ärzte), die auf die große Reise gingen, oder auch geschickt wurden, um mit neuen Erkenntnissen und Pflanzen zurückzukehren. Das Gebiet ist äußerst komplex und geläufig sind mir kaum welche von den vielen Namen.
Hier nur zwei, die für Deine Recherchen sicher in Frage kämen:
Cristóbal Acosta
Garcia da Orta

Keine Ahnung aber, inwieweit ganze ›Märkte‹ entstanden waren? Manche der oben genannten Sammelwerke gelten aber heute als frühe ›Gärtnereikataloge‹, die auch importierte Pflanzen aufführten. Kann Dir aber darüber aus dem Stegreif nichts Genaueres sagen (außer dass es solche Werke zumindest in den Niederlanden gab)
 
Mir geht es um die Wechselwirkungen von Kolonialismus und Medizin- und Heilkunde in den europäischen Kolonialmächten.

Dass im Zuge der späten kolonialen Ausdehnung Rückwirkungen zB auf die Tropenmedizin stattfanden, ist soweit klar.

Angesprochen ist aber ein anderer Aspekt. Inwiefern gab es wesentliche Rückwirkungen auf die medizinischen Erkenntnisse in europäischen Ländern durch die kolonialen Kontakte zB in Südostasien oder Amerika? Entstanden dadurch neben Opium (zB Importe durch England) "Märkte" für Medizin auch schon in der frühen Neuzeit in Europa?

Als Beispiel: Laurent Garcin, der wohl als Schiffsarzt (?) unterwegs war.
Garcin, Laurent (1683-1752) on JSTOR
Gab es nennenswerte "Importe" von pharmazeutischen Produkten oder was als solches angesehen wurde , oder Wissenstransfer?

Gibt es Literaturempfehlungen zum Gesamtüberblick?

Chinin wurde bereits genannt, und Opium war seit der Antike eines der wichtigsten Medikamente, allerdings auch ziemlich teuer. Thomas de Quincey, der wohl etwa um 1804 wegen neuralgischen Beschwerden das erste an einem regnerischen Sonntag das erste Mal mit Laudanum (Opiumtinktur) nahm, schrieb, dass ein Pfund indisches Opium seinerzeit 3 und türkisches 5 Guineen kostete. Durch die Aktivitäten der East India Company muss es aber stark im Preis gefallen sein, und in einem späteren Kapitel seiner Confessions berichtet er, dass in Manchester viele Apotheker am Wochenende kleine Portionen mit 1-2 Gran (1 Grain=ca 65 mg) reservierten und an Arbeiter verkauften. Opiumtinktur war billiger, als Gin und entwickelte sich zu einem Allroundmedikament, ähnlich wie heute Aspirin. Vor allem gegen Schmerzen, Husten und nicht zuletzt auch gegen Rhur fand es Verwendung. Schwerste Durchfallerkrankungen sind heute eigentlich das einzige, wogegen heute noch gelegentlich Opiumtinktur eingesetzt wird. Nachdem Sertürner 1804 oder 1806 Morphin erstmals isolierte, wurden viele Präparate auf den Markt gebracht, die Opiate enthielten. Neben Laudanum gab es noch ein milderes Mittel Paregoric, das 10 mal schwächer war und eigentlich eine Lösung aus Opium, Kampfer und anderen Heilpfllanzen war. In victorianischen Apotheken wurden eine Unzahl von Hustenbonbons, Sirups und anderen Präparaten angeboten, die als Hausmittel auch für Kinder verwendet wurden. Laudanum konnte aus Unwissenheit oder Unachtsamkeit leicht bei Kleinkindern zur Überdosis führen. Da unter der Arbeiterschaft kaum jemand einen Arzt rufen konnte, hatten diese Mittel trotzdem großen Nutzen und verschafften auch Erleichterung. Die Suchtgefahr wurde nur rudimentär gesehen, und der Gebrauch von Opiaten war nicht tabuisiert, während sich im 19. Jhd. in vielen Ländern Temperenzler-Bewegungen formierten. Neu waren Kokablätter, über die 1859 ein Arzt Paolo Mantegazza berichtete. Anscheinend kamen nur wenige auf den Markt oder verdarben leicht. 1860 aber gelang in Göttingen erstmals die Isolation von Kokain. Es stieß bei Ärzten und Militärs auf großes Interesse, ähnlich wie in den späten 1930ern und 1940ern Pervitin. Das bayrische Militär versprach sich viel davon, und Siegmund Freud experimentierte in den 1880ern damit, war geradezu euphorisch, drängte es seinen Patienten geradezu auf und empfahl sich seiner Verlobten als "wilder Mann mit Kokain im Leib". Freud Euphorie legte sich erst, als er seinen Freund, einen gewissen von Fleischl-Marxow, der Morphinist war, mit Kokain heilen wollte. Dieser starb an einer Kokain Überdosis. Aus Langeweile und um sich zu stimulieren konsumiert Sherlock Holmes, sehr zur Besorgnis seines Freundes Dr. Watson Kokain und Morphin. In "The Sign of the Four" gibt er sich 4 Kokaininjektionen täglich und Morphium.

Obwohl der Gebrauch von starken Alkaloiden aus heutiger Sicht fahrlässig erscheint, war die Entdeckung des Morphins dennoch ein Segen für die Medizin. Kokain war das erste Lokalanästhetikum und ersparte Patienten solche Qualen wie Thomas Buddenbrook bei seinem Zahnarzt Dr. Brecht, an deren Folgen der Senator stirbt.
Inzwischen entdeckt man den medizinischen Nutzen des Cannabis wieder, und auch das war in Apotheken in einer Vielzahl von Rezepturen erhältlich. gegen Menstruationsprobleme, Melancholie, Zahnschmerzen, etc. ,etc.,

Kokain war Bestandteil von Toniken wie Coca-Cola, das ein Drogist in Atlanta erfand. Der Wirkstoffgehalt war allerdings gering. Stärker war anscheinend ein Gemisch aus Wein und Kokain, der Vin Mariani, den der Korse Angelo Mariani erfunden hatte. Queen Victoria schätzte das Getränk, und Papst Leo XIII. verlieg Mariani ein Dankschreiben.

Man mag entsetzt oder begeistert sein von der viktorianischen Medizin, Die Serienherstellung von Chinin und Morphin war für die Tropenmedizin ein großer Fortschritt und Forscher wie Stanley, Livingstone, Rohlfs, Barth und andere waren reichlich damit ausgerüstet. Auch wenn der Umgang damit bedenklich erscheint und es sicher auch war, es gab weder Rezeptpflicht, noch eine Kennzeichnungspflicht der Bestandteile und Dosierung, so haben Morphin, Laudanum, Paregoric und Co nicht nur auf den Schlachtfeldern sondern auch in den Mietskasernen tausendfaches Leid gelindert. Bei der chronischen ärztlichen Unterversorgung und der Armut, war der Gang in die viktorianische Apotheke, in den Drug-Store oder die Drogerie von oft unwirksamen Hausmitteln die einzige Art, wirksame und erschwingliche Medikamente aufzutreiben. Ich habe im Moment keine Bibliothek zur Verfügung, werde aber zusehen, die erbetene Literaturliste zusammenzustellen.
Es ist daher kein selbstverliebter Cliffhanger, den keiner lesen will, wie El Quichote in einem anderen Thread anmerkte, wenn ich mit den Worten eines Forianers sage:

"In Bälde mehr"
 
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