Allgemeine Gesetze des Kapitalismus in der wirtschaftshistorischen Kontroverse?

JetLeechan

Aktives Mitglied
Die modellbezogenen Schnittpunkte der Neo-Institutionalisten mit der klassischen Makroökonomie werden offenbar derzeit erst ausgetestet. Als konstruktives Beispiel der jüngste Disput zwischen Piketty und Acemoglu/Robinson zu den Thesen in Pikettys "Capital in the 21st Century". Der Streit hier ist fundamental: es geht um die Frage ökonomischer Gesetzmäßigkeiten (siehe die ungeklärten mikro- und makroökonomischen Bezüge). Das wäre eine separate Diskussion wert. Piketty ist oben angesprochen worden. Der Disput mit den Neo-Institutionalisten entbrennt hier:
Acemoglu/Robinson: The Rise and Decline of General Laws of Capitalism
NBER Working Paper No. 20766, Dez. 2014
The Rise and Decline of General Laws of Capitalism

Ich sehe das auch so, dass eine Diskussion hierüber wertvoll sein könnte, da sie eine zentrale geschichtswissenschaftliche Frage behandelt. Falls Interesse besteht, würde ich mich über die Eröffnung eines neuen Themas freuen oder selbst eines eröffnen, nachdem ich den Artikel durchgearbeitet habe.
 
Die Anregung für das neue Thema habe ich aufgegriffen.

Überschrift ist nur ein Vorschlag, kann geändert werden.
 
Ausgangspunkt der Betrachtungen ist Pikettys Beobachtung, dass die Verteilung des Wohlstandes im Kapitalismus immer ungerechter werde bzw. sich der Wohlstand bei einem geringen Teil von großen Kapitaleignern in jeder kapitalistischen Gesellschaft sammle. Zu diesen Schlussfolgerungen gelangt Piketty einerseits durch die Interpretation von Daten zur Einkommensverteilung und Wirtschaftsleistung zahlreicher Länder, vor allem im 20. Jahrhundert. Andererseits aber stellt er gewisse „Bewegungsgesetze“ des Einkommens von Volkswirtschaften auf, die quasi automatisch zu bestimmten Einkommensverteilungen führen würden. Daron Acemoglu und James Robinson kritisieren Piketty dafür, dass er diese allgemeinen Gesetze zu formulieren versuchte und erklären, dass eine Analyse der Einkommenstrukturen, Institutionen und Politik in den Blick nehmen müsse. (S.20)
Acemoglu und Robinson kritisieren auch die Verwendung des Begriffes Kapitalismus, da die Perspektive auf das Eigentum und die Akkumulation von Kapital im internationalen Vergleich, den Blick auf Merkmale von Volkswirtschaften verstelle, die für die wirtschaftliche Entwicklung und Ungleichheit von größerer Bedeutung seien. Als Beispiel führen sie die Schweiz und Usbekistan an, die beide privaten Kapitalbesitz kennen, sich aber in anderen Bereichen erheblich unterscheiden würden. (S.1f.)
Der Kapitalismus-Begriff der hier kritisiert wird, ist ein soziologisch orientierter, der auf Distribution von Kapital, Macht und Wohlstand abhebt. Allerdings hat der Begriff andere Konnotationen, die beispielsweise mit wirtschaftspolitischen, wirtschaftlich-institutionelle oder -kukturellen Eigenschaften von Volkswirtschaften bzw. Wirtschaftssubjekten zusammenhängen, wie sie etwa im Variety of Capitalism-Ansatz eine Rolle spielen. Acemoglu/Robinson wollen politische und institutionelle Aspekte des Kapitalismus in den Vordergrund rücken.
Danach beschäftigen sie sich mit Marx' Versuch, allgemeine Gesetze der Ökonomie aus der Geschichte heraus zu erarbeiten. Der Grund aus dem Marx und andere Ökonomen mit ihren allgemeinen Gesetzen der Wirtschaft fehl gegangen seien, sei, dass sie von den Umständen ihrer Lebenswirklichkeit zu stark geprägt gewesen seien und kaum auf politische und wirtschaftliche Institutionen und durch selbige determinierte Veränderungen der Technologie und Faktorpreise geachtet hätten. Auch Piketty sei stark von seines Lebensumständen geprägt, vor allem seiner französischen Herkunft. Mit seiner Perspektive trage er zwar die Ungleichheitsforschung in die öggentliche Diskussion. Das Auftreten von Ungleichheiten lasse sich aber durch sich verändernde Angebots- und Nachfragebedingungen bei Qualifikationen und durch neue Arbeitsmarktinstitutionen erklären. (S.6)
Acemoglu/Robinson weisen zurecht auf Pikettys gesellschaftliche Hintergründe hin. Es muss jedoch verwundern, dass die Autoren dieses für Historiker übliche methodische Vorgehen nicht auch bei sich selbst anwenden. Die angelsächsische Herkunft der beiden kann z.B. als Hinweis darauf verstanden werden, warum sie eine klassische Whig-Interpretation des europäischen Aufstiegs, etwa in dem sie die Bedeutung der Glorious Revolution, freier Märkte, Privatisierung etc. betonen, verfolgen
Daraufhin gehen sie auf die von Piketty aufgestellten Gesetze des Kapitalismus ein. Laut Piketty könne der Kapitalanteil am Nationaleinkommen, auf Basis eines angepassten Solow-Wachstumsmodells in einer geschlossenen Volkswirtschaft, durch folgende Gleichung dargestellt werden: KNE = r*s/g. KNE steht hierbei für den Kapitalanteil am Nationaleinkommen, r für den Realzins, s für die Sparrate und g für die Wachstumsrate, ganz wie es im Solow-Modell der Fall ist.
Dabei behauptete er, dass r und s als konstant angenommen werden könnten, da sie sich nicht so stark änderten, wie g. Daraus folge sein erstes allgemeines Gesetz, dass wenn das Wachstum geringer sei, KNE größer werde. Was er dabei nicht bedenke sei jedoch, dass eine sich ändernde Wachstumsrate Auswirkungen auf die Sparrate und die Zinsrate haben könne, die in Standardwachstumsmodellen endogen seien. Doch Piketty behaupte, dass die Zinsrate sich nicht sehr ändern würde, wenn g sinke, weil die Substitutionselastizität zwischen Kapital und Arbeit hoch sei, wodurch es zu einer Erhöhung des Kapitalanteils am Nationaleinkommen komme. Piketty scheint zu behaupten, die Elastizität sei größer als 1, was bedeuten würde, man könne Arbeit volltändig durch Kapital ersetzen. Doch dies sei für die kurze Frist nicht empirisch nachzuweisen und auch auf die lange Sicht fraglich. Intuitiv verständlich sei das etwa, wenn man sich vorstelle, das jede Materialisierung von Technologie (d.h. Maschine oder Computerprogramm etc.) auch von einem Menschen bedient werde müsse, weshalb eine vollständige Substitution unmöglich sei. Zwar wird eine durchaus hohe Elastizität nicht ausgeschlossen, aber selbst dann seien Pikettys Schlussfolgerungen zu weitgreifend. (S.9f)
Eine solche Hypothese bzgl. der Substitutionsfähigkeit der Arbeit durch Kapital ist m.E. ebenfalls nicht haltbar. Sie setzt nämlich voraus, dass die als kapitalistisch geltenden Länder in einem vollständig liberalen System agieren würden. Tatsächlich werden ausbleibende positive Arbeitsmarkteffekte bei sinkendem Wachstum regelmäßig durch Staatsausgaben versucht aufzufangen. So ist Japan geradezu berüchtigt für die Kreierung von unnötigen Arbeitsplätzen im tertiären Sektor, Frankreich für die Ausschreibung staatlicher Großprojekte und Griechenland für die Expansion des Beamtenapparates. Damit erhöht der Staat den Arbeitsanteil am Nationaleinkommen, oder versucht zumindest ihn konstant zu halten. Auch ist es, wie die Autoren feststellen, fraglich, ob ein höherer Kapitalanteil automatisch zu höheren Kapitaleinkünften für die Kapitaleigner führt, denn Niedrigzinsphasen sorgen selbst bei massivem Kapitaleinsatz für geringe Kapitaleinkünfte. Somit ist der Zusammenhang, den Piketty hier modeltechnisch zu machen versucht, empirisch nicht allgemein nachweisbar, sondern gilt höchstens für bestimmte Phasen innerhalb der Entwicklung der Volkswirtschaften im 20. Jahrhundert. Rein logisch empfinde ich es auch nicht nachvollziehbar, weshalb eine höhere Wachstumsrate mit einem Sinken des KNE einhergehen sollte. Das ist eine Annahme, die aus den Hochzeiten des Fordismus zu Beginn des 20. Jahrhunderts und davor stammt, als die Mechanisierung der Produktion komplementär zur Einstellung von Arbeitskräften war bzw. letztere die einzige Möglichkeit war, produktiv zu sein und noch nicht den substituierenden Charakter hatte, den sie heute zum Teil hat.
Das zweite allgemeine Gesetz Pikettys sei r > g. Er behaupte folglich, dass der Realzins stets höher als die Wachstumsrate sei. (S.10)
Aus der obigen Gleichung ergibt sich dann, dass der KNE immer steigt! Im Modell ist das Verhältnis von Realzins zu Wachstumsrate nämlich die einzige Größe, die zu einer Senkung dieses Anteils führen könnte, da s als Konstante angenommen wird. Dies ist allerdings nur möglich, aufgrund der simplifizierenden Annahmen Pikettys, dass r und s konstant seien. Intuitiv wäre meine erste Überlegung gewesen, dass s und r an sich von großer Bedeutung sind. Zu diesem Schluss kommen die Autoren in einer Modellanalyse genauso. (S.29)
Daraus folgend kommt Piketty zu seinem dritten Gesetz, nämlich dass die Beziehung r > g dazu führe, dass die Ungleichheit steige. Dies sei so, weil das Kapital einer Gesellschaft mit der r ansteige, während das Nationaleinkommen nur mit g ansteige.
Vollkommen zurecht weisen die Autoren darauf hin, dass ein solcher Zusammenhang nur dann sinnvoll herzustellen sei, wenn eine gründliche Korrelationsanalyse diesen stüzen würde. Eine solche bleibe Piketty jedoch schuldig. Im Gegenteil, laut ihrer eigenen Analyse stütze die Datenbasis, die Piketty verwendet habe, die von ihm erkannten Gesetze des Kapitalismus nicht. Das gelte sowohl für kurzfristige, als auch für langfristige Perspektiven. Ein höheres g führe nicht automatisch zu weniger Ungleichheit, genausowenig wie ein höheres r nicht automatisch zu mehr Ungleichheit führe. Daraus schließen sie nicht, dass ein höherer Realzins nicht zu einem Anstieg der Ungleichheit führen würde, aber stellen fest, dass dieser nur eine von vielen Ursachen sei, die quantitativ von größerer Bedeutung seien. Im Übrigen stellen sie auch fest, dass selbst bei der Annahme, der Zusammenhang r > g sei korrekt, aus dem allgemeinen makroökonomischen Modell des Ökonomen Nicholas Kaldor, das Pikettys Überlegungen zugrunde liege (Appendix, S.27-29), nicht abzuleiten sei, dass in jedem Fall die Ungleichheit steige. (S.11-13)
Danach versuchen die Autoren Piketty ihre eigene These von der Bedeutung der Institutionen entgegenzuhalten, indem sie die Entwicklung sozialer Ungleichheit in Schweden und Südafrika darstellen. Auf Seite 13 heißt es ironisch, gegen die grundlegende Kraft von r > g seien die Auswirkungen der französischen Revolution oder der Apartheid unbedeutende Details. Sie zeigen dabei, das Pikettys Fokus auf das Vermögen des reichsten 1 % Fehl gehen kann. Schaut man nur auf diese, so erscheint Südafrika nach Ende der Apartheid ungleicher, als während dieser. Stattdessen müsse man auch auf die obersten 5 und 10 % schauen. Anstatt von r und g seien es Arbeitsmarktinstitutionen und politische Gleichgewichte, die mehr zur Veränderung der Ungleichheit in der Zeit beigetragen hätten. Auch im Falle Schwedens seien es Institutionen und konkrete Wirtschaftspolitik gewesen, die als ursächlich für die Entwicklung anzusehen seien. (S.13-15)
Der Rest des Artikels ist ein Plädoyer für die den von den Autoren entwickelten institutionellen Ansatz in der Ökonomik. Ich lasse diesen Teil hier weg, weil er uns zurück zum alten Strang über den Ansatz an sich führen würde.
Insgesamt stimme ich Acemoglu und Robinson im Großen und Ganzen zu. Allgemeine Gesetzmäßigkeiten gibt es nicht, es lassen sich höchstens modelltheoretische Beziehungen für bestimmte Abschnitte und Räume innerhalb der Geschichte formulieren.
 
Aus meiner Sicht ist die Darstellung von Krugman (vgl. #3) sinnvoll, der die Entwicklung seit den achtziger Jahren und der damit zusammenhängenden Akkumulation von Kapital mit dem "Gilded Age" vergleicht.

https://de.wikipedia.org/wiki/Gilded_Age

https://en.wikipedia.org/wiki/Gilded_Age

In diesem Sinne lassen sich bestimmte Gesetzmäßigkeiten des Kapitalismus definieren, allerdings auch immer vor dem Hintergrund systematisch unterschiedlicher politischer Kontexte.

In einem extremen neo-liberalen Staat, wie seit Reagan in den USA, wird es ein anderes Muster der Ungleichverteilung geben wie beispielsweise in einem skandinavschen Land.

Zudem weist Krugman m.E. zu Recht darauf hin, dass historische Ereignisse, wie der WW1 oder der WW2 einen massiven Einfluss haben auf die Art der Akkumulation und der Ungleichverteilung zwischen den Top 1 Prozent und dem Rest.

Die These der zunehmenden "Oligarchisierung" des Kapitalismus von Piketty stimme ich persönlich zu.
 
Aus meiner Sicht ist die Darstellung von Krugman (vgl. #3) sinnvoll, der die Entwicklung seit den achtziger Jahren und der damit zusammenhängenden Akkumulation von Kapital mit dem "Gilded Age" vergleicht.

https://de.wikipedia.org/wiki/Gilded_Age

https://en.wikipedia.org/wiki/Gilded_Age

In diesem Sinne lassen sich bestimmte Gesetzmäßigkeiten des Kapitalismus definieren, allerdings auch immer vor dem Hintergrund systematisch unterschiedlicher politischer Kontexte.

In einem extremen neo-liberalen Staat, wie seit Reagan in den USA, wird es ein anderes Muster der Ungleichverteilung geben wie beispielsweise in einem skandinavschen Land.

Zudem weist Krugman m.E. zu Recht darauf hin, dass historische Ereignisse, wie der WW1 oder der WW2 einen massiven Einfluss haben auf die Art der Akkumulation und der Ungleichverteilung zwischen den Top 1 Prozent und dem Rest.

Die These der zunehmenden "Oligarchisierung" des Kapitalismus von Piketty stimme ich persönlich zu.

Ich habe das Buch von Piketty nicht gelesen und weiß daher nicht, was er über seine Gesetze des Kapitalismus hinaus in seinem Buch an Thesen vorgestellt hat. Ausgehend von den Aufsätzen in #3 und den Rezensionen, dieich bisher gelesen habe, hat er jedoch seine Gesetze nicht vor unterschiedlichen politischen Hintergründen formuliert, sondern auf alle "kapitalistischen Länder" bezogen. Allerdings ist es ein häufiges Vorgehen in der Ökonomik, das angelsächsische Modell bzw. die USA als eine Art Leit-Volkswirtschaft zu nehmen und die Ergebnisse ihrer Analyse auf ein wie auch immer definiertes größeres Sample zu übertragen. Piketty scheint von den USA und Frankreich ausgehend, über den Kapitalismus an sich nachgedacht zu haben.

Was die Gesetzmäßigkeiten angeht, kann ich da nur zustimmen. Ich nehme an, mit unterschiedlichen politischen Kontexten ist mehr gemeint als eine bestimme Politik, sondern ein (wirtschafts)politisches System, dass bestimmte Institutionen, Ideologien und den internationalen Kontext gemeint ist.

Problematisch bei Piketty scheint aber zu sein, dass sein Modell zwar simpel und damit relativ leicht verständlich ist, auf der anderen Seite aber auch tautologisch, "un-empirisch" und selbst seine daraus erarbeiteten Thesen nicht stützt. Und damit ist eine zweite Schwierigkeit der Aufstellung von Gesetzen der Wirtschaft angesprochen, die durch ein offeneres und vermutlich auch komplexeres Modell umgangen werden zu müssen scheint. Zudem fehlt in seinem Modell, wie Krugman ebenfalls moniert, die Entwicklung der Löhne, die ebenfalls zu einer Einkommensverschiebung zu einer Finanz- und Managementelite hin führen. Je simpler das Modell, desto mehr Faktoren müssen ausgeschlossen werden.

Ansonsten stimme ich Piketty in seinen Schlussfolgerungen, aus meinen eigenen Beobachtungen heraus, durchaus zu. Eine Oligarchisiserung ist genau das, was m.E. zu beobachten ist.
 
Zuletzt bearbeitet:
Ich habe das Buch von Piketty nicht gelesen und weiß daher nicht, was er über seine Gesetze des Kapitalismus hinaus in seinem Buch an Thesen vorgestellt hat. ...

Problematisch bei Piketty scheint aber zu sein, dass sein Modell zwar simpel und damit relativ leicht verständlich ist, auf der anderen Seite aber auch tautologisch, "un-empirisch" und selbst seine daraus erarbeiteten Thesen nicht stützt. Und damit ist eine zweite Schwierigkeit der Aufstellung von Gesetzen der Wirtschaft angesprochen, die durch ein offeneres und vermutlich auch komplexeres Modell umgangen werden zu müssen scheint. Zudem fehlt in seinem Modell, wie Krugman ebenfalls moniert, die Entwicklung der Löhne,

Ich habe es inzwischen gelesen.:winke:

Die Entwicklung der Löhne fehlt mE nicht. Zudem laufen die verschiedenen weltweiten empirischen Projekte Pikettys bzgl. des Nachweises seiner zwei grundlegenden "Gesetze" (es gibt hier keine Beschränkung seiner Überlegungen und seines Modells auf die USA).

Die Einwendungen sind grundlegender, und zT methodischer Art. Ich versuche das mal zunächst verbal darzustellen, anschließend auf sein "2. Gesetz" zum Kapialismus einzugehen und übernehme dabei die methodische Kritik von Acemoglu bzw. vereinfache diese Überlegung zum besseren Verständnis.

Die grundsätzliche Problematik der Ermittlung von Einkommen und Vermögensänderungen sowie "Renditen" und "Volkseinkommen", wie von Piketty verwendet:

- Seine Statistiken, mit denen er argumentiert (Ökonometrie nach 1945, für weiter zurückliegende Zeiträume auch Steuerstatistiken), weisen das grundsätzliche Problem auf, Preise und Bewertung zu vermischen.
- Preisblasen und Verluste sind unberücksichtigt.
- die fundamentalen Bewertungsprobleme sind unkorrigiert,
- Bewertungsunterschiede, die grob nach Sektoren nachweisbar sind, bleiben unberücksichtigt
- mangelnde Zahlungsorientierung .
- Bewertung sind diskontierte Ertragserwartungen: Zinssätze und Renditeerwartungen schwanken allerdings. Die Effekte werden nicht neutralisiert, sondern "Einkommensbestandteil". Renditen basieren auf Erwartungen, losgekoppelt von messbaren realwirtschaftlichen Veränderungen. Veränderte Bewertung im Zeitablauf fehlt.
- Unvollständigkeit der Erfassung und dadurch bedingte methodische Fehler: Simpel: Schattenwirtschaft, nicht bewertbare Faktoren wie Bildung, zugängliche "vergesellschaftete" Infrastruktur, "Versicherungswerte" sind ungeeignet, Anwartschaften, etc. fehlen.
- Messung des institutionalisierten, vergesellschafteten Kapitals fehlt in der Verteilungsrechnung.
- Renditen, für die Abhängigkeiten von Innovationen/Erwartungen vorhanden sind, werden nicht berücksichtigt.

Warum ist das nun problematisch? Es wirkt direkt auf die Bewertung der empirischen Nachweise von Pikettys Hauptthese von gesetzmäßigen Divergenzen, Zitat:

Die grundlegende divergenzfördernde Kraft: r > g.
"Die zweite in Grafik I.2 dargestellte Entwicklung verweist auf einen divergenzfördernden Mechanismus, der in gewisser Weise einfacher und transparenter ist, und für die langfristige Vermögensverteilung zweifelsohne noch größere Bedeutung besitzt. Die Grafik I.2 gibt die Entwicklung des Gesamtwerts der Privatvermögen (schuldenfreie Immobilien-, Geld- und gewerbliche Vermögen) in Großbritannien, Frankreich und Deutschland von den 1870er bis zu den 2010er Jahren in Relation zum jährlichen ... "


Der Kern:
"Da wir die Begriffe «Einkommen» und «Kapital» definiert haben, können wir jetzt das erste grundlegende Gesetz einführen, das diese beiden Begriffe miteinander verbindet. Beginnen wir mit dem Kapital-Einkommens-Verhältnis.
Das Einkommen ist eine zeitraumbezogene Größe (Stromgröße). Es entspricht der Menge von Gütern, die in einem bestimmten Zeitraum (im Allgemeinen wählt man den Zeitraum von einem Jahr) produziert und verteilt werden. Das Kapital ist eine Bestandsgröße. Es entspricht der Gesamtmenge der Güter, die sich zu einem bestimmten Zeitpunkt im Besitz von Menschen befinden. Es ergibt sich aus den Gütern, die in allen vergangenen Jahren angeeignet oder akkumuliert wurden. Die natürlichste und produktivste Art, die Bedeutung des Kapitals in einer Gesellschaft zu messen, besteht darin, den Kapitalstock durch das jährliche Einkommensvolumen zu teilen. Dieses Kapital-Einkommens-Verhältnis wird als b bezeichnet.

Wir können jetzt das erste grundlegende Gesetz des Kapitalismus formulieren, das es erlaubt, den Kapitalstock mit den Kapitaleinkommen in Zusammenhang zu bringen. Das Verhältnis von Kapital und Einkommen b ist auf eine sehr einfache Weise mit dem Anteil der Kapitaleinkommen am Nationaleinkommen verbunden; dieser Anteil wird als a bezeichnet werden, und die Formel lautet:
α = r × β, wobei r die durchschnittliche Kapitalrendite ist....
Zum Beispiel: Wenn β = 600 % und r = 5 % ist, dann ist α = r × β = 30 %"


Was Piketty hier "als Gesetz" ausführt, wird - unabhängig von der methodischen Kritik an seinen ökonometrischen Projekten - als einfaches "Aufbröseln" der Gleichung 1=1 kritisiert. Dies sei kein Gesetz, sondern eine einfache mathemathische Kombination von Rendite, Einflussgröße Kapital(stock), Volkseinkommen und Kapitaleinkommen.

Der kurze Nachweis, weil das aufgrund der Formel nicht unmittelbar ersichtlich ist:

α = Anteil des Kapitaleinkommen am Nationaleinkommen KE/NE
r = die durchschnittliche Kapitalrendite, also Kapitaleinkommen/Kapital KE/K
β = Multiplikation der Höhe des gesamten Kapitals zum Nationaleinkommen K/NE

also:

KE/NE = KE/K * K/NE //Multiplikation mit NE ergibt <=>
KE = KE/K * K <=>
KE = KE * K/K <=>
KE = KE
1 = 1

Das Ergebnis ist zweifellos korrekt und ebenso trivial. :devil:
Die Trivialität ist die Ursache für Kritik, weil hieraus schwerlich Renditegesetze oder Divergenzgesetze hergeleitet werden können, was auch massiv kritisiert wird, ganz unabhängig von oben dargestellten Messproblemen.

Aber gegen 1=1 ist ja nun nichts einzuwenden, wenn wenigstens aus der Aufstrickung der Zusammenhänge Erkenntnisgewinne gezogen werden kann. Das soll bei Piketty mit Verweis auf (empirisch angeblich nachweisbare) "Gesetzmäßigkeiten" für die Relationen α und β erfolgen, aus denen sich logischerweise r ergibt, welches das Wachstum g übersteigt. Dazu später mehr.
 
Nachdem im Vorbeitrag auf die von Piketty behaupteten Gesetzmäßigkeiten eingegangen wurde (die sich als einfacher rechnerischer Zusammenhang von empirisch beobachtbaren und schwankenden Renditen und Kapitalstock einer Volkswirtschaft herausstellt), im Folgenden einige Bemerkungen zu grundlegenden Darstellungen:

1. empirische Vergleiche, das Problem des Bevölkerungswachstums in den beobachteten Zeithorizonten und dem ökonomischen Wachstum

Für seine r>g Gleichung als Quelle von ungleichen Wachstumsverteilungen führt Piketty zentral folgende Analogie an:

"Die zweite in Grafik I.2 dargestellte Entwicklung verweist auf einen divergenzfördernden Mechanismus, der in gewisser Weise einfacher und transparenter ist, und für die langfristige Vermögensverteilung zweifelsohne noch größere Bedeutung besitzt. Die Grafik I.2 gibt die Entwicklung des Gesamtwerts der Privatvermögen (schuldenfreie Immobilien-, Geld- und gewerbliche Vermögen) in Großbritannien, Frankreich und Deutschland von den 1870er bis zu den 2010er Jahren in Relation zum jährlichen ... "

Der zweite Grund ist der, dass sich an Frankreich, das als erstes den sogenannten demografischen Übergang erlebte, gut ablesen lässt, was die gesamte Welt erwartet. Die französische Bevölkerung ist zwar im Laufe der beiden letzten Jahrhunderte gewachsen, dies jedoch relativ langsam. Zur Zeit der Revolution hatte Frankreich fast 30 Millionen Einwohner und zu Beginn der 2010er Jahre etwas mehr als 60 Millionen. Es handelt sich um dasselbe Land, um dieselben Größenordnungen. Im Vergleich dazu zählten die Vereinigten Staaten von Amerika zur Zeit der Unabhängigkeitserklärung knapp 3 Millionen Einwohner. Um 1900 erreichten sie 100 Millionen und lagen zu Beginn der 2010er Jahre bei über 300 Millionen. Wenn ein Land von 3 Millionen auf 300 Millionen Einwohner wächst (ganz zu schweigen von der radikalen territorialen Veränderung im Zuge der Expansion nach Westen im 19. Jahrhundert) handelt es sich nicht mehr um dasselbe Land. Wir werden sehen, dass Dynamik und Struktur der Ungleichheit in einem Land, in dem die Bevölkerung um das Hundertfache gewachsen ist, und in einem Land, in dem sie sich gerade einmal verdoppelt hat, sehr unterschiedlich sind. Insbesondere die Bedeutung von Erbschaften ist im ersteren wesentlich geringer als im letzteren. ..."


Abgesehen von den bereits kritisierten Meßproblemen und schwankenden, preisabhängigen Bewertungen spricht Piketty hier das per-capita-Problem an. Den Schluss für seine älteren empirischen Betrachtungszeiträume zieht er allerdings nicht: Divergenzen in Einkommensverteilungen entwickeln sich in Volkswirtschaften mit unterschiedlicher Bevölkerungsdynamik unabhängig vom behaupteten r>g Problem.


2. Huhn oder Ei?

""wobei angenommen wird, dass unterschiedliche Sparquoten eine wichtige Ursache der Vermögensungleichheit sind."

Und umgekehrt: eine Banalität. Bestehende Vermögensungleichheiten, zB auch verursacht durch Bevölkerungsdynamik, verursachen unterschiedliche Sparquoten.


3. Ökonomie anno 1900?

"Lange Zeit besagte die unter Ökonomen am weitesten verbreitete These, die ein wenig zu schnell Eingang in die Lehrbücher fand, dass die Verteilung des Nationaleinkommens auf Kapital und Arbeit langfristig sehr stabil gewesen sei und im Allgemeinen bei einem Drittel/zwei Drittel lag. ... Aufgrund des historischen Abstands und neuer Daten werden wir zeigen können, dass die Wirklichkeit viel komplexer ist."

Erst wird eine abstruse These entwickelt, die in die Nähe naturgesetzlicher Vorgänge gerückt wird, das Ganze ohne Zitat. Dann wird Widerlegung angekündigt.


4. Lange Zeitreihen:

"Andererseits: Nimmt man jenseits dieser zweifachen Kehrtwendung [Anm.: Erster und Zweiter Weltkrieg] eine sehr langfristige Perspektive ein, so stellt man fest, dass die These von einer vollständigen Stabilität des Verhältnisses zwischen Kapital und Arbeit nicht zu der Tatsache passt, dass sich das Kapital radikal verändert hat (vom Bodenkapital des 18. Jahrhunderts zum Immobilien-, Industrie- und Finanzkapital des 21. Jahrhunderts)."

Was soll hier "Veränderung" darstellen? Angesprochen sind Quantitäten und eine Relation. Probleme wie diejenigen der Bewertung (s.o.) und Wirkungen der Innovationen und Institutionen wird verkannt. Der Kapitalbegriff bleibt völlig diffus und vermischt (Forderungs- und Anteilsrechte und Gegenständliche Definition) sowie Teile bleiben außer Betrachtung (Humankapital, Patente, Lizenzen, etc.)


Fortsetzung folgt.
 
[Zwischenbemerkung:]
Pikettys Werk strotzt nur so von Plaudereien, bei denen man sich fragt, was Sie eigentlich für die Herleitung, Verständnis, Plausibilisierung oder gar emprischen Nachweis seiner Thesen beitragen sollen. Ein Beispiel:

"Sagen wir es klipp und klar: Die wirtschaftswissenschaftliche Disziplin hat ihre kindliche Vorliebe für die Mathematik und für rein theoretische und oftmals sehr ideologische Spekulationen nicht abgelegt, was zu Lasten der historischen Forschung und der Kooperation mit den anderen Sozialwissenschaften geht. Allzu häufig befassen sich die Ökonomen in erster Linie mit kleinen mathematischen Problemen, an denen nur sie selbst interessiert sind, was es ihnen erlaubt, sich ohne großen Aufwand das Etikett von Wissenschaftlichkeit anzuheften und sich den viel komplizierteren Fragen zu entziehen, die die Welt um sie herum aufwirft. Als Ökonom an einer französischen Universität zu lehren, hat einen großen Vorteil: Die Ökonomen sind in intellektuellen und universitären Kreisen wenig angesehen, was auch für die politischen Eliten und die Finanzeliten gilt. Das zwingt sie, ihre Verachtung für die anderen Disziplinen und ihren absurden Anspruch auf wissenschaftliche Überlegenheit aufzugeben, den sie vor sich hertragen, obgleich sie doch im Grunde so gut wie gar nichts wissen. Das macht übrigens den Charme der Disziplin und der Sozialwissenschaften generell aus: Man beginnt bei einem niedrigen, mitunter sogar einem sehr niedrigen Niveau und kann folglich hoffen, große Fortschritte zu machen. In Frankreich sind die Ökonomen meiner Ansicht nach ein bisschen motivierter als in den Vereinigten Staaten, ihre Kollegen aus den Geschichtswissenschaften und der Soziologie sowie die Außenwelt davon zu überzeugen, dass sie etwas Interessantes tun (was sich ja nicht von selbst versteht)"

Der einzige Sinn solcher Passagen besteht vermutlich darin, Sympathien, Antipathien, Solidarisierungen, etc. zu erzeugen.

Weiter in den inhaltlichen Bemerkungen:


5. Wachstum von Kapitalvermögen und seine "Ursachen"

"Die sehr hohen Kapitalvermögen, die es heute in den reichen Ländern gibt, erklären sich vor allem mit einem schwachen Produktions- und Bevölkerungswachstum sowie mit einer Politik, die objektiv dem Privatkapital sehr förderlich ist. Der fruchtbarste Ansatz zum Verständnis dieser Veränderungen ist die Analyse der Entwicklung des Kapital-Einkommens-Verhältnisses (das heißt des Verhältnisses zwischen dem gesamten Kapitalstock und dem jährlichen Einkommens- und Produktionsvolumen) und nicht nur des Verhältnisses zwischen Kapital und Arbeit (das heißt der Verteilung des Einkommens- und Produktionsvolumens auf Kapitaleinkommen und Arbeitseinkommen), das früher wegen des noch begrenzten Datenbestands bevorzugt untersucht wurde."

Für den diskutablen Erklärungsansatz werden - auch in den ergänzenden Studien - keinerlei empirische Nachweise geliefert, sondern es wird hier mit einer "gefühlten" Plausibilität argumentiert. Die kann man ja teilen, allerdings wäre dann - Evidenz der Zusammenhänge vorausgesetzt - wohl leicht ein empirischer Nachweis führbar. Das ist er aber nicht.

Zugleich sind darin auch wenig plausible Wirkungsketten versteckt. Wörtlich genommen, behauptet Piketty den folgenden unmittelbaren Zusammenhang: sehr schwaches Bevölkerungswachstum bewirkt sehr starkes Wachstum der Kapitalvermögen (greift auf absolute/nominale Betrachtungen zu!). Das lässt sich als Hypothese ja diskutieren, mglw. über "Umwege" (-> per capita-Betrachtungen): allein fehlt hier jeder (internationale) Nachweis.


6. Handelsbilanzen

"Es ist nicht unproblematisch für ein Land, wenn es für ein anderes Land arbeitet und ihm dauerhaft einen signifikanten Teil seiner Produktion in Form von Dividenden oder Mieten überlässt."

Thema: Auslandseinkommen. Übersieht die Investition und die Abschreibung des Kapitalstocks, die den Dividenden/Mieten aus Auslandsinvestitionen gegenüber stehen.
Zudem eine steile These: Piketty "nationalisiert" sozusagen die Produktion, weil hier implizit eine naturgesetzliche Verbindung von Binnenkonsum und "ihrer"/"nationalen" Binnenproduktion behauptet wird. Streng genommen würde der Zusammenhang sogar als nachteilig für die BRD auftreten, die "signifikante Teile 'ihrer' Produktion dem Ausland überlässt." Weiter wird hier das mit der "verlängerten Werkbank argumentiert. Offenbar setzt Piketty dabei gleich, ob Produktion exportiert wird oder die Verzinsung des produktiven Kapitals. Kritisch ist dazu anzumerken, dass

a) das getrennt betrachtet werden muss
b) wieder empirische Nachweise fehlen.



7. Entstehungsrechnung/Verteilungsrechnung:

"Diese Gleichheit von jährlichen Einkommen und jährlicher Produktion sagt etwas Wichtiges aus. Im Laufe eines Jahres können nicht mehr Einkommen verteilt als neue Werte produziert werden (es sei denn, man verschuldet sich gegenüber einem anderen Land, was im Weltmaßstab nicht möglich ist). Umgekehrt muss die gesamte Produktion in Form von Einkommen auf die eine oder andere Weise verteilt werden: entweder in Form von Löhnen, Gehältern, Honoraren, Prämien usw., die an die Arbeitnehmer und an die Personen fließen, die die für die Produktion notwendige Arbeit erbracht haben (Arbeitseinkommen) oder in Form von Gewinnen, Dividenden, Zinsen, Mieten, Gebühren usw., die den Besitzern des für die Produktion notwendigen Kapitals zufließen (Kapitaleinkommen)."

->Die "Gleichung" von Entstehungsrechnung und Verteilungsrechnung würde konsequenter Weise behauptet, dass die langfristige These von "r ungleich g" Unsinn ist.

-> selbstverständlich ist die Gleichung auch als Ungleichung fassbar: zum einen entsteht Einkommen nach dieser Definition "außerhalb" der Werteproduktion, wenn Piketty keine Preisbereinigungen vornimmt.

-> Verweis auf die generelle Diskussion selbst in der Fassung mit Staatsnachfrage G und Außennachfrage (X-Im) über Y = C + I + G (+ X - Im)


Fortsetzung folgt.
 
2. Huhn oder Ei?

""wobei angenommen wird, dass unterschiedliche Sparquoten eine wichtige Ursache der Vermögensungleichheit sind."

Und umgekehrt: eine Banalität. Bestehende Vermögensungleichheiten, zB auch verursacht durch Bevölkerungsdynamik, verursachen unterschiedliche Sparquoten.
Hierfür würde ich ihn nicht kritisieren. Von einer Kausalität der Sparquoten in Richtung anderer Faktoren auszugehen ist in der VWL üblich und einem gewissen Pragmatismus geschuldet, da Modelle mit endogener Sparquote einen Quantensprung in der Komplexität darstellen, wenn man nicht auf andere Variablen verzichten möchte.

3. Ökonomie anno 1900?

"Lange Zeit besagte die unter Ökonomen am weitesten verbreitete These, die ein wenig zu schnell Eingang in die Lehrbücher fand, dass die Verteilung des Nationaleinkommens auf Kapital und Arbeit langfristig sehr stabil gewesen sei und im Allgemeinen bei einem Drittel/zwei Drittel lag. ... Aufgrund des historischen Abstands und neuer Daten werden wir zeigen können, dass die Wirklichkeit viel komplexer ist."

Erst wird eine abstruse These entwickelt, die in die Nähe naturgesetzlicher Vorgänge gerückt wird, das Ganze ohne Zitat. Dann wird Widerlegung angekündigt.
Die These finde ich eigentlich nicht abstrus. Tatsächlich wird, hier wieder aus Gründen des Pragmatismus und vor allem seit die Cobb-Douglas-Produktionsfunktion ( bei der der Output einer Volkswirtschaft mittels des Produktes von Kapital und Arbeit, jeweils um seinen Anteil am Gesamtkapital potenziert, berechnet wird) Eingang in die VWL gefunden hat, von einem solchen Kapital-Arbeitsverhältnis ausgegangen. Tatsächlich findet sich diese in den meisten Lehrbüchern die ich kenne bzw. ich habe es auch so gelernt.

4. Lange Zeitreihen:

"Andererseits: Nimmt man jenseits dieser zweifachen Kehrtwendung [Anm.: Erster und Zweiter Weltkrieg] eine sehr langfristige Perspektive ein, so stellt man fest, dass die These von einer vollständigen Stabilität des Verhältnisses zwischen Kapital und Arbeit nicht zu der Tatsache passt, dass sich das Kapital radikal verändert hat (vom Bodenkapital des 18. Jahrhunderts zum Immobilien-, Industrie- und Finanzkapital des 21. Jahrhunderts)."

Was soll hier "Veränderung" darstellen? Angesprochen sind Quantitäten und eine Relation. Probleme wie diejenigen der Bewertung (s.o.) und Wirkungen der Innovationen und Institutionen wird verkannt. Der Kapitalbegriff bleibt völlig diffus und vermischt (Forderungs- und Anteilsrechte und Gegenständliche Definition) sowie Teile bleiben außer Betrachtung (Humankapital, Patente, Lizenzen, etc.)
Schreibt Piketty irgendwo, ob r>g auch vor 1870 in Frankreich oder anderen "kapitalistischen" Ländern gegolten hat? Oder was der Mechanismus war, der vor dem Kapitalismus Vermögensunterschiede zurfolge hatte?

Zugleich sind darin auch wenig plausible Wirkungsketten versteckt. Wörtlich genommen, behauptet Piketty den folgenden unmittelbaren Zusammenhang: sehr schwaches Bevölkerungswachstum bewirkt sehr starkes Wachstum der Kapitalvermögen (greift auf absolute/nominale Betrachtungen zu!). Das lässt sich als Hypothese ja diskutieren, mglw. über "Umwege" (-> per capita-Betrachtungen): allein fehlt hier jeder (internationale) Nachweis.

Meine These ist, dass es hier es ein kleines Begriffsproblem gibt, dem Pikettys synonyme Verwendung von Kapital und Vermögen zugrunde liegt. Mit Wachstum der Kapitalvermögen scheint er hier die "Konzentration" von Vermögen per se zu meinen, d.h. niedriges Bevölkerungswachstum führt zu einer starken Konzentration der Vermögen auf die Kapitalbesitzer. Diese These ließe sich nicht mit einer pro-Kopf-Betrachtung analysieren, sondern eher mit einer Median-Betrachtung oder eben einer Betrachtung der Vermögen der oberen 1, 5, oder 10 Prozent. Dafür, nur das oberste eine Prozent in den Blick genommen zu haben, wurde er u.a. von Krugman kritisiert.
Eine Vermögenskonzentration beim Kapital muss aber nicht mit einer Erhöhung des Kapitalanteils am Input einhergehen und zwar aus zwei Gründen: einerseits steigt durch technologischen Fortschritt, der in Pikettys Definition von Kapital integriert zu sein scheint, die Kapitalproduktivität und damit der Anteil des Kapitals am Einkommen. Zweitens bleibt die Sparquote in seinem Modell konstant (es gibt nur Unterschiede zwischen Ländern, aber nicht im Zeitverlauf einer Volkswirtschaft), d.h. der Überschuss der im steady-state (d.h. nach Abschreibungen und Investitionen zur Aufrechterhaltung der Sparquote) durch technologischen Fortschritt produziert wird, wird von den Kapitaleignern verkonsumiert und nicht investiert.
Daher meint er auch vermutlich, das man neben dem Kapital-/Arbeitsverhältnis an den Einkommen, auch auf das Verhältnis des Kapitalstocks am Produktionsvolumen schauen muss, eben um zu sehen, ob sich neben dem Kapital auch die Arbeit mengenmäßig verändert, oder nicht. Oben zitiertest Du Pikettys Ansicht, dass sich die Natur des Kapitals im Laufe der Zeit geändert habe. Diesen Umständ kann man einflechten: Die Faktorproduktivität des, vorranging, Bodenkapitals, blieb über viele Jahrhunderte konstant, erst der Einsatz von Werkzeug-, Maschinen- und Anlagekapital und vor allem die kapitalintensive Produktion in Fabriken, hatte eine (anhaltend) steigende Kapitalproduktivität zur Folge.
Stellen wir uns einmal ein Land im steady-state vor, die Produktivität der Arbeit und des Kapitals je eingesetzter Einheit sei genau 1. Bei jeweils 50 eingesetzten Einheiten hätten wir ein Produkt und daher ein Einkommen von 100 Einheiten, das zu gleichen Teilen auf Kapital und Arbeit verteilt wird, 50 : 50. Nun hat sich das Kapital aber gewandelt und damit stieg die Kapitalproduktivität auf 2, der Anteil des Kapitals entspricht aber immer noch dem der Arbeit, nämlich 50 Einheiten. Das Gesamteinkommen wäre nun 150, 100 durch das Kapital erwirtschaftete Einheiten und 50 durch die Arbeit erwirtschaftete Einheiten. Folglich wäre das Verhältnis nicht mehr 1 : 1, sondern 2 : 1. Gibt es aber gleichzeitig zum Anstieg der Kapitalproduktivität einen Bevölkerungsanstieg und damit einen weiteren Produktionsanstieg, sagen wir auf 100 Einheiten Arbeit, dann würde sich das Kapital-/Arbeitsverhältnis an der Produktion zu 1 : 2 verändern, das Gesamtprodukt würde auf 200 steigen, aber der Anteil von Kapital und Arbeit am Einkommen wäre gleich, nämlich 100 zu 100 Einheiten, also 1 : 1. Ein niedrigeres Bevölkerungswachstum bedeutet also bei steigender Kapitalproduktivität, dass das BIP nur noch im Verhältnis zur Steigerung der Kapitalproduktivität wächst, der Anteil des Kapitals am Input gleich bleibt, aber der am Einkommen steigt. Diese Steigerung ist natürlich nicht 50% sondern sehr viel geringer von Jahr zu Jahr. Dennoch führt diese über langen Zeit zu größeren Einkommensunterschieden, da die Produktivitätszunahme über der Bevölkerungszunahme liegt.
Zugrunde liegt dieser Überlegung aber die Prämisse, dass das Humankapital entweder zum Anlagekapital gezählt wird, oder aber das es über lange Zeit kaum gewachsen ist, denn sonst könnte die steigende Arbeitsproduktivität der Arbeit diese Entwicklung aufheben. Ersteres ist per seiner Definition von Kapital nicht der Fall. Letzteres, so sagt mir eine kurze Suche bei google books, stellt Piketty fest. Wenn das Humankapital zu einer Steigerung der Arbeitsproduktivität geführt hat, dann überhaupt nur in der sehr langen Frist und dann ohne signifikante Auswirkungen auf die Arbeitsproduktivität, schreibt er. Daraus folgt aber auch, dass sich eine pro-Kopf-Betrachtung nicht lohnt, da die Faktorentlohnung der Arbeit immer 1 ist, weshalb er sich wohl, wie Du schreibst, auf aggregierte Größen stützt. Außerdem liegt die Prämisse zugrunde, dass, wie ich oben bereits geschrieben habe, er eine beinahe vollständige Substituierung der Arbeit durch Kapital als möglich ansieht.
Um durch Modellberechnungen zu zeigen, was Piketty hier anstrebt, bräuchte man eigentlich ein Modell, in dem Kapitalvermögen und Geldvermögen nicht in einer Identitätsbeziehung, sondern in einer Gleichungsbeziehung stehen. Außerdem setzt er quasi voraus, dass Vermögen hauptsächlich durch Kapiteleinkünfte entstünden, aber wie bereits erwähnt, sind auch Arbeitseinkünfte von Managern, Politikern und Sportlern, beispielsweise, eine wesentliche Ursache der Vermögenskonzentration.

Thema: Auslandseinkommen. Übersieht die Investition und die Abschreibung des Kapitalstocks, die den Dividenden/Mieten aus Auslandsinvestitionen gegenüber stehen.
Zudem eine steile These: Piketty "nationalisiert" sozusagen die Produktion, weil hier implizit eine naturgesetzliche Verbindung von Binnenkonsum und "ihrer"/"nationalen" Binnenproduktion behauptet wird. Streng genommen würde der Zusammenhang sogar als nachteilig für die BRD auftreten, die "signifikante Teile 'ihrer' Produktion dem Ausland überlässt." Weiter wird hier das mit der "verlängerten Werkbank argumentiert. Offenbar setzt Piketty dabei gleich, ob Produktion exportiert wird oder die Verzinsung des produktiven Kapitals. Kritisch ist dazu anzumerken, dass

a) das getrennt betrachtet werden muss
b) wieder empirische Nachweise fehlen.

Die Abschreibungen sind in Pikettys Modell implizit vorhanden, da er nicht vom Brutto-Output ausgeht, sondern vom Netto-Output, Nettoinvestitionen und Nettosparrate ausgeht: Y(netto) = Y(brutto) – dK; s(netto) = sY – dK und I(netto) = dK + s(Y-dK). Ich sehe das ansonsten wie Du und wie oben, Piketty scheint sein begriffliches Instrumentarium nicht im Griff zu haben. In google books stehen die Seitanzahlen leider nicht dabei, aber irgendwo steht das; ob mit oder ohne formale Definition weiss ich nicht.
 
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Schöne und spannende Diskussion!
Ich habe die zugrundeliegenden Texte nicht gelesen, und beschränke meine Anmerkungen daher auf die hier wiedergegebenen Auszüge:
Laut Piketty könne der Kapitalanteil am Nationaleinkommen, auf Basis eines angepassten Solow-Wachstumsmodells in einer geschlossenen Volkswirtschaft, durch folgende Gleichung dargestellt werden: KNE = r*s/g. KNE steht hierbei für den Kapitalanteil am Nationaleinkommen, r für den Realzins, s für die Sparrate und g für die Wachstumsrate, ganz wie es im Solow-Modell der Fall ist.
Dabei behauptete er, dass r und s als konstant angenommen werden könnten, da sie sich nicht so stark änderten, wie g. Daraus folge sein erstes allgemeines Gesetz, dass wenn das Wachstum geringer sei, KNE größer werde.
Hier sehe ich zwei grundlegende Probleme:

  1. Wie schon länger bekannt (zumindest lernte ich es so in meinem auch schon 25 Jahre zurückliegenden Studium) ist die Sparrate demographisch bestimmt. Vereinfacht gesagt, wird in jungen Jahren für das Alter angespart, während des (Renten-) Alters aus diesem Kapitalstock entspart. Der Prozeß ist heute teilweise, über staatliche Altersversorigung, sozialisiert, läuft aber vielfach noch über private Vemögensbildung (Immobilien, Kapital-Lebensversicherungen, Riester-Rente etc.). Damit ist die Sparrate s nicht konstant, sondern z.T. eine Funktion der demographischen Struktur der jeweiligen Volkswirtschaft. [Dieser demographische Aspekt ist übrigens ein wesentlicher Erklärungsbeitrag für die in den 2000ern niedrige, und aktuell hohe Wachstumsstärke der deutschen Volkswirtschaft. Die geburtenstarken Jahrgänge treten aus der Spar- in die Entsparphase, mit der Folge höherer volkswirtschaftlicher Konsum- und niedrigerer Sparquote. Die US-amerikanischen Baby-boomer sind gut 10 Jahre älter, entsprechend setzte dort auch ihr Konsum früher ein.]
  2. Der Realzins r muß sauber definiert werden. Renditen bestehen aus einem Faktorpreis für das Kapital, und einer Risikoprämie (risk-return). Letztere ist stark von Innovationen bestimmt, daneben spiegelt sie natürlich Markttransparenz und -effizienz wieder. Die Annahme einer konstanten realen Gesamtredite halte ich für unzutreffend; sie stände im Widerspruch zu allen volkswirtschaftlichen Erkenntnissen zu Innovationszyklen (Kondratieff-Zyklen).
    Selbst sofern Piketty für seine Analysen den Realzins um Risikoprämien bereinigt hat (wie weit dies technisch für länger zurückreichende Zeitreihen überhaupt möglich ist, ist fraglich), zeigt ein Blick auf die Entwicklung "risikoloser" Renditen (AAA, Deutsche/ US Staatsanleihen etc.) in den letzten Jahren, daß dier risikolose Realzins nicht konstant ist, und zeitweilig negativ werden kann.
Eine Theorie, die auf zwei unzutreffenden Grundannahmen fußt, scheint mir wenig tragfähig.

Zum Komplex der Arbeitsproduktivität sei angemerkt, daß diese historisch stark zwischen Kulturen variierte. Das südostasiatische Kulturmodell basiert(e) auf Bewässerungs-Reisanbau mit 2-3 Ernten pro Jahr. Die Kultur ist arbeitsintensiv und kaum mechanisierbar. Abgesehen von Terrassierung und Unterhaltung des Bewässerungssystems, die als Eigenleistungen vermutlich kaum in volkswirtschaftliche Gesamtrechnungen eingehen, ist die Kapitalintensität gering. Für Indonesien 1993 ermittelte ich einen Flächenbedarf von 0,7 ha, um einer 5-7köpfige Familie ein Einkommen an der Armutsgrenze bzw. in Höhe des gewerblichen Mindestlohns zu sichern. Die hohe Flächenproduktivität, gekoppelt mit starkem landwirtschaftlichem Arbeitskräftebedarf, ist der Hauptgrund der extrem hohen südostasiatischen Bevölkerungsdichte. Das Prinzip kann, mit Abstrichen, auf ebenfalls arbeitsintensiven und schwer mechanisierbaren Gartenbau übertragen werden, wie er u.a. die ebenfalls sehr dicht besiedelten Niederlande prägt. Auch dort dürften bodenbezogene Investitionen (Deichbau, Entwässerung etc.) erst spät in volkswirtschaftlichen Gesamtrechnungen berücksichtigt worden sein.
Im Gegensatz dazu war/ist das vorherrschende europäische Kulturmodell durch extensive Landnutzung (0,7 Ernten/ Jahr bei Dreifelderwirtschaft, flächenintensive Viehhaltung), mit sehr viel geringerem Arbeitskräfteeinsatz geprägt. Hinzu tritt frühe Substition menschlicher Arbeitskraft, z.T. durch Tiere (Ochsen, Pferde), z.T. durch Kapital (Pflug, Fahrzeuge, etc.). Die ökologisch bedingte niedrigere Bevölkerungstragfähigkeit Europas hat früh zu Arbeitskräftemangel geführt (extrem nach Epidemien wie z.B. dem Schwarzen Tod), mit der Folge hoher Reallöhne und starkem Anreiz zur Substitution von Arbeit durch Kapital.
Die aus diesen differierenden Agrarkulturen resultierenden unterschiedlichen historischen Faktorproduktivitäten, und dementsprechend anderen Mechanismen und Anreizsystemen für Faktorsubstitution (Boden durch Arbeit in Südostasien, Arbeit durch Kapital in Europa) sollten in einer Theorie, die weltweite und nicht nur europäisch-nordamerikanische Gültigkeit beansprucht, zumindest reflektiert werden.
 
Hierfür würde ich ihn nicht kritisieren. Von einer Kausalität der Sparquoten in Richtung anderer Faktoren auszugehen ist in der VWL üblich und einem gewissen Pragmatismus geschuldet, da Modelle mit endogener Sparquote einen Quantensprung in der Komplexität darstellen, wenn man nicht auf andere Variablen verzichten möchte.

Die Kritik richtete sich nicht auf die Frage, ob etwa Sparquoten exogen über gleichgewichtigen Konsum im Solow-Modell oder endogen aus Nutzenfunktionen der Wirtschaftssubjekte zB im Ramsey–Cass–Koopmans Modell beschrieben werden.

Mir ging es - wie Pikettys Anliegen empirisch gedeutet werden muss - darum, dass ohne Hinweis auf Modellgrundlagen oder ökonometrische Nachweise eine Wirkungskette von Sparquote auf Vermögensungleichheiten behauptet wird, und die umgekehrte Wirkungskette ausgeblendet wird. Mit einer Modellkonkurrenz oder Komplexitätsreduktion hat das nichts zu tun, dann müssten hier überhaupt erst mal so etwas wie "Modelle" von Piketty angeführt werden (was er unterlässt, aus welchem Grund auch immer).

Diese Aussage von Piketty ist auch eine andere Liga als die Frage der üblicherweise angenommenen Kausalitäten von APS oder komplementär APC in Wachstums- oder Gleichgewichtsmodellen, etwa Auswirkungen auf Kapitalakkumulation im Solow-Modell, Investitionsraten, Staatsausgaben, Wechselkurse, Beschäftigung oder andererseits Aspekte der politischen Ökonomie oder Fiskalökonomie/Steuerpolitik auf Veränderungen der APS.

Piketty nutzt hier die Sparquote als Kontext und zugleich als Variable seiner nicht unterlegten Verteilungshypothesen.

In dem Sinne war es mein Anliegen, sein Zitat als heiße Luft herauszustellen, und dessen Banalität durch die Umkehrung der Wirkungskette - gleichsfalls "evident" - herauszustreichen.

Wenn er wenigstens Modellgrundlagen dafür nennen würde, kombiniert mit dazu passenden empirischen Studien ... Die Frage ist, wie er hier überhaupt den Adressaten sieht?

Die These finde ich eigentlich nicht abstrus. Tatsächlich wird, hier wieder aus Gründen des Pragmatismus und vor allem seit die Cobb-Douglas-Produktionsfunktion ( bei der der Output einer Volkswirtschaft mittels des Produktes von Kapital und Arbeit, jeweils um seinen Anteil am Gesamtkapital potenziert, berechnet wird) Eingang in die VWL gefunden hat, von einem solchen Kapital-Arbeitsverhältnis ausgegangen. Tatsächlich findet sich diese in den meisten Lehrbüchern die ich kenne bzw. ich habe es auch so gelernt.
Auch hier bringst Du sehr viel Geduld und Nachsicht im Gepäck. :winke:
Der entscheidende Punkt, eine empirische und nicht funktionale Aussage, ist dieser:
Verteilung des Nationaleinkommens auf Kapital und Arbeit langfristig sehr stabil gewesen sei und im Allgemeinen bei einem Drittel/zwei Drittel lag
Die Relation ist erstmal grober Unfug vor dem Hintergrund der oben aufgezeigten Bewertungsproblematik, weil unterschiedliche Bewertungen die behauptete fixe Relation verändern würden.

Weiter geht es Piketty hier nicht um die Entstehung des GDP, als Erklärungsmodell etwa durch eine hochaggregierte Cobb-Douglas-Produktionsfunktion aufgrund der Faktoren Kapitalstock, Beschäftigung (und anderen Faktoren), sowie zugehöriger Produktionselastizitäten.

Es geht auch hier wieder um ein Verteilungsmodell zwischen Einkommensarten und Renditen ("α = r × β = 30 %" sowie g), also nicht um die Berechnung des gesamten Outputs, sondern um die Hypothese einer Verteilungskonstanten.

Was Du anmerkst, fehlt bei Piketty gerade, und wird von Kritikern - ein bemerkenswerter Vorgang in einer Fachdiskussion! - durch "Annahmen" ausgefüllt: Acemoglu "unterstellt" ihm beispielsweise dazu als Ausgangspunkt die Prämisse eines Gleichgewichtszustandes in einem "Solow-ähnlichen" Wachstumsmodell, verweist dann auf Krussel/Smith:
http://aida.wss.yale.edu/smith/piketty1.pdf
Daraus die Kritik zum "2. Gesetz" Pikettys:

"Piketty’s second law says that if the economy keeps the saving rate, s, constant over time, then the capital-to-income ratio k=y must, in the long run, become equal to s=g, where g is the economy’s growth rate. In particular, were the economy’s growth rate to decline toward zero, the capitaloutput ratio would rise considerably and in the limit explode. This argument about the behavior of k=y as growth slows, in its disarming simplicity, does not fully resonate with those of us who have studied basic growth theory based either on the assumption of a constant saving rate— such as in the undergraduate textbook version of Solow’s classical model— or on optimizing growth, along the lines of Cass (1965) or its counterpart in modern macroeconomic theory."
 
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Die Kritik richtete sich nicht auf die Frage, ob etwa Sparquoten exogen über gleichgewichtigen Konsum im Solow-Modell oder endogen aus Nutzenfunktionen der Wirtschaftssubjekte zB im Ramsey–Cass–Koopmans Modell beschrieben werden.

Mir ging es - wie Pikettys Anliegen empirisch gedeutet werden muss - darum, dass ohne Hinweis auf Modellgrundlagen oder ökonometrische Nachweise eine Wirkungskette von Sparquote auf Vermögensungleichheiten behauptet wird, und die umgekehrte Wirkungskette ausgeblendet wird. Mit einer Modellkonkurrenz oder Komplexitätsreduktion hat das nichts zu tun, dann müssten hier überhaupt erst mal so etwas wie "Modelle" von Piketty angeführt werden (was er unterlässt, aus welchem Grund auch immer).

Diese Aussage von Piketty ist auch eine andere Liga als die Frage der üblicherweise angenommenen Kausalitäten von APS oder komplementär APC in Wachstums- oder Gleichgewichtsmodellen, etwa Auswirkungen auf Kapitalakkumulation im Solow-Modell, Investitionsraten, Staatsausgaben, Wechselkurse, Beschäftigung oder andererseits Aspekte der politischen Ökonomie oder Fiskalökonomie/Steuerpolitik auf Veränderungen der APS.

Piketty nutzt hier die Sparquote als Kontext und zugleich als Variable seiner nicht unterlegten Verteilungshypothesen.

In dem Sinne war es mein Anliegen, sein Zitat als heiße Luft herauszustellen, und dessen Banalität durch die Umkehrung der Wirkungskette - gleichsfalls "evident" - herauszustreichen.
Die Frage nach dem Modell ist genau der Kern der Problematik! Denn die Dinge, die Du hier verlangst, dass Piketty sie hätte beachten sollen, werden damit a priori ausgeblendet. Ich glaube, Du hast eine recht simple Sicht auf Modelle, lediglich als wohl definierte, formale Modelle. Tatsächlich scheint Piketty sein Modell nicht im Stile einer Erstsemester-Vorlesung Schritt für Schritt darzulegen. Nichtsdestotrotz hat er ein eigenes Modell und dass wird größtenteils zu deskriptiv-analytischen Zwecken genutzt. Die von Dir erwähnte umgekehrte Wirkungskette in den Blick zu nehmen hätte bedeutet, sein Modell zu verkomplizieren und sein Buch um ein weiteres Kapital zu erweitern.

Und meine Kritik an Deiner Kritik ist schlicht und ergreifend, dass Piketty mit diesem Vorgehen dem üblichen Pragmatismus von Ökonomen verhaftet bleibt. Das kann man kritisieren, führt aber zu einer Grundsatzdebatte, die m.E. geführt werden kann, aber vom titelgebenden Thema zu weit wegführt.

Auch die Annahme einer Kausalität von Sparquote zu Verteilung kann man kritisieren, doch es ist konventionelles Vorgehen, die Sparquote als Ausgangspunkt zu nehmen, auch wenn in diesem Fall die Auswirkungen auf die Ungleichheit anzusehen, eine innovative Perspektive ist. Es werden in der Forschung eben nicht nur "übliche" Annahmen über die Beziehung von Sparquote zu Investitionen, Output etc. getroffen, sondern auch über Dinge wie globale Außenhandelsungleichgewichte, die Außenhandelsstruktur etc. Eigentlich könnte man Piketty hier sogar loben, da er innovativ ist in diesem Punkt. Wo Du da eine "andere Liga" erkennen willst, erschließt sich mir nicht. Im Übrigen stimmte meine Aussage auch dann, wenn wir von einer eigenen "Liga" von Arbeiten, die über "übliche" Aussagen zur Sparquote hinausgehen, ausgehen würden, denn dann wäre es immer noch ein übliches Vorgehen in dieser Liga, die anscheinend sehr viele Spieler aufweist.

Das gleiche gilt für die sogenannte Bewertungsproblematik. Diese betrifft sämtliche Ökonomen, denn Bewertungsprobleme gibt es überall, zum Teil die gleichen, zum Teil andere, aber es ist aus Sicht begrenzter Forschungsressourcen nicht möglich, jede theoretisch sinnvolle Kombination von Bewertungsmethoden zu analysieren. Die Bewertung ist letztlich immer subjektiv und der Ökonom kann, genauso wie der Gesetzgeber, nur versuchen, einen gangbaren Mix von Kriterien finden, der effizient und nützlich ist. Aus diesem Grund wird ja auch auf zentrale Datenbanken zurückgegriffen, anstatt das jeder sich die Daten selbst zusammensammelt und bewertet. Viel schwerer sollte wiegen, dass ihm Fehler oder gar "kreative" Manipulation der Daten vorgeworfen wird.

Auch hier bringst Du sehr viel Geduld und Nachsicht im Gepäck. :winke:
Der entscheidende Punkt, eine empirische und nicht funktionale Aussage, ist dieser:

Ich glaube, hier hast Du etwas grundsätzlich missverstanden. Meine Bemerkung bezog sich auf folgende von Dir zitierte Aussage Piketty's:
"Lange Zeit besagte die unter Ökonomen am weitesten verbreitete These, die ein wenig zu schnell Eingang in die Lehrbücher fand, dass die Verteilung des Nationaleinkommens auf Kapital und Arbeit langfristig sehr stabil gewesen sei und im Allgemeinen bei einem Drittel/zwei Drittel lag. ... Aufgrund des historischen Abstands und neuer Daten werden wir zeigen können, dass die Wirklichkeit viel komplexer ist."

Du hast das wie folgt kommentiert:
Erst wird eine abstruse These entwickelt, die in die Nähe naturgesetzlicher Vorgänge gerückt wird, das Ganze ohne Zitat. Dann wird Widerlegung angekündigt.

Piketty kritisiert hier die Ökonomenzunft, die tatsächlich die 2/3 zu 1/3-Annahme fest in ihr Repertoire aufgenommen hatte. Er versucht dies zu widerlegen! Dass diese Relation Unfug ist, wie behauptet, würden Generationen von Ökonomen vehement ablehnen! Ich kenne kein Textbuch, angefangen mit dem berühmten Mankiw, in dem diese Relation nicht angewendet oder zumindest erwähnt würde. Ich habe allein hier bei mir zuhause zig Artikel in denen sie unterstellt wird. Wenn Du bei Acemoglu mal einen Blick auf S.59 wirfst, wirst Du sehen, warum man diese Annahme trifft. Tatsächlich waren die Anteile lange Zeit relativ konstant bzw. bewegten sich in einem bestimmten Korridor, sodass man kleine Änderungen ignorieren konnte. Das gleiche gilt im Übrigen auch für die Sparquote und auch für andere kapitalistische Länder, wo relativ lange, ziemlich konstante Werte gemessen wurden.

Auch ist mir nicht klar, was dieser "bemerkenswerte Vorgang" Vorgang sein soll? Meinst Du, es sei bemerkenswert, dass Rezensenten unklare und nicht explizite Prämissen durch eigene Annahmen substituieren?
 
Und meine Kritik an Deiner Kritik ist schlicht und ergreifend, dass Piketty mit diesem Vorgehen dem üblichen Pragmatismus von Ökonomen verhaftet bleibt.
"Pragmatismus von Ökonomen"? Ich arbeite seit 25 Jahren in der wirtschaftspolitischen Beratung. Dieser Faden war ein willkommener Anlaß, mich mal wieder an das universitäre VWL-Studium zu erinnern - gebraucht habe ich es nämlich in den letzten 25 Jahren nicht!
Will sagen: Ob Cobb-Douglas, Gleichgewichtsmodelle, keynesianistische Ansätze - das alles ist kilometerweit von der Praxis entfernt. Da wird so weit übersimplifiziert, daß es für die Ableitung von Handlungsoptionen kaum noch brauchbar ist. Wie schon Keynes sagte "On the long run, we are [in the equilibrium, but] all dead!"
Es gibt, empirisch feststellbar, die Phänomene der zunehmenden Vermögens- und Einkommenskonzentration. Ihrer Genese lohnt es sich nachzuspüren. Primär - da bin ich bei silesia - mit empirisch-ökonometrischen Methoden. Gibt es länder-/ zeitübergreifende Muster? Welche Faktoren (Geld-/ Fiskalpolitik, Außenwirtschaft, Markteffizienz/ Konzentration, Bildung etc.) zeigen sich als signifikant? Wenn soweit eine tragfähige, empirisch gesicherte Basis geschaffen wurde, dann - und nur dann - macht anschließende Theoriebildung Sinn. So Piketty dies getan hat, lohnt Beschäftigung mit seinen Analysen.
Einen deduktiven Ansatz, der in einem übersimplifizierten Modell mit ein paar Parametern rumspielt, hatten wir schon diverse Male - ich erinnere nur an das marxistische Gesetz der sinkenden Kapitalrendite, das turnusmäßige Kapitalvernichtung durch Krieg fordert. Was hier über Piketty berichtet wurde, geht, bei anderem Erkenntnisinteresse, methodisch in die selbe Richtung und führt zu ähnlich tragfähigen Ergebnissen.
 
"Pragmatismus von Ökonomen"? Ich arbeite seit 25 Jahren in der wirtschaftspolitischen Beratung. Dieser Faden war ein willkommener Anlaß, mich mal wieder an das universitäre VWL-Studium zu erinnern - gebraucht habe ich es nämlich in den letzten 25 Jahren nicht!
Will sagen: Ob Cobb-Douglas, Gleichgewichtsmodelle, keynesianistische Ansätze - das alles ist kilometerweit von der Praxis entfernt. Da wird so weit übersimplifiziert, daß es für die Ableitung von Handlungsoptionen kaum noch brauchbar ist. Wie schon Keynes sagte "On the long run, we are [in the equilibrium, but] all dead!"
Es gibt, empirisch feststellbar, die Phänomene der zunehmenden Vermögens- und Einkommenskonzentration. Ihrer Genese lohnt es sich nachzuspüren. Primär - da bin ich bei silesia - mit empirisch-ökonometrischen Methoden. Gibt es länder-/ zeitübergreifende Muster? Welche Faktoren (Geld-/ Fiskalpolitik, Außenwirtschaft, Markteffizienz/ Konzentration, Bildung etc.) zeigen sich als signifikant? Wenn soweit eine tragfähige, empirisch gesicherte Basis geschaffen wurde, dann - und nur dann - macht anschließende Theoriebildung Sinn. So Piketty dies getan hat, lohnt Beschäftigung mit seinen Analysen.
Einen deduktiven Ansatz, der in einem übersimplifizierten Modell mit ein paar Parametern rumspielt, hatten wir schon diverse Male - ich erinnere nur an das marxistische Gesetz der sinkenden Kapitalrendite, das turnusmäßige Kapitalvernichtung durch Krieg fordert. Was hier über Piketty berichtet wurde, geht, bei anderem Erkenntnisinteresse, methodisch in die selbe Richtung und führt zu ähnlich tragfähigen Ergebnissen.

Und dennoch ist die akademische Ökonomik eben anders gestrickt. Wie ich bereits schrieb, man kann das alles kritisieren, aber dann müssen wir über allgemeine Probleme der VWL sprechen. Ob sich die Beschäftigung mit Piketty lohnt, dass hat die Forschung längst entschieden; Piketty ist in aller Munde. Es gab gefühlt mehr Rezensionen zu Piketty, als zu jedem anderen ökonomischen Buch, das in den letzten Jahren erschienen ist, sogar aus den Geisteswissenschaften. Du bist nicht der erste Praktiker, der mir erzählt, dass Gleichgewichtsmodelle und Cobb-Douglass wenig praktische Relevanz haben; und dennoch kommen sie in der Forschung weiterhin vor. Daher bleibe ich dabei, was Piketty macht, ist pragmatisch in dem Sinne, dass es akademische Praxis ist.

Ich habe einen wunderschönen Sammelband von Paul Krugman zu strategischer Handelspolitik, der angesichts des japanischen Wirtschaftserfolges und deren Industriepolitik, verfasst wurde. Darin diskutieren die Autoren, auf rein theoretischer Ebene und ausschließlich innerhalb des neoklassischen Paradigmas, dass unter einer Fülle bestimmter Annahmen, Zölle gewisse Einflüsse auf Konsumentenrenten und Produzentenrenten haben könnten. Das ist die Realität in der VWL-Forschung. Deine Forderung, zuerst die Empirie und dann die Theorie ist zwar schön, aber entspricht nicht unbedingt dem üblichen Vorgehen. Deine Aussage, wir hatten solche Ansätze schon "diverse Male" gehabt, ist ein understatement.

Natürlich bin ich noch mitten drin und kann aus der Erfahrung ökonomischer Vorlesungen und Seminare an Universitäten im In- und Ausland schöpfen, weshalb ich nachvollziehen kann warum Piketty vorgegangen ist, wie er eben vorgegangen ist. Ich weiß nicht, wie es bei Dir vor 25 Jahren war, aber die Forderung von Joseph Schumpeter, nach einer soliden empirischen, an der Wirtschaftsgeschichte und der Dogmengeschichte ausgerichteten Ausbildung, erfüllt sich in VWL-Studiengängen heutzutage nicht. Es fängt an mit Theorie, es geht weiter mit Statistik und hört wieder mit Theorie auf! "Publish or Perish", das ist die knallharte Realität für Ökonomen, mehr, als für die meisten anderen Wissenschaften. Es gibt, es sei mir verziehen, Rankings für jeden Sch*iss in der VWL. Ich gebe dir vollkommen recht, dass die Übersimplifizierung in der Ökonomik eines der Hauptprobleme ist, vor allem, da sie zusammen mit einem geradezu übergroßen Selbstbewusstsein in die Validität der eigenen Ergebnisse gekoppelt ist, was dazu führt, das regelmäßig übermäßige Schlussfolgerungen gezogen werden, die sich aus dem empirischen Teil einer Arbeit nicht ergeben. Das muss sich auch Piketty ankreiden lassen, aber wie gesagt, da ist er halt zu sehr Ökonom, um es anders zu machen. [Ich verallgemeinere jetzt sehr, um meinen Punkt zu machen, es gibt natürlich auch zahlreiche andere Aufsätze und Bücher, wo dieses Problem nicht besteht.] Aber daher gibt es ja nun auch seit einigen Jahren eine immer lauter werdende Bewegung, insbesondere von Studenten und jungen Wissenschaftlern, die auf der ganzen Welt Gruppen gründen, um eine praxisnahe, plurale und nicht-ideologische VWL zu fordern (zu deren Veranstaltungen in meiner Nähe ich gerne gehe!).
 
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Auch hier bringst Du sehr viel Geduld und Nachsicht im Gepäck. :winke:

Aber sicher, ich studiere Geschichte und VWL und was glaubst du, wie oft ich in einer VWL-Veranstaltung sitze und die Faust in der Tasche balle, angesichts des historischen Blödsinns, den ich mir leider allzuoft anhören musste. Vor allem habe ich Adam Smiths Wealth of Nations ganz gelesen... Nach einigen Jahren VWL kann ich mich aber ganz gut in die Gedankenwelt der Ökonomen hineindenken. Und daher denke ich einfach, es ist sinnvoller, Piketty aus sich heraus zu kritisieren, als aus einer Position, die einen großen Teil der akademischen VWL infrage stellen muss. Ich habe dir ja zugestimmt, dass Piketty bspw. seine Begriffe nicht im Griff hat, genauso wie seine Annhame, dass eine vollständige Substitutionelastizität zwischen Arbeit und Kapital besteht, oder seine Ausblendung von Institutionen problembehaftet sind.

Allerdings wäre ich einer allgemeinen Diskussion über Ökonomik und Geschichte auch nicht abgeneigt, wenn das gewünscht sein sollte. Da dieser Thread hier aber von Piketty handelt, würde ich mich hier eben ungern auf solche grundlegende Kritik einlassen.
 
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Ich hoffe, das geht jetzt nicht zu weit OT.
Ich weiß nicht, wie es bei Dir vor 25 Jahren war, aber die Forderung von Joseph Schumpeter, nach einer soliden empirischen, an der Wirtschaftsgeschichte und der Dogmengeschichte ausgerichteten Ausbildung, erfüllt sich in VWL-Studiengängen heutzutage nicht.
Leider wars bei mir auch nicht anders - schade, daß sich immer noch nichts geändert hat. Wir haben in unserer Arbeitsgruppe spaßeshalber überlegt, welchen Effekt eine Erhöhung der Höchstgeschwindigkeit auf 70 km/h vor Altenheimen auf Investitionsgütermärkte (Autos), Sparquote, Staatsquote (Rentenausgaben) etc. hätte, und welche neuen Gleichgewichte sich bilden würden. Manches wird nur durch ein gesundes Maß Zynismus erträglich...
Einzige Ausnahme war Geld- und Währungspolitik - die wären ohne Empirie von allen Bankern ausgelacht worden. Da wurde es dann interessant, mit Portfolioansätzen, Risk-return-ratios etc., was tief in die Entscheidungstheorie und letztendlich auch die Psychologie hineinreicht, und das Verständnis für andere Kulturen schärft.
Ein Schulfreund von mir, allerdings Agrarökonom, hat in seiner Doktorarbeit scheinbar "irrationales" Verhalten im Sahel auf aus niedriger Risikotragfähigkeit und hoher Risikoaversität herrührende intuitive Anwendung eines internen Zinssatzes von ca. 40% bei Investitionsentscheidungen zurückgeführt. Risikoreduzierung, u.a. durch Erhöhung von Markttransparenz, ist in meinem Berufsfeld, der Entwicklungszusammenarbeit, ein Kernansatz. Da kommt man schnell zur Frage, warum Märkte nicht so funktionieren, wie sie es theoretisch sollten, und stößt immer wieder auf ungleich verteilte Marktmacht, bei der gerne auch der lokale Polizei- oder Armeechef seine "unsichtbare Hand" im Spiel hat, vom Minsterium für xyz ganz zu schweigen. Wenn man den Ansatz weiter verfolgt, kommt man in vielen Ländern vielleicht auch dem Rätsel der sich immer weiter öffnenden Einkommens- und Vermögensschere auf den Grund.
Hier eines der Papiere, die aus meiner Sicht intensive Diskussion in der VWL verdienen:
https://repository.library.georgeto...0/Mehen_georgetown_0076M_12119.pdf?sequence=1
Regression analysis results on the sample of 126 countries support the hypothesis of a positive correlation between income inequality and corruption.
 
Die Kritik richtete sich nicht auf die Frage, ob etwa Sparquoten exogen über gleichgewichtigen Konsum im Solow-Modell oder endogen aus Nutzenfunktionen der Wirtschaftssubjekte zB im Ramsey–Cass–Koopmans Modell beschrieben werden.

Mir ging es - wie Pikettys Anliegen empirisch gedeutet werden muss - darum, dass ohne Hinweis auf Modellgrundlagen oder ökonometrische Nachweise eine Wirkungskette von Sparquote auf Vermögensungleichheiten behauptet wird, und die umgekehrte Wirkungskette ausgeblendet wird. Mit einer Modellkonkurrenz oder Komplexitätsreduktion hat das nichts zu tun, dann müssten hier überhaupt erst mal so etwas wie "Modelle" von Piketty angeführt werden (was er unterlässt, aus welchem Grund auch immer).

Die Diskussion über Pikettys "Modellgrundlagen" und ihre empirische Fundierung ist leider damals stecken geblieben.

Inzwischen gibt es weitere Länderanalysen von Piketty, sehr interessant hier die Untersuchungen zur USA 1913-2014.
Distributional National Accounts: Methods and Estimates for the United States
Distributional National Accounts: Methods and Estimates for the United States

Zur Kritik:

Sehr interessant sind De Bonis umfangreiche Klarstellungen:
https://ideas.repec.org/p/anc/wmofir/130.html
What Piketty said in Capital in the Twenty-first Century and how economists reacted

Komprimiert Homburgs Anmerkungen:
Critical Remarks on Piketty’s ‘Capital in the Twenty-first Century’
Hannover Economic Papers:
EconPapers: Critical Remarks on Piketty's 'Capital in the Twenty-first Century'

Und auf die sehr gute Analyse von Krusell/Smith von der Yale University ist schon hingewiesen worden:
Is Piketty’s “Second Law of Capitalism” Fundamental?
Piketty?s ?Second Law of Capitalism? vs. standard macro theory | VOX, CEPR?s Policy Portal

Milder bewerten solche, die schnell über die theoretische Fundierung wegspringen und diese zukünftigen Analysen überlassen:
http://ejpe.org/pdf/8-2-art-2.pdf
Methodology in Capital in the twenty-first century: a “new-historical” approach to political economy
Interessant, wie Petach einigen Kapazitäten Konfusion und Fehlinterpretation nachzuweisen meint.:D


_______________________
Als Abschluss/OT eine historisch interessante Analyse eines Piketty-Schülers zu Marokko, im Kontext des Imperialismus und der beiden Marokko-Krisen:
Barbe, Public debt and European expansionism in Morocco From 1860 to 1956
When France Used the Public Debt to Colonise Morocco
 
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