Geschichte und Identität

El Quijote

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Dass Geschichte Identität bedeutet, scheint eine ausgemachte Sache zu sein. Doch warum ist das so? Und stimmt das überhaupt?

Zumindest wird Geschichte immer wieder manipuliert, um sie als Argument zu missbrauchen. Am offensichtlichsten ist das meistens bei Nationalisten, die sich am liebsten auf (angebliche) Belege über die lange Anwesenheit des eigenen Volkes in einem bestimmten Gebiet stützen. Dieses Argument ist relativ eingängig. Man denke an den Makedonismusstreit zwischen Griechenland und Mazedonien, den Panillyrismus, den Assyrismus oder den Phönizianismus oder auch an die Legitimation für den "Lebensraum im Osten".

Aber es gibt auch andere Formen der Geschichtsmanipulation aus politischen Zwecken zur Identitätsbildung. Ganz krass war der Versuch der Nazis, den Polen ihre Geschichte zu nehmen. Nicht weniger krass sind die Zerstörungen der Buddhas von Bamyan durch die Taliban (wobei hier womöglich auch einfach die Regel, dass man sich kein Bild von lebenden Wesen machen solle radikal umgesetzt wurde) oder, die nicht mehr durch den Islam zu rechtfertigenden Sprengungen der historischen Stätten in Syrien und dem Iraq. Hier spielen nehmen Wegnahme der historischen Identität natürlich auch noch weitere Beweggründe eine Rolle, wie die Verknappung historischer Güter, um bewegliche Antiquitäten im Wert zu steigern und die propagandistische Provokation des Westens: "Seht her, ihr könnt uns nicht aufhalten" und "seht her, der Westen ist durch Zerstörungen von Ruinenfeldern mehr geschockt als durch das Leid der Menschen."
Aber auch im Europa des 21. Jhdts. finden wir historische Manipulationen, die politisch bedeutsam sind: In Katalonien haben vor einigen Jahren, von Tierschützern gefeiert, die Stierkämpfe ihr Ende erlebt. Das war allerdings kein Sieg des Tierschutzes (man kann sogar darüber streiten, ob aus tierschützerischen Gründen die Aufgabe der Corrida überhaupt sinnvoll oder nicht das Gegenteil der Fall ist) sondern die Motivation den Stierkampf abzuschaffen war aus der Idee geboren, dass der Stierkampf ein Teil der spanischen Identität sei und nichts mit Katalonien zu tun habe. Hier haben sich die Katalanen von ihrer eigenen Geschichte aus Gründen des Separatismus abgeschnitten.

In der Schulpolitik wird Geschichte als Teil der Identitätsbildung gesehen, Nationalisten, Separatisten und Islamisten benutzen Geschichte um identitätsbildend zu wirken oder beschneiden sie, um einen Teil der Identität auszublenden oder gar ihren Opfern zu nehmen. Aber wie sehen das eigentlich die Menschen draußen im Lande? Ist denen Geschichte eigentlich wichtig? Hat Geschichte für den Otto-Normal-Bürger, der sein Selbstwertgefühl nicht aus den unterstellenten heroischen Taten eines historisch gar nicht mehr fassbaren Vorfahren zieht, überhaupt einen identitätsbildenden Moment?
 
Dass Geschichte Identität bedeutet, scheint eine ausgemachte Sache zu sein. Doch warum ist das so? Und stimmt das überhaupt?

Zumindest wird Geschichte immer wieder manipuliert, um sie als Argument zu missbrauchen. Am offensichtlichsten ist das meistens bei Nationalisten, die sich am liebsten auf (angebliche) Belege über die lange Anwesenheit des eigenen Volkes in einem bestimmten Gebiet stützen. Dieses Argument ist relativ eingängig. Man denke an den Makedonismusstreit zwischen Griechenland und Mazedonien, den Panillyrismus, den Assyrismus oder den Phönizianismus oder auch an die Legitimation für den "Lebensraum im Osten".

Aber es gibt auch andere Formen der Geschichtsmanipulation aus politischen Zwecken zur Identitätsbildung. Ganz krass war der Versuch der Nazis, den Polen ihre Geschichte zu nehmen. Nicht weniger krass sind die Zerstörungen der Buddhas von Bamyan durch die Taliban (wobei hier womöglich auch einfach die Regel, dass man sich kein Bild von lebenden Wesen machen solle radikal umgesetzt wurde) oder, die nicht mehr durch den Islam zu rechtfertigenden Sprengungen der historischen Stätten in Syrien und dem Iraq. Hier spielen nehmen Wegnahme der historischen Identität natürlich auch noch weitere Beweggründe eine Rolle, wie die Verknappung historischer Güter, um bewegliche Antiquitäten im Wert zu steigern und die propagandistische Provokation des Westens: "Seht her, ihr könnt uns nicht aufhalten" und "seht her, der Westen ist durch Zerstörungen von Ruinenfeldern mehr geschockt als durch das Leid der Menschen."
Aber auch im Europa des 21. Jhdts. finden wir historische Manipulationen, die politisch bedeutsam sind: In Katalonien haben vor einigen Jahren, von Tierschützern gefeiert, die Stierkämpfe ihr Ende erlebt. Das war allerdings kein Sieg des Tierschutzes (man kann sogar darüber streiten, ob aus tierschützerischen Gründen die Aufgabe der Corrida überhaupt sinnvoll oder nicht das Gegenteil der Fall ist) sondern die Motivation den Stierkampf abzuschaffen war aus der Idee geboren, dass der Stierkampf ein Teil der spanischen Identität sei und nichts mit Katalonien zu tun habe. Hier haben sich die Katalanen von ihrer eigenen Geschichte aus Gründen des Separatismus abgeschnitten.

In der Schulpolitik wird Geschichte als Teil der Identitätsbildung gesehen, Nationalisten, Separatisten und Islamisten benutzen Geschichte um identitätsbildend zu wirken oder beschneiden sie, um einen Teil der Identität auszublenden oder gar ihren Opfern zu nehmen. Aber wie sehen das eigentlich die Menschen draußen im Lande? Ist denen Geschichte eigentlich wichtig? Hat Geschichte für den Otto-Normal-Bürger, der sein Selbstwertgefühl nicht aus den unterstellenten heroischen Taten eines historisch gar nicht mehr fassbaren Vorfahren zieht, überhaupt einen identitätsbildenden Moment?

Eine interessante Frage! Ich fürchte für "Otto-Normalbürger" hat Geschichte keinen hohen Stellenwert und erst recht gibt es kein kollektives historisches Bewusstsein keinen Nationalfeiertag wie den 4. Juli in den USA oder den 14. Juli in Frankreich.

Eine Geschichtsdokumentation formulierte das so:

"Die Mitte Europas im 2. Jahrtausend. Ein Land, das lange brauchte, um eins zu werden. Menschen, die sich erst im Lauf der Jahrhunderte als deutsch verstehen. Wer sind wir, woher kommen wir?"

Womit und mit wem sollte sich Otto-Normalbürger identifizieren?

Mit Martin Luther? Die Hälfte der Deutschen ist katholisch oder glaubt gar nichts mehr.

Goethe, Schiller, Hölderlin und Heine, Nietzsche, Remarque,Tucholsky,Thomas Mann, Herman Hesse? Es gibt Redewendungen wie "das ist des Pudels Kern", "dem Manne kann geholfen werden", gehst du zum Weibe, vergiss die Peitsche nicht", aber die Mehrheit dürfte damit wenig anfangen können, und die Werke der besten Autoren wurden 1933 verbrannt.

Friedrich der Große, Bismarck und Moltke?- Preußen ist dahin, ob das ein großes Unglück ist, darüber ließe sich streiten. Was soll Otto-Normalbürger mit denen anfangen, sofern er sie kennt?


Karl Marx? Taugt wohl auch nicht so recht, die meisten Otto-Normalbürger, die ihn als Identifikationsfigur staatlich aufgedrückt bekamen haben davon die Nase voll davon- und kann man es ihnen verdenken?

Einen Österreicher, der sich als Deutscher fühlte, den kennt wirklich jeder, und es gibt gar nicht so wenige, die sich mit ihm identifizieren können, aber öffentlich sagen darf man es nicht.


Vor ein paar Jahren waren "wir" Papst, und Benedikt XVI. konnte wie Mario Barth ein Stadion füllen- aber das ist heute nur noch peinlich. Siehe oben die Hälfte Deutschlands ist protestantisch oder glaubt gar nichts mehr. Ratzinger hinterließ einen Trümmerhaufen und eine Kirche, die von Skandalen erschüttert wurde und ein riesiges Glaubwürdigkeitsproblem hat.


Was ist mit Adenauer und Erhard? So recht taugen die auch nicht mehr, dass Wirtschaftswunder ist passe´ und kommt so wenig wieder wie der Österreicher, den jeder kennt. Preußen ist dahin, aber noch gibt es Borussia und Schalke 04 und den FC Bayern.

Sepp Herberger und Rahn, der Mann mit der Mütze und Beckenbauer, Hoeneß, Rummenigge- die bleiben uns. Nach 1954, 1974, 1990 sind "wir" wieder Weltmeister und Otto Normalbürger hat seine Helden nicht vergessen, auch wenn Uli Hoeneß im Kittchen sitzt und Rummenigge und "der Kaiser" stark an Prestige eingebüßt haben. :cry:

Vor etlichen Jahren hatten einige Dieter Bohlen neben Luther und Adenauer zu den größten Deutschen gezählt. Der bleibt erhalten und sitzt mit Heino einem anderen Vertreter deutschen Lied(un)gutes seit gefühlten 1000 Jahren in irgendwelchen Jurys- seien wir froh, dass Otto Normalbürger wenigstens noch diese Identifikationsfiguren erhalten blieben. :devil:
 
Ich glaube, dass man das nicht ganz genau an bestimmten Personen festmachen kann, sondern eher an der historischen Rolle der verschiedenen Nationen.

Beispiel Deutschland:
In gewisser Weise hat sich "Deutschland" immer als Großmacht innerhalb Europas und der Welt verstanden, da es dass in der Geschichte immerhin fast immer auch war, somit konnte mit dieser historischen geprägten Identität Stimmung gemacht werden, falls Regierende meinten, dass Deutschland mehr Macht bräuchte.

Die USA hatte die Rolle des Befreiers angenommen. Erst hat man sich von Europa befreit, dann von Sklaverei, Monarchie, etc. etc. und heutzutage hat man diese Identität so eingespeichert, dass Waffengesetze nicht beschlossen werden und andere Länder - in den Augen der USA - befreit werden.
Russland läuft ähnlich.

Es kommt auch - finde ich - weniger darauf, wie die historische Abläufe wirklich waren. Sondern die Identität wird eher aus populistischer Geschichte gebildet. Das heißt: aus plumpen Stereotypen, vereinfachten Zusammenhänge, simple Feindbildern.
 
...Aber wie sehen das eigentlich die Menschen draußen im Lande?....
Also ich wohn wirklich "draußen im Lande", bin in einer einigermaßen intakten bäuerlichen Umgebung aufgewachsen und hab zu meinem Erstaunen gelernt dass die Bauern ein unglaubliches Wissen über lokale Geschichte mündlich tradieren; von der großen Geschichte wissen sie nur dass es früher den Kaiser gegeben hat und danach den Hitler, das interessiert sie nicht, aber wer wann wo einen Acker gekauft hat, das wissen sie über 100, 150 Jahre zurück.
 
Die USA hatte die Rolle des Befreiers angenommen. Erst hat man sich von Europa befreit, dann von Sklaverei, Monarchie, etc. etc. und heutzutage hat man diese Identität so eingespeichert, dass Waffengesetze nicht beschlossen werden und andere Länder - in den Augen der USA - befreit werden.
Russland läuft ähnlich.

Es kommt auch - finde ich - weniger darauf, wie die historische Abläufe wirklich waren. Sondern die Identität wird eher aus populistischer Geschichte gebildet. Das heißt: aus plumpen Stereotypen, vereinfachten Zusammenhänge, simple Feindbildern.

Zumindest wurde und wird häufig versucht, Erinnerungskultur in staatliche Dienste einzuspannen und sich die Deutungshoheit für historische Ereignisse zu sichern, besonders wenn es darum geht, ein Freund-Feind Schema zu konservieren. Ob das aber immer gelingt, ist eine andere Frage.

In Großbritannien, aber auch in Staaten des Commonwealth ist die Erinnerungskultur des 1. Weltkriegs sehr lebendig geblieben, was auch auf Frankreich zutrifft, während in Deutschland die Erinnerung an den 2.Weltkrieg und die Shoah die des 1. Weltkriegs total überlagert hat, so dass der 1. Weltkrieg im Geschichtsbewusstsein der meisten Deutschen nur eine minimale Rolle spielt.

Mein (subjektiver) Eindruck ist, dass die Erinnerungskultur des 1. Weltkriegs in Großbritannien fast noch stärker ist, als die des 2. Weltkriegs. Ich war bei meinem ersten Besuchen in Belgien überrascht, wie viele Touristen aus GB, Australien, Kanada und Neuseeland nach Belgien fahren, nur um sich die Schlachtfelder des 1. Weltkriegs anzusehen, Kriegsgräber zu pflegen oder nach Familienangehörigen zu fahnden, die dort gekämpft haben oder gefallen sind. In Ieper sind fast alle Straßen nach britischen Generalen benannt. Das in der ehemaligen Lakenhalle untergebrachte Museum trägt den Namen Flanders Field nach einem in GB und den ehemaligen Dominions sehr bekannten Gedicht von Charles MCCrae. (In Flander´s field the poppies grow....) Gedichte von Wilfried Owen, Siegfried Sasoon und Robert Graves kennen sehr viele Briten. Am Menentor findet täglich ein Zapfenstreich statt. Was mir damals noch neu war, ist dass das öffentliche Verbrennen von Klatschmohnblüten ein Straftatbestand ist wie bei uns die Leugnung des Holocausts.

Es gibt zahlreiche Organisationen, die genealogische Forschung nach Kriegsveteranen betreiben und Webseiten, die sich dem 1. Weltkrieg widmen. Dass dabei antideutsche Vorurteile gepflegt würden, konnte ich überhaupt nicht feststellen. Es gibt eine Reihe von sehr gut recherchierten und durchaus um historische Objektivität bemühten Beiträgen, auch und gerade von Laien. Eher machte ich die Erfahrung, dass ich die für meinen Geschmack ein wenig zu panegyrische Begeisterung für Hindenburg, Ludendorff und den Roten Baron ein wenig dämpfen musste.

Ein sehr freundlicher Australier, den ich in Ieper kennenlernte (er verabscheute Douglas Haig fast noch mehr, als Hitler, der 1918 bei Werwiq von einer Gelbkreuzgranate geblendet wurde), war geradezu entsetzt, als ich ich den Roten Baron einen unreifen Schnösel nannte, dessen größte Freude es war, seine meist wehrlosen Gegner brennend abstürzen zu lassen.
 
„Die Geschichte lehrt dauernd, findet aber keine Schüler“.<?xml:namespace prefix = "o" ns = "urn:schemas-microsoft-com:eek:ffice:eek:ffice" /><o:p></o:p>
Ingeborg Bachmann (1926 – 1973 – 47. Jahre, dieser Tage war ihr 42. Todestag).<o:p></o:p>

Na ja, vielleicht etwas zu viel Pessimismus, zu Hoffnungslos.<o:p></o:p>

Ich unterscheide da:<o:p></o:p>
· Was lehrt die Geschichte den Einzelnen,<o:p></o:p>
· Was lehrt die Geschichte einer Partei, oder einer Massenorganisation,<o:p></o:p>
· Was lehrt die Geschichte aus irgendwelchen Situationen heraus entstehenden Bewegungen,<o:p></o:p>
· Was lehrt die Geschichte den gewählten Repräsentanten eines Staates. <o:p></o:p>

Und schließlich und letztendlich, wer lehrt/vermittelt Geschichte (Interpretationsproblematik) und auf welche Quellen wird da zurückgegriffen, welche Quellen werden benutzt.<o:p></o:p>

Was den Einzelnen betrifft...<o:p></o:p>

Bei so manchen den ich kenne lehrt eben die Geschichte > Nichts <.<o:p></o:p>

Andere wiederum die ich kenne, denen lehrt die Geschichte sehr viel.<o:p></o:p>

Möglicherweise ist dies nicht nur eine Bildungssache, vielleicht auch eine Charaktersache.<o:p></o:p>
Charaktersache, dh. wie man mit den Lehren der Geschichte umgeht, was dann das Denken und Handeln mitbestimmt.<o:p></o:p>
Es kommt eben aus meiner Sicht auf das „wie“ an.<o:p></o:p>
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Zuletzt bearbeitet:
'-Dass Geschichte Identität bedeutet, scheint eine ausgemachte Sache zu sein. Doch warum ist das so? Und stimmt das überhaupt? -'

„Identität“ meint hier eine Gemeinsame Identität als Bindemittel für die Organisierbarkeit großer Gruppen. (Sag ich mal so ...)
Inwiefern hier „Geschichte“ eine Rolle spielt?
Das ist eine wirklich interessante Frage..

Gibt es so etwas wie ein kollektives Gedächtnis, welches, auch ohne eigene Geschichtskenntnisse der Individuen, eine große Gruppe verbindet?
Welchen Stellenwert haben gemeinsame Mythen?
Steigert die Beschäftigung mit Geschichte das Identitätsempfinden bezüglich der Gruppen denen man zugehörig ist;
und wie schaut dann eine solche aus?
Welche Bindungskraft entfaltet Geschichte, wenn deren zeitliche Abfolge sich verkürzt?

'- Was ist mit Adenauer und Erhard? So recht taugen die auch nicht mehr, dass Wirtschaftswunder ist passe´ und kommt so wenig wieder wie der Österreicher, den jeder kennt. -'
Was den Letztgenannten angeht, so könnte ein gemeinsames Erkennen des bösen Großvaters durchaus verbinden.
Indes steht auch stets allen nur erdenklichen Wahrnehmung die Tür zur Verbreitung grundsätzlich, mal mehr oder minder, weit offen. (Auch der, dass das Wirtschaftswunder „passé“ sei.:D)

'-· Was lehrt die Geschichte den gewählten Repräsentanten eines Staates. -'
.. und den nicht “gewählten“ ..;)
 
Ich meine, wer nicht weiß, wo er herkommt, weiß nicht, wer er ist. Und dann fehlt ihm was.

Das gilt für jedes Individuum. Wer nicht genug über seine Eltern und seine Kindheit weiß oder wissen will, sollte eine Psychotherapie machen, weil er sonst ohne Orientierung durch sein weiteres Leben irrt.

Auch sollte der Homo Sapiens etwas über seine biologische Stammesgeschichte wissen, damit er weiß, was er ist und wie er es wurde. Leider ist dieses Wissen verpönt und wird durch den Behaviorismus ersetzt, die Ideologie, dass jeder Mensch als "weißes Blatt" zur Welt käme und erst durch die Erziehung geprägt würde, also rein rational handelt, keine Instinkte oder ererbten Handlungsimpulse hätte. Vielleicht hat diese Verdrängung der Geschichte der eigenen Art dazu geführt, dass eigentlich die gesamte Menschheit sich einer Psychotherapie unterziehen sollte.

Zwischen der Zeitskala der Geschichte des Individuums und der der menschlichen Spezies liegt "die Geschichte", erzählt als Geschichten über Bildung von Gesellschaften und Staaten, ihr Mit- und Gegeneinander, ihr Zerfall, ihre Entwicklung, gegenseitige Verdrängung oder Vereinigung, angetrieben durch das kollektive Denken und Fühlen ihrer Mitglieder, bezeichnet als Geistesgeschichte, Glaube, Kultur und Ideologie.

Wer die Geschichte kennt und nicht verdrängt oder verleugnet, hat die Chance, als Subjekt anstatt als Objekt an ihr teilzunehmen.
 
In Großbritannien, aber auch in Staaten des Commonwealth ist die Erinnerungskultur des 1. Weltkriegs sehr lebendig geblieben, was auch auf Frankreich zutrifft, während in Deutschland die Erinnerung an den 2.Weltkrieg und die Shoah die des 1. Weltkriegs total überlagert hat, so dass der 1. Weltkrieg im Geschichtsbewusstsein der meisten Deutschen nur eine minimale Rolle spielt.

Ja, GB pflegt wirklich eine sehr militärisch ausgerichtete Erinnerungskultur. Fast jedes Regiment hat sein eigenes Regimentsmuseum (und darin wird i.d.R. Heldengeschichte geschrieben), es gibt viele Monumente zur Erinnerung an Einheiten oder an Gefallene, teilweise an recht prominenten Orten. Ich denke da etwa an das Scottish National War Memorial auf Edinburgh Castle, das von der Architektur an eine gotische Kirche erinnert oder auch an das Wallace Memorial gegenüber Stirling.
 
Ich glaube auch, dass in den Commonwealthstaaten, vor allem den Dominions, die Erinnerungskultur an den 1. Weltkrieg so stark betrieben wird, da es u.a. als wichtiger Schritt in Richtung Unabhängigkeit wahrgenommen wird. So erfolgte die Kriegserklärung der Domnions automatisch durch die Kriegserklärung Großbritanniens, während der Versailler Vertrag von den Dominions unabhängig von Großbritannien unterschrieben wurde. Gerade für Australien und Neuseeland ist das gemeinsame Korps von herausragender Bedeutung, was man auch am ANZAC Day sieht.
 
Ich glaube auch, dass in den Commonwealthstaaten, vor allem den Dominions, die Erinnerungskultur an den 1. Weltkrieg so stark betrieben wird, da es u.a. als wichtiger Schritt in Richtung Unabhängigkeit wahrgenommen wird. So erfolgte die Kriegserklärung der Domnions automatisch durch die Kriegserklärung Großbritanniens, während der Versailler Vertrag von den Dominions unabhängig von Großbritannien unterschrieben wurde. Gerade für Australien und Neuseeland ist das gemeinsame Korps von herausragender Bedeutung, was man auch am ANZAC Day sieht.
Und jetzt einen Schritt weiter auf meine Ausgangsfrage hin: Welche Bedeutung hat das - neben der offiziellen Erinnerung - für die Bevölkerung?
 
Meiner Meinung nach die Schaffung einer gemeinsamen Identität, weg von der Selbstbetrachtung als Teil des britischen Empire. Auch ein "Zusammenschweißen" der verschiedenen eingewanderten Bevölkerungsgruppen. Also eine Art Gründungsmythos.
 
Das meinte ich nicht. Das ist ja gewissermaßen die offizielle Verwendung der Geschichte zur Identitätsbildung. Ich meine eher, welche Bedeutung das für den Einzelnen hat. Fühlt sich der einzelne Australier oder Neuseeländer dadurch überhaupt angesprochen?
 
Wenn ich so über das eigene Geschichtsverstændnis der Norweger nachdenke, komme ich zu folgender Einschætzung:

Norwegen ist ein schønes Beispiel, dass ausgeprægter Nationalismus nicht zwingend militærischen Karakter haben muss. Natuerlich hat man auch seine Volkshelden, die im 2.Weltkrieg zum norweg. Widerstand gehørt haben, und das Kriegsende, das auch das Ende der dt. Besatzung bedeutete, ist auch heute noch ein Tag, an dem die Flaggen gehisst werden*.
Aber abgesehen davon ist die Erinnerungskultur eine friedliche:
Die Verfassung von Eidsvoll, die noch heute gilt; die Unionsaufløsung mit Schweden - das sind 2 markante, prægende Ereignisse, die auch heute noch wichtig sind.
Der 17.Mai (Unterzeichnung der Verfassung) ist noch heute Nationalfeiertag, und ist den Kindern gewidmet: Einen Kinderumzug gibt es in jedem noch so kleinen Dorf, und die Kinder duerfen soviel Eis, Suessigkeiten und Würstchen essen, wie sie wollen.
Die Feierlichkeiten in Oslo stehen im totalen Kontrast zum z.B. dem in Paris: Selbst des Kønigs Garde sieht in ihren Uniformen so gar nicht martialisch aus. Deren Høhepunkt an diesem Tag besteht aus einer Showeinlage wæhrend des Umzugs, die mit einem Walzer abgeschlossen wird, zu dem zuschauende Frauen aufgefordert werden.
Was fuer ein Unterschied zu Militærparaden in Paris oder Moskau!

Die Unionsaufløsung mit Schweden ist auch ein wichtiger Punkt im "kollektiven Gedæchtnis" der Norweger. Das soll sogar soweit gehen, dass allein das Wort "Union" der Europæischen Union Aversionen ausløst - und so ist das Fernbleiben Norwegens nicht mehr ganz so verwunderlich.

Ich glaube auch, dass der -fuer Aussenstehende vielfach uebertrieben gehaltene- Versuch, alles friedlich und møglichst im Konsens løsen zu wollen, mit diesen Ereignissen zu tun hat.
(Nur so ist z.B. erklærbar, dass man für 5 Mill. Einwohner 2 Schriftsprachen hat.)
Um so høher ist die Weigerung des Kønigs zu bewerten, mit den Deutschen nach dem Einmarsch in Norwegen in irgendeiner Form zusammenzuarbeiten. Das hat sicherlich viel zum Ansehen des Kønigshauses, auch heute noch, beigetragen.

Høchst interessant dazu ist die derzeitig im TV laufende Serie "Okkupert" ("Besetzt"). Szenario: Norwegen hat die NATO verlassen, und Russland besetzt das Land.

Die Nachbarn Dænemark und Schweden gelten heute auch als friedliche Nationen - obwohl beide in vergangenen Zeiten Grossmachtstatus hatten. Es wære interessant, einmal deren Geschichtsverstændnis mit dem norwegischen zu vergleichen. Dazu weiss ich leider zu wenig.

Gruss, muheijo

* Die Flaggen werden hier übrigens "andauernd" gehisst, zu den unterschiedlichsten Fest- und Feiertagen, auch Geburtstage, Beerdigungen, Weihnachten, etc. etc.
 
In Dtld. werden zum 3. Oktober auch die Fahnen gehisst und es ist schul- und für meisten auch arbeitsfrei. Und natürlich wird in den Massenkommunikationsmedien an die Bedeutung des Tages erinnert. Aber wenn man mal eine Straßenumfrage machen würde, was den Menschen der 3. Oktober bedeutet, würde man wohl ein Achselzucken ernten*. Wie ist das in Norwegen?



*Natürlich ist das Bsp. nicht optimal, da die emotionale Erinnerung an die Wende an den 9. November gebunden ist, der 9. November aber mit Ausrufung der Weimarer Republik, Hitlerputsch und Reichpogromnacht ein sehr ambivalentes Datum ist. Ich könnte auch Fragen, was den Spaniern der 12. Oktober bedeutet (Día de la Hispanidad, in Erinnerung an die entdeckung Amerikas durch Kolumbus) oder der 2. Januar (Toma de Granada, Abschluss der "Reconquista"). Ich weiß nur, dass in Granada am 2. Januar die Rechten aufmarschieren. Aber was bedeutet der Tag für die Bevölkerungsmehrheit?
 
In Dtld. werden zum 3. Oktober auch die Fahnen gehisst und es ist schul- und für meisten auch arbeitsfrei. Und natürlich wird in den Massenkommunikationsmedien an die Bedeutung des Tages erinnert. Aber wenn man mal eine Straßenumfrage machen würde, was den Menschen der 3. Oktober bedeutet, würde man wohl ein Achselzucken ernten*.

In meiner Generation (geb. 70er Jahre) ist das 3. Reich, der 2. Weltkrieg und die Folgen noch sehr präsent. Unsere Großeltern haben die Zeit als junge Menschen erlebt, diese Zeit hat sie geprägt und sie haben viel erzählt. Hinzu kommt die Präsenz des Themas in Schule und Medien. Meinem Freundeskreis sagen und bedeuten der 30. Januar 1933, der 1. September 1939 und der 8. Mai 1945 etwas. Den Mauerfall und die Wiedervereinigung haben wir direkt erlebt und es hat unser Leben im Osten entscheidend geändert. Was es Jugendlichen heute bedeutet, weiß ich nicht. Vielleicht sind es nur Daten für sie ...
 
Also ich bin Jahrgang 90 und Kind von Ost und West. Für mich persönlich und auch meine Freunde in meinem Alter ist es kein emotionaler Zeitpunkt, mit dem wir uns identifizieren. Es ist einfach nur ein Feiertag
 
Vielleicht habe ich mich etwas allgemein ausgedrückt.<?xml:namespace prefix = "o" ns = "urn:schemas-microsoft-com:eek:ffice:eek:ffice" /><o:p></o:p>
Man sehe es mir nach, es ist geschuldet der Forumsregel – Politik -.<o:p></o:p>

Was die Fahne Norwegen anbelangt...<o:p></o:p>
Ja Muheijo, da gebe ich die Recht. So habe ich immer Norwegen über die 15 Jahre erlebt seit dem ich dieses Land Besuche.<o:p></o:p>
Und da würde auch keiner aus puren Populismus in einer Fernsehsendung die Norwegische Flagge aus seiner Seitentasche des Jacketts hervorholen.<o:p></o:p>
Hier noch ein Bild zur Unterstützung Deiner Aussage (Fahne) vom Mai vorigen Jahres:<o:p></o:p>

Insel Sotra.jpg
 
..., würde man wohl ein Achselzucken ernten*. Wie ist das in Norwegen?

Der 17.Mai ist einer der beiden zentralen Termine im Leben eines Norwegers. Der andere ist Weihnachten.
Wæhrend aber Weihnachten eine familære Angelegenheit ist, und ich mir auch nicht sicher bin, ob die ursprüngliche christl. Bedeutung noch ueberall bekannt ist, ist der Nationalfeiertag eine allgemeine Angelegenheit, der man sich -von klein an- nicht entziehen kann, eben weil Kinder im Fokus sind.
Man weiss also, dass man den 17.Mai feiert, und sobald man in der Lage ist, geschichtliche Ereignisse zu begreifen, weiss man auch warum man den 17.Mai feiert.
Beim Kinderumzug marschieren alle mit, vom Kindergarten bis zu allen Schulklassen, alle sind auf den Beinen. Es sind alle, einschl. z.B. Fluechtlinge, eingeladen und es wird auch erwartet, dass man dabei ist.
Meist werden alle Feierlichkeiten nicht staatlich organisiert, sondern von Komitees, die sich aus Buergern bilden.
In unserem Dorf halten die Klassensprecher der 10.Klasse an einem Haltepunkt des Umzuges (Altersheim) eine Rede - spætestens dann also hørt man alljæhrlich um die Hintergruende des Festes.
Gleichzeitig schafft man auch eine Verbundenheit von der eigenen Region zum Staat: Waren es doch Abgesandte aus dem ganzen Land, die nach Eidsvoll reisten. Auch davon hørt man.
Ænderungen in der Tradition werden heiss diskutiert. Kann man z.B. den Gebrauch anderer Flaggen, insbesondere auch der samischen Flagge, zulassen? Da gibt es wenige, die keine Meinung haben. Ob Ja oder Nein, jedenfalls ist allen dieser Tag wichtig.
Es ist nicht einfach nur ein Tag, an dem man nicht Arbeiten muss.
Und ausserdem sollen sich die Herren in Anzug mit Schlips quælen. Das ist etwas, was der Norweger gar nicht mag; spætestens an diesem Punkt wuerde sich ein Norweger, der keine Ahnung hætte, fragen, wozu das Ganze. :D

Zum anderen scheint es auch so eine Art "Stichtag" zu sein:
Bis April, wenn man Pech hat bis Anfang Mai ist der Schnee noch nicht verschwunden. Es wird erwartet, dass die Grundstuecke und Hæuser schick gemacht werden zum 17.Mai. Manch einer hat dann Stress, das nach der Schneeschmelze wieder zu Tage getretene Laub vom Vorjahr, Gerümpel, Autowracks etc. rechtzeitig zu entsorgen, vielleicht sogar einen Anstrich am Haus zu machen.
Auch die Polizei scheint erst danach aus dem Winterschlaf zu erwachen. Kontrollen, ob man z,B. noch mit Spikesreifen fæhrt, habe ich vor dem 17.Mai noch nicht erlebt. Eigentlich sollen die nach Ostern runter.

Man kann sich als Norweger dem Rummel eigentlich nicht entziehen, selbst, wenn man in's Ausland flieht: Überall feiert man auf die gleiche Weise: "norske flagg, barnetog, is og pølser" (Norweg. Flaggen, Kinderumzug, Eis und Würstchen). Diese Tradition pflegen z.B. auch US-Amerikaner mit norweg. Vorfahren.

Summa sumarum, ueber dieses Datum weiss man Bescheid.

Gruss, muheijo
 
Der 17. Mai ist [...] eine allgemeine Angelegenheit, der man sich -von klein an- nicht entziehen kann, eben weil Kinder im Fokus sind.
Man weiss also, dass man den 17. Mai feiert, und sobald man in der Lage ist, geschichtliche Ereignisse zu begreifen, weiss man auch warum man den 17. Mai feiert. Beim Kinderumzug marschieren alle mit, vom Kindergarten bis zu allen Schulklassen, alle sind auf den Beinen.
Man weiß auch, warum man in Dtld. den 3. Oktober feiert. Aber im Grunde genommen ist das doch - Vorsicht, Behauptung! - für den überwiegenden Teil der Bevölkerung nur ein willkommener Anlass zum Ausschlafen. Dass man am 17. Mai die Kinder in den Mittelpunkt der Feierlichkeiten stellt, führt ja nicht zwingend dahin, dass das Fest eine identitätsbildende Bedeutung hat.


In unserem Dorf halten die Klassensprecher der 10.Klasse an einem Haltepunkt des Umzuges (Altersheim) eine Rede - spætestens dann also hørt man alljæhrlich um die Hintergruende des Festes.

Naja... die FDJler mussten ja auch Reden zum Klassenstandpunkt oder zu den Errungenschaften der SU bzw. DDR halten. Letztendlich war das aber nicht viel mehr als eine staatlich abverlangte Pflichtübung, der man nachkam, weil man eh keine große Wahl hatte, und nachdem das blaue Hemd abgelegt war, hatte man auch schon wieder vergessen, was man eine halbe Stunde vorher noch über die historischen Leistungen der Arbeiterklasse den Parteipublikationen nachreferiert hatte.

:fs::D
 
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