Liman-von-Sanders-Krise und die Dardanellen. (..Ein Versuch)

Die Deutschen, genauer die Deutsche Bank besaßen ursprünglich eine Vorkonzession für Mesopotamien. Nach Probebohrungen verlangte man eine 60jährige Konzession, statt der eigentlich vorgesehenen 40 Jahre. Das war unverschämt. Die Osmanen waren sauer und betrachten fortan die Vorkonzession als verfallen. Das war 1907.
...

Danke Turgot für die Antwort.
Hast Du einen Buchtip dazu?

Grüße hatl
 
....
Ohne thanepowers Antwort vorweg nehmen zu möchten, so fällt doch in allen Dokumenten-Editionen GB, Dt. Reich, Frankreich und Ö.-U./Ö.s zum I. Weltkrieg und seiner Vorgeschichte eklatant auf, WIE deutlich die Regierungen der Großmächte untereinander in den beiden Blöcken von einem latenten Misstrauen und Argwohn bis zur Angst "getrieben" waren, der "Block-Partner" könnte sich mit einem Gegenüber im anderen Block verständigen und damit die eigene Isolation oder gar Angreifbarkeit eintreten können.

Da banden sich Regierungen an die Bündnispartner in riskanten Situationen, nur um ja nicht als "unzuverlässig" und ersetzbar zu gelten oder eine Verständigung zwischen den Konfliktparteien zu ermöglichen, bei der man nicht mit "im Boot" säße oder mitreden könne.

Allein, was an Gerüchten, Spekulationen oder Zeitungsberichten über eine mögliche Verständigung oder gar einen Geheimvertrag usw. in den Dokumentenbänden wieder gegeben wird, unterstreicht das nochmals - und Vieles wurde als "Anzeichen" gedeutet, was uns nur als hanebüchene Spekulation erscheinen mag und kann.
.....
(letzte Hervorhebung durch mich)

Was ich mich frage:
Waren 'Geheimverträge' in dieser Zeit, im Vergleich zum Jetzt, üblicher?
Und wie steht es dabei um das Vorher?
 
Hallo Turgot,

Du schreibst:
Warum sollte Konstantinopel einlenken? Weil die italienische Marine ein paar altersschwache bombardiert hat?

Weil das türkische Regime keinerlei Verbündete im Krieg mit Italien hatte, die Großmächte ringsum die türkische Regierung zu einem Waffenstillstand/Friedensschluss/Nachgeben drängten und italienische Marine sowohl in der Levante wie im Roten Meer im Januar/Februar 1912 etliche türkische Marine-Wasserfahrzeuge zerstört hatte. Gleichzeitig war das Osmanische Reich im Jemen in einen weiteren Krieg/Aufstand verwickelt.

Und deswegen hatte wahrscheinlich nicht nur aus Sasonows Sicht sein Plan einige Plausibilität.

O.T.: Danke für die Erklärung oben


Viele Grüße,

Andreas
 
Hatl, Du fragst:

Waren 'Geheimverträge' in dieser Zeit, im Vergleich zum Jetzt, üblicher?
Und wie steht es dabei um das Vorher?

Das ist mir nicht explizit bekannt, ich vermute es aber, weil u.a. in den bekannten Dokumentenreihen GB, FR, Dt. Reich & Ö.-U. (wilde) Spekulation über mögliche Geheimverträge eine roten Faden bilden. Außerdem war die Zeit Ende 19. Jh. bis zum Weltkriegsausbruch 1914 in Europa angefüllt von angeblichen und echten Spionageaffären - Stichwort Oberst Redl, Dreyfuss-Affäre, Mata Hari usw. usw. usw.

Wenn ich meinen Eindruck aufgrund der geschichtswissenschaftlichen Lektüre der letzten Monate für den genannten Zeitraum befrage, tendiere ich dazu, Deine Frage zu bejahen - es gab damals mehr Geheimverträge auf höchster Ebene. Eher frage ich mich umgekehrt, welche Abkommen und Verträge z.B. zwischen den Entente-Partnern waren regierungsseitig zeitnah und vollständig veröffentlicht worden?

Das Abkommen Italien-Russland von 1909 war z.B. geheim, die beiden von 1900 u. 1902 zwischen Italien und Frankreich, etc.

Zum "Vorher" kann ich nichts sagen.

Viele Grüße,

Andreas
 
Hallo Turgot,

Du schreibst:


Weil das türkische Regime keinerlei Verbündete im Krieg mit Italien hatte, die Großmächte ringsum die türkische Regierung zu einem Waffenstillstand/Friedensschluss/Nachgeben drängten und italienische Marine sowohl in der Levante wie im Roten Meer im Januar/Februar 1912 etliche türkische Marine-Wasserfahrzeuge zerstört hatte. Gleichzeitig war das Osmanische Reich im Jemen in einen weiteren Krieg/Aufstand verwickelt.

Und deswegen hatte wahrscheinlich nicht nur aus Sasonows Sicht sein Plan einige Plausibilität.

O.T.: Danke für die Erklärung oben


Viele Grüße,

Andreas


Die Italiener hatten auch keine Alliierten und bekleckerten sich militärisch nicht gerade eben mit Ruhm.
 
Hallo Turgot,

da gab es ein Missverständnis:

Die Italiener hatten auch keine Alliierten und bekleckerten sich militärisch nicht gerade eben mit Ruhm.

Das Osmanische Reich war isoliert, wie man schön am nachfolgenden Balkankrieg erkennen kann und hatte keinerlei Verbündetet, "Freunde", Schutzmächte oder was auch immer, wenn es darauf ankam.

Italien gehörte zum Dreibund, von diversen Abkommen mit Frankreich u.a. abgesehen. Eine Folge davon:

Die reichsdt. Außenpolitik hatte die Ausweitung der italienischen Militäraktionen hin auf die osmanischen Nahost-Gebiete und die Kern-Türkei eben wegen des Dreibundes akzeptiert, oder eigentlich mehr hingenommen mit Bauchweh.

Turgot, soweit ich sehe, argumentierst Du hauptsächlich retrograd - woher hätte Sasonow die Erfahrung, oder gar Einschätzung im heutigen Sinne einer Meeresengenblockade und der Resistenz der Osmanischen Regierung zu jenem Zeitpunkt und in jener Situation nehmen können?
Seine Taktik war damals - soweit historisch eruirbar - plausibel oder zumindest mit einer gewissen Erfolgsaussicht behaftet. Die russ. Außenpolitik hatte situativ-taktisch reagiert und offenkundig versucht, das anscheinend für sie womöglich größere Problem, ein einerseits unkontrollierter gemeinsamer Krieg des Balkanraumes gegen anderseits die "falsche Richtung", gegen die Türkei, mit dem Zulassen eines scheinbar kleineren Risiko eines erhofften kurzen "military strike" durch italienische Streitkräfte mit gleich nachfolgender Friedensbereitschaft der türkischen Regierung, zu verhindern.

Weitere Vertiefungen und Erläuterungen wie Diskussionen dazu, ob Sasonow "es hätte doch wissen können", werden vermutlich nicht zu einer Annäherung unserer Positionen führen, schätze ich.
Da das Thema dieses Fadens die Liman-von-Sanders-Krise darstellt, wurde die Frage nach der Plausibilität von Sasonows Verhalten in Hinsicht auf einen italienischen Militärschlag gegen die Dardanellen im ital-türk. Krieg 1911/1912 mit unseren Beiträgen ausreichend diskutiert, meine ich.

Merci beaucoup, viele Grüße,

Andreas
 
...

... und italienische Marine sowohl in der Levante wie im Roten Meer im Januar/Februar 1912 etliche türkische Marine-Wasserfahrzeuge zerstört hatte. ...

Ich möchte ja nicht pedantisch wirken...aber da die osmanische Marine damals weder Tragflügelboote noch Luftkissenfahrzeuge in ihrem Bestand hatte, wäre da der Begriff "Schiffe" nicht angebrachter?

:pfeif:
 
Hallo Turgot,

da gab es ein Missverständnis:



Das Osmanische Reich war isoliert, wie man schön am nachfolgenden Balkankrieg erkennen kann und hatte keinerlei Verbündetet, "Freunde", Schutzmächte oder was auch immer, wenn es darauf ankam.

Italien gehörte zum Dreibund, von diversen Abkommen mit Frankreich u.a. abgesehen. Eine Folge davon:

Die reichsdt. Außenpolitik hatte die Ausweitung der italienischen Militäraktionen hin auf die osmanischen Nahost-Gebiete und die Kern-Türkei eben wegen des Dreibundes akzeptiert, oder eigentlich mehr hingenommen mit Bauchweh.

Turgot, soweit ich sehe, argumentierst Du hauptsächlich retrograd - woher hätte Sasonow die Erfahrung, oder gar Einschätzung im heutigen Sinne einer Meeresengenblockade und der Resistenz der Osmanischen Regierung zu jenem Zeitpunkt und in jener Situation nehmen können?
Seine Taktik war damals - soweit historisch eruirbar - plausibel oder zumindest mit einer gewissen Erfolgsaussicht behaftet. Die russ. Außenpolitik hatte situativ-taktisch reagiert und offenkundig versucht, das anscheinend für sie womöglich größere Problem, ein einerseits unkontrollierter gemeinsamer Krieg des Balkanraumes gegen anderseits die "falsche Richtung", gegen die Türkei, mit dem Zulassen eines scheinbar kleineren Risiko eines erhofften kurzen "military strike" durch italienische Streitkräfte mit gleich nachfolgender Friedensbereitschaft der türkischen Regierung, zu verhindern.

Weitere Vertiefungen und Erläuterungen wie Diskussionen dazu, ob Sasonow "es hätte doch wissen können", werden vermutlich nicht zu einer Annäherung unserer Positionen führen, schätze ich.
Da das Thema dieses Fadens die Liman-von-Sanders-Krise darstellt, wurde die Frage nach der Plausibilität von Sasonows Verhalten in Hinsicht auf einen italienischen Militärschlag gegen die Dardanellen im ital-türk. Krieg 1911/1912 mit unseren Beiträgen ausreichend diskutiert, meine ich.

Merci beaucoup, viele Grüße,

Andreas

Retrograd?

Ich denke nicht. Sasonow als Außenminister einer Großmacht wäre wohl sehr töricht, wenn er sich nicht im Vorwege Gedanken darüber macht, welche Auswirkungen seine einzelnen Maßnahmen haben. Du zeichnest m.E. nach hier einen ziemlichen naiven Sasonow; das war er aber nicht.
 
Hallo Turgot,

Du schreibst:

Ich denke nicht. Sasonow als Außenminister einer Großmacht wäre wohl sehr töricht, wenn er sich nicht im Vorwege Gedanken darüber macht, welche Auswirkungen seine einzelnen Maßnahmen haben. Du zeichnest m.E. nach hier einen ziemlichen naiven Sasonow; das war er aber nicht.

Eben. Deswegen dürfte er verschiedene Szenarien erkannt, durchgespielt und manche kombiniert haben entlang der bisherigen Erfahrungen, entlang der konkreten politischen Lage und Möglichkeiten wie Komplexität - wie oben beschrieben. Siehe auch Bobroff.

Das Modell, mit dem möglicherweise kleineren Übel - entlang Wunsch und bisherigen Erfahrungen wie aktueller Handlungsmöglichkeiten - das größere zu vermeiden wollen, dass kennen wir ja vielfach aus Geschichte, Politik und Gegenwart. Es würde mir nicht genügen, alle entsprechenden Akteure als naiv einzuschätzen.

Wir werden uns nicht einig werden, glaube ich nach wie vor. Aber damit kommen wir zurecht, oder? ;-)

Viele Grüße,

Andreas
 
Zuletzt bearbeitet:
Eine kurze generelle Bemerkung zu den diplomatischen Telegrammen, die im Rahmen der entsprechenden Dokumentensammlungen für das DR und GB vorliegen.

Mir war beim durchlesen vor allem der deutschen Dokumente die moderate Sprache bei v. Wangenheim aufgefallen.

Aus seinen Darstellungen wird ersichtlich, dass er den Konfrontationsgrad gegenüber Russland reduzieren wollte, indem beispielsweise das von Liman zu kommandierende Korps nach Adrianopol verlegt werden sollte. Weg von Istanbul.

Interessant sind dabei vor allem die Kommentare von KW2, die die moderateren Töne kritisch kommentieren und einen "harten" Kurs empfehlen.

Ähnlich sind auch die britischen Dokumente zur Liman-Krise in ihrer Gesamtheit zu sehen, die im wesentlichen zwei Aspekte variieren. Teils ein Verständnis für die russische Sicht und teils der - entschuldigende - Hinweis, dass man zusammen mit Russland agieren müsse, um sich von Russland nicht zu entfremden bzw. auch ein Eingehen auf die Forderungen von Russland, um "gefährliche" isolierte Vorgehensweisen von Russland zu verhindern.

Man merkt, m.E. den "Telegrammen" sehr deutlich an, dass zumindest die Berufsdiplomaten im DR und in England eher an einer Deeskalation interessiert waren. Und vermutlich konnte die Krise auch genau aus diesem Grund ohne weitere Schritte Richtung Krieg gelöst werden.
 
Der Zugang ist unterschiedlich gut, so mein Kenntnisstand.

1. Die britischen Dokumente sind online relativ leicht zugänglich:

https://archive.org/details/britishdocuments91grea

2. Die deutschen liegen nur für eine spätere Periode vor, soweit ich weiss (was aber nichts sagt)

documentArchiv.de - historische Dokumenten- und Quellensammlung zur deutschen Geschichte (1800-heute)

3. Es gibt zudem die Sammlung der "Regenbogenbücher", die als online Dokument problemlos via beispielsweise "Kindle" eingesehen werden können. Allerdings ist der Komfort beim Suchen bzw. bei der Darstellung nicht besonders gut, um es vorsichtig zu sagen.

Die entsprechenden französischen und russischen Sammlungen lasse ich mal außen vor, da sie beide für mich sprachlich eine Herausforderung darstellen :still:

Mein persönliches Urteil wäre, wenn Du mal in die Nähe einer UB kommt, dann wirst Du im Lesesaal/Geschichte diese Dokumentensammlungen finden.

Ich persönlich finde es am komfortabelsten und vielleicht hast Du die Möglichkeit, die entsprechenden Seiten zu scannen - häufig in guten Lesesälen angeboten - und via Stick portabel zu haben.
 
Ich denke nicht. Sasonow als Außenminister einer Großmacht wäre wohl sehr töricht, wenn er sich nicht im Vorwege Gedanken darüber macht, welche Auswirkungen seine einzelnen Maßnahmen haben. Du zeichnest m.E. nach hier einen ziemlichen naiven Sasonow; das war er aber nicht.

In den Beiträgen vom Juli 2015, #84ff. war bereits herausgestellt worden, welche Motive Sazonow beeinflussten und welche Position er bezog. Mit Naivität hat das nichts zu tun.

Dabei ist klargestellt worden (Bosworth, Italy - the Least of the Great Powers - Italian foreign policy before the First World War, sowie neuerdings Stephenson, A Box of Sand, den ich mir inzwischen besorgt habe), dass Italien keinerlei russischen "Antrieb" benötigte, um gegen das östliche Mittelmeer und die Dardanellen vorzugehen.

Der April 1912, ist außerdem der falsche Zeitpunkt, um die Dardanellen-Problematik und die italienische Zielsetzung, den Krieg entscheidend zu beenden, darzustellen.

Das Problem setzt voelmehr bereits Ende Januar an, als die italienische Marine die Beschießung von Beirut vorbereitete. Die syrisch-libanesische Küste hielt das OR aufgrund der bekundeten Interessen Frankreichs für "sicher", und täuschte sich ein erstes Mal. Das passierte am 24.2.1912. Die osmanischen Botschafter übergaben darauf Protestnoten an die Großmächte, in denen bereits klargestellt wurde, dass eine Aktion gegen die Dardanellen die Schließung derselben zur Folge haben werde. indirekt ersichtlich: BD IX/1, S. 368, sowie Stephenson, Box of Sand, S. 164. Es folgten italienische Dementis ggü. allen Großmächten, dies sei nicht beabsichtigt.

Es war sodann die britische Regierung, die diese ernste Gefahr in Mitteilungen an die anderen Großmöchte unterstrich, siehe ebenda sowie Stephenson.

Nun erst wird es spannend: direkt nach den italienischen Versicherungen, dieses sei keine konkrete Gefahr, ging die italienische Regierung an das Deutsche Reich heran. Hintergrund war die berechtigte italienische Befürchtung, die geplanten Aktionen gegen die Dardanellen würden "Probleme" mit ÖU wegen Artikel VII bringen. Was lag also näher, als sich an den "Seniorpartner" Deutschland zu wenden, um harte öu-Einsprüche zu vermeiden. Hier wird sichtbar, wer für Italien bei dieser Absegnung der Dardanellen-Aktion wirklich wichtig war:

Passenderweise befand sich KWII Ende März auf Korfu zur Erholung, wo er dann auf VE VII traf.

KW II, Kiderlen und Tschirsky lagen dann auf einer Linie,
Italien erhielt die heiß ersehnte Deklaration am 6.4.1912, passenderweise und ganz sicher nach vorheriger intensiver dt.-ital. Textabstimmung direkt an Berchtold nach Wien geschickt:

Der Krieg dauere zu lange, die öffentliche Meinung wünsche einen entscheidenden Schlag, dieser können in den Dardanellen erfolgen, KWII und VE hätten sich darüber in Venedig (es war Korfu, wohin der Kaiser für 10 Wochen nach der Krise über die Haldane-Mission "Urlaub" machte) abgestimmt, die Dardanellen-Aktion sei abgesegnet, D-I-ÖU hätten dadurch Vorteile, und höflich verklausuliert: ÖU möge doch keine Probleme bereiten, wenn I gegen die Dardanellen vorgehen würde, I werde sich in Kürze vertraulich an ÖU wenden.
Stephenson, Box of Sand, S. 167 sowie Scott, Diplomatic Documents relating to the Outbreak of the Europaen War, S. 342 zum 6.4.1912.

So geschehen: am 15.4. (die ital. Flotte war bereits unterwegs) skizzierte Berchtold mit diplomatischen BlaBla das italienische Vorgehen gegen die Dardanellen, eine begrenzte kleinere Operation würde den Krieg beenden. ÖU würde sich mit Artikel VII schwertun ("create a feeling of uneasiness" in der englischen Übersetzung), und könne daher keine ausdrückliche Zustimmung geben, alle Konsequenzen würden auf der italienischen Schulter liegen. Heißt auf deutsch: macht, was ihr wollt, die Sache läuft ohnehin bereits, wir halten uns da raus (und erhalten gegebenenfalls Garantien oder Kompensationen).
Scott, Diplomatic Documents, S. 344, 15.4.1912

Natürlich machte Italien, was es wollte: bereits am 13.4. war nach den dipl. Vorjustierungen die italienische Flotte von Taranto zu den Dardanellen mit 3 Schlachtschiffen und 6 Panzerkreuzern zur Beschießung ausgelaufen (die Intelligence der Großmächte erkannte die Bereitstellung bereits eine Woche zuvor), schließlich hatte man seit März die deutsche Rückendeckung.
Stephenson, Box of Sand, S. 168.

Hier noch der erwähnte Teil aus der früheren Diskussion betr. Russland:
Niemand anderes als der russische Außenminister Sasonow ermunterte die Italiener zu einen maritimen Einsatz der Italiener gegen die Dardanellen. (1)
Dermaßen ermutigt ließen sich die Italiener nicht zweimal bitten und beschossen am 18.April zwei türkische Forts am Eingang der Meerengen.
...
D.D.F. Band 2, Seite 325

Zu der Quelle:
Vermutlich ist DDF 3.2 gemeint, 3E SÉRIE (1911-1914), Tome 2.
Seite 325 kann aber hier nicht angesprochen werden. Sondern:
S. 321, Doc. 308: Petersburg 8.4.1912 an Poincare
S. 323, Doc. 312: Poincare 9.4.1912 an Botschaft Petersburg
S. 324, Doc. 313: Poincare 9.4.1912 an Botschaft Petersburg (zum Eintreffen einer italienischen escadre vor den Dardanellen)
S. 326, Doc. 317: Petersburg 10.4.1912 an Poincare
S. 332, Doc. 325: Petersburg an Poincare zu einem Gepräch mit Sazonow, in dem er die Risiken eines Auftauchens einer italienischen escadre vor den Dardanellen und dem gegenüber die Aktivität der Großmächte abwägt, Italien auf das Kriegsgebiet vor Libyen einzuengen.

Aus welcher Literatur stammt denn das Querzitat auf die DDF-Quelle?

D.325 ist außerdem nur bruchstückhaft. Die russische Vorgehensweise ist in der Literatur breit untersucht worden, und die Motive sind als plausibel dargestellt worden. Mit der Liman-Krise ist das in keiner Weise vergleichbar:

1. Sazonows Kalkül ging (zutreffend) davon aus, dass Italien kein Machtfaktor zur Bedrohung der Dardanellen war.

2. Er ging weiter davon aus, dass keine Bodentruppen im Spiel sein würden, wegen der italienischen Bindung in Tripolitanien. Die Dramatik der Frage der Landbesetzung zeigt sich dagegen im Fall Bulgarien, wo russischerseits massiv auf die Annäherung von Truppen an die Dardanellen reagiert wurde. Ein italienische Miniflotte ist da eine ganz andere Hausnummer.

3. Vor der Vorfall hatte die russische Seite erneut den Osmanen einen Vorschlag unterbreitet, die russische Durchfahrt durch die Dardanellen freizugeben unter der russischen vertraglichen Zusage, dass die Osmanen den Durchgang befestigen sollen.

4. Die italienische Provokation sollte instrumentalisiert werden, um bei den übrigen Großmächten auch die Durchfahrtsrechte für die russische Flotte vorzutreiben, was seit dem Krimkrieg durch die Meerengen-Proklamation verwehrt wurde.

5. Die italienischen Maßnahmen sollten ausdrücklich das Ziel der schnelleren Beendigung des Krieges bewirken, und ein Nachgeben der Osmanen, bevor die übrigen Balkanstaaten die Krise ausnutzen würden, sich landseitig den Dardanellen zu nähern. Dieses Kalkül ging gründlich daneben, weil die osmanische Seite stattdessen die Dardanellen sperrte.

Dass Sazonows Kalkül fehlschlug, ist bekannt.

Diese Entwicklung in Kontrast zu der Liman-Krise zu stellen, ist abwegig.

Die Idee Sazonows stammt übrigens ausweislich der Memoiren Giolittis aus Äußerungen ggü. dem ital. Botschafter in Petersburg vom Nov./Dez. 1911, wobei Sazonow darauf abzielte, dass dies den Krieg schnell beenden würde (Bobroff, Stephenson).
 
Zuletzt bearbeitet:
thanepower & Silesia,

das sind weiterführende Beiträge, merci.

thanepower, Du schreibst:

Ähnlich sind auch die britischen Dokumente zur Liman-Krise in ihrer Gesamtheit zu sehen, die im wesentlichen zwei Aspekte variieren. Teils ein Verständnis für die russische Sicht und teils der - entschuldigende - Hinweis, dass man zusammen mit Russland agieren müsse, um sich von Russland nicht zu entfremden bzw. auch ein Eingehen auf die Forderungen von Russland, um "gefährliche" isolierte Vorgehensweisen von Russland zu verhindern.


Mir scheint entlang der BD, dass Du eigentlich eher einen grundlegenden Aspekt mit zwei Facetten nennst, der andere Aspekt ist der Versuch, die russ. Forderungen und Ambitionen zu reduzieren wie zu entschärfen.

Besonders deutlich wird das ab Mitte Dezember 1912 nachfolgend, wie bekannt geworden war,

dass die Liman-Sanders-Mission sich NICHT auf die Dardanellen und Meeresengen erstrecken würde,

dass ebenso aufgrund des damals noch verhängten Ausnahmezustandes über Istanbul ein osmanischer Offizier die defacto-Befehlsgewalt über Istanbul ausüben würde,

dass von verschiedenen reichsdt. Seiten Kompromissbereitschaft signalisiert wurde,

dass eine größere brit. Marine-Mission in der Türkei tätig war, die zudem die Befehlsgewalt über die Osmanische Marine ausübte,

dass ein sehr weitreichender Werften- und Schiffslieferungsvertrag zwischen der türkischen Marine und britischen Firmen abgeschlossen worden war.

Soweit kurz aus meiner Erinnerung referiert.


Eine amüsante Episode am Rande:
Der russ. AA-Chef Sazonow wurde über die Liman-Sanders-Mission durch den russ. Botschafterin Istanbul, von Giers, informiert. Von Giers hatte die Infos angeblich heimlich "gesteckt bekommen",wie er sinngemäß seinem AA-Chef mitteilte, was Sazonow zur Ansicht verleitete, die dt. Mission wäre grundsätzlich heimlich geplant worden, Berlin würde ihn absichtlich täuschen wollen.

Der Witz: Es war der reichsdt. Botschafter von Wangenheim, der seinem Istanbuler Kollegen von Giers Informationen über die anstehende Mission gegeben hatte. Von Wangenheim wollte nun, dass von Giers gegenüber Sasonow nicht die Quelle seiner Informationen bekannt gibt. Von Wangenheim wünschte sich wohl eine möglichst "geräuschlose" oder stille Einstimmung der russ. Seite auf die Mission, doch die vermeintlich heimliche Information verfehlte ihren taktischen Zweck gänzlich.


Viele Grüße,

Andreas
 
In den Beiträgen vom Juli 2015, #84ff. war bereits herausgestellt worden, welche Motive Sazonow beeinflussten und welche Position er bezog. Mit Naivität hat das nichts zu tun.

Dabei ist klargestellt worden (Bosworth, Italy - the Least of the Great Powers - Italian foreign policy before the First World War, sowie neuerdings Stephenson, A Box of Sand, den ich mir inzwischen besorgt habe), dass Italien keinerlei russischen "Antrieb" benötigte, um gegen das östliche Mittelmeer und die Dardanellen vorzugehen.

Der April 1912, ist außerdem der falsche Zeitpunkt, um die Dardanellen-Problematik und die italienische Zielsetzung, den Krieg entscheidend zu beenden, darzustellen.

Das Problem setzt voelmehr bereits Ende Januar an, als die italienische Marine die Beschießung von Beirut vorbereitete. Die syrisch-libanesische Küste hielt das OR aufgrund der bekundeten Interessen Frankreichs für "sicher", und täuschte sich ein erstes Mal. Das passierte am 24.2.1912. Die osmanischen Botschafter übergaben darauf Protestnoten an die Großmächte, in denen bereits klargestellt wurde, dass eine Aktion gegen die Dardanellen die Schließung derselben zur Folge haben werde. indirekt ersichtlich: BD IX/1, S. 368, sowie Stephenson, Box of Sand, S. 164. Es folgten italienische Dementis ggü. allen Großmächten, dies sei nicht beabsichtigt.

Es war sodann die britische Regierung, die diese ernste Gefahr in Mitteilungen an die anderen Großmöchte unterstrich, siehe ebenda sowie Stephenson.

Nun erst wird es spannend: direkt nach den italienischen Versicherungen, dieses sei keine konkrete Gefahr, ging die italienische Regierung an das Deutsche Reich heran. Hintergrund war die berechtigte italienische Befürchtung, die geplanten Aktionen gegen die Dardanellen würden "Probleme" mit ÖU wegen Artikel VII bringen. Was lag also näher, als sich an den "Seniorpartner" Deutschland zu wenden, um harte öu-Einsprüche zu vermeiden. Hier wird sichtbar, wer für Italien bei dieser Absegnung der Dardanellen-Aktion wirklich wichtig war:

Passenderweise befand sich KWII Ende März auf Korfu zur Erholung, wo er dann auf VE VII traf.

KW II, Kiderlen und Tschirsky lagen dann auf einer Linie,
Italien erhielt die heiß ersehnte Deklaration am 6.4.1912, passenderweise und ganz sicher nach vorheriger intensiver dt.-ital. Textabstimmung direkt an Berchtold nach Wien geschickt:

Der Krieg dauere zu lange, die öffentliche Meinung wünsche einen entscheidenden Schlag, dieser können in den Dardanellen erfolgen, KWII und VE hätten sich darüber in Venedig (es war Korfu, wohin der Kaiser für 10 Wochen nach der Krise über die Haldane-Mission "Urlaub" machte) abgestimmt, die Dardanellen-Aktion sei abgesegnet, D-I-ÖU hätten dadurch Vorteile, und höflich verklausuliert: ÖU möge doch keine Probleme bereiten, wenn I gegen die Dardanellen vorgehen würde, I werde sich in Kürze vertraulich an ÖU wenden.
Stephenson, Box of Sand, S. 167 sowie Scott, Diplomatic Documents relating to the Outbreak of the Europaen War, S. 342 zum 6.4.1912.

So geschehen: am 15.4. (die ital. Flotte war bereits unterwegs) skizzierte Berchtold mit diplomatischen BlaBla das italienische Vorgehen gegen die Dardanellen, eine begrenzte kleinere Operation würde den Krieg beenden. ÖU würde sich mit Artikel VII schwertun ("create a feeling of uneasiness" in der englischen Übersetzung), und könne daher keine ausdrückliche Zustimmung geben, alle Konsequenzen würden auf der italienischen Schulter liegen. Heißt auf deutsch: macht, was ihr wollt, die Sache läuft ohnehin bereits, wir halten uns da raus (und erhalten gegebenenfalls Garantien oder Kompensationen).
Scott, Diplomatic Documents, S. 344, 15.4.1912

Natürlich machte Italien, was es wollte: bereits am 13.4. war nach den dipl. Vorjustierungen die italienische Flotte von Taranto zu den Dardanellen mit 3 Schlachtschiffen und 6 Panzerkreuzern zur Beschießung ausgelaufen (die Intelligence der Großmächte erkannte die Bereitstellung bereits eine Woche zuvor), schließlich hatte man seit März die deutsche Rückendeckung.
Stephenson, Box of Sand, S. 168.

Hier noch der erwähnte Teil aus der früheren Diskussion betr. Russland:




Die Idee Sazonows stammt übrigens ausweislich der Memoiren Giolittis aus Äußerungen ggü. dem ital. Botschafter in Petersburg vom Nov./Dez. 1911, wobei Sazonow darauf abzielte, dass dies den Krieg schnell beenden würde (Bobroff, Stephenson).


Vielen Dank für diese äußerst interessanten Informationen.
 
So schließt sich der Kreis:

Die italien. Regierung hatte damals eine sehr starke Position im Dreibund, da der Dreibund-Vertrag mit Italien mangels anderer potentieller Bündnispartner/Alternativen aus Sicht der reichsdt. Regierung um fast jeden Preis verlängert werden sollte. Das geschah im Dezember 1912.

Die italien. Reg. hatte weiterhin mit der russ. das Geheim-Abkommen von 1909 geschlossen, welches die russ. Interessen in der Meerengenfrage anerkannte und die italienischen in Libyen. Mit der französ. Reg. bestand der Geheim-Vertrag von 1902, der der italien. Reg. erlaubte, nach einer französischen Besetzung Marokkos, im Frühjahr/Sommer 1911 geschehen, das Gebiet Libyens als Kolonialgebiet zu "requirieren".

Sowohl die russ. Regierung wie anscheinend die italien. fördern 1912 den Bündniswillen der Balkanstaaten untereinander und von Nationalstaats-Ideen angeregte territoriale Arrondierungs-Wünsche der Balkanstaaten, auch wenn die Zielsetzungen der russ. und ital. Reg. nicht übereinstimmten.

Die reichsdt. Regierung nimmt sowohl die Ausweitung des ital. Krieges gegen das Osmanische Reich in den Mittelmeerraum und schließlich zu den Dardanellen hin, in den Balkankriegen versuchen die Großmächte inkl. dem Dt. Reich den Konflikt zu lokalisieren und dabei zu vermitteln, während das Osmanische Reich 1912/1913 ohne jede Unterstützung, auch und gerade des Dt. Reiches, schwere Niederlagen und große Gebietsverluste hinnehmen muss.

Und dann bietet sich für die Berliner "Reichsleitung" 1913 die Chance einer großen Militärmission, nachdem die Berliner Türkei-Politik seit September 1911 für die osmanischen Administrationen in Istanbul eine ziemliche Enttäuschung gewesen sein muss und wohl auch war, folge ich der wissenschaftlichen Literatur (Wallach, Römer u.a.).

Viele Grüße,

Andreas
 
Hallo Silesia,

danke nochmals für Dein engagierten & anregenden Beitrag # 174.

Du schreibst dort u.a.:

Nun erst wird es spannend: direkt nach den italienischen Versicherungen, dieses sei keine konkrete Gefahr, ging die italienische Regierung an das Deutsche Reich heran. Hintergrund war die berechtigte italienische Befürchtung, die geplanten Aktionen gegen die Dardanellen würden "Probleme" mit ÖU wegen Artikel VII bringen. Was lag also näher, als sich an den "Seniorpartner" Deutschland zu wenden, um harte öu-Einsprüche zu vermeiden. Hier wird sichtbar, wer für Italien bei dieser Absegnung der Dardanellen-Aktion wirklich wichtig war:

Passenderweise befand sich KWII Ende März auf Korfu zur Erholung, wo er dann auf VE VII traf.

KW II, Kiderlen und Tschirsky lagen dann auf einer Linie,
Italien erhielt die heiß ersehnte Deklaration am 6.4.1912, passenderweise und ganz sicher nach vorheriger intensiver dt.-ital. Textabstimmung direkt an Berchtold nach Wien geschickt:

Der Krieg dauere zu lange, die öffentliche Meinung wünsche einen entscheidenden Schlag, dieser können in den Dardanellen erfolgen, KWII und VE hätten sich darüber in Venedig (es war Korfu, wohin der Kaiser für 10 Wochen nach der Krise über die Haldane-Mission "Urlaub" machte) abgestimmt, die Dardanellen-Aktion sei abgesegnet, D-I-ÖU hätten dadurch Vorteile, und höflich verklausuliert: ÖU möge doch keine Probleme bereiten, wenn I gegen die Dardanellen vorgehen würde, I werde sich in Kürze vertraulich an ÖU wenden.
Stephenson, Box of Sand, S. 167 sowie Scott, Diplomatic Documents relating to the Outbreak of the Europaen War, S. 342 zum 6.4.1912
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Hintergrund war eher, dass Außenminister Berchtold (ÖU) drohte, seinen Widerstand gegen eine eventuelle Dardanellen-Aktion durch die italienische Marine öffentlich zu machen. Die italien. Diplomatie wandte sich daraufhin an die Berliner Regierung, die auf Berchtold und andere mäßigend einwirken sollte.


Der Satz:

Hier wird sichtbar, wer für Italien bei dieser Absegnung der Dardanellen-Aktion wirklich wichtig war:

stellt die Angelegenheit - in dieser verkürzten Behauptung - fast auf den Kopf. Die italien. Reg. brauchte die dt. keineswegs zu einer Absegnung der Dardanellen-Aktion. Sie hatte sich an die dt. Reg. gewandt, um weitere oder noch größere diplomatische oder gar in die Öffentlichkeit getragene Auseinandersetzungen mit dem Bündnispartner und Nachbarn Ö.U. wg. der Ausweitung des Kriegsgebietes zu reduzieren.
Zudem oder gar vor allem, wiederholt darf ich darauf aufmerksam machen, hatte die reichsdt. Außenpolitik im gleichen Zeitraum ein vitales Interesse an der Verlängerung des Dreibundvertrages mit der italien. Reg.


Zumindest legen dies z.B. jene Dokumente nahe:

Die große Politik der europäischen Kabinette 1871-1914 / Band 30,2, S. 369f.
Staatssekretär des AA, Kiderlen-Wächter, an den dt. Botschafter in Wien, Tschirschky, Konzept v. 3.4.1912, abgegangen am 4.4.1912.



....[...] Was den zweiten Punkt betrifft, so würde, wenn Österreichs Widerstand bekannt würde, die uns zurzeit günstige Stimmung in Italien so umschlagen, daß nicht nur nicht an eine Erneuerung des Dreibundes zu denken wäre, sondern auch für seinen gegenwärtigen Bestand gefürchtet werden müßte. Ich möchte mich fragen und der ernstesten Prüfung des Grafen [Berchtold] empfehlen, ob tatsächlich Artikel VII sich einem italienischen vorübergehenden Coup gegen die Dardanellen entgegensetzen läßt. Von einer Truppenlandung und auch nur vorübergehenden territorialen Besitzergreifung dürfte wohl nicht die Rede sein. Dazu fehlt es den Italienern an allen Vorbereitungen; es dürfte sich aber immerhin empfehlen, daß sich Österreich-Ungarn zum voraus mit Italien über Bedeutung und Tragweite seines etwaigen Vorgehens gegen die Dardanellen verständigt. Ich würde es im Interesse unserer gemeinschaftlichen Politik nur mit Freuden begrüßen können, wenn Graf Berchtold dem Gedanken einer solchen Aussprache mit Italien nähertreten wollte. Ich bitte Sie, in diesem Sinnen eingehend mit dem Herrn Minister zu sprechen. ...[...]

Die weiteren nachfolgenden Seiten, 370ff., bestätigen diesen Eindruck.

S. 374, GP XXX, 2, aus einem Telegramm-Konzept des stellv. AA-Staatssekretär Zimmermann v. 7.4. 1912 an den reichsdt. Botschafter Tschirschky in Wien:

Der Kaiserliche Botschafter in Rom meldet:
"Italienischer Botschafter in Wien hat gemeldet, daß nach vertraulichen Mitteilungen Herrn von Tschirschkys Graf Berchtold Okkupationen wie Bombardement der europäischen Küsten und Inseln des Ägäischen Meeres als dem Wortlaut des Artikels VII und Aktion gegen Dardanellen wegen voraussichtlicher Rückwirkung als dem Geist des Dreibundvertrages zuwiderlaufend betrachtet. Marquis di San Guiliano sagt, diese Interpretation des Artikels VII könne Italien nicht anerkennen. Er fragt sich nun, ob es besser sei, dies in Wien offen zuerklären oder Österreichs Standpunkt zu ignorieren und zu handeln, wenn Notwendigkeit sich ergeben sollte. ....[...]
Auch Botschafter Pansa ließ bei mündlicher Rücksprache die große Erregung erkennen, die Eurer Exzellenz Äußerungen, die ihm unverzüglich von Marquis di San Guiliano übermittelt worden waren, in Rom hervorgerufen haben. ...[...]

@ Silesia, da es einen erkennbaren Unterschied z.B. zwischen den Dokumenten der GP und Deiner Sekundärliteratur (Stephenson, Box of Sand, S. 167 sowie Scott, Diplomatic Documents relating to the Outbreak of the Europaen War, S. 342 zum 6.4.1912.) bzw. Deiner Wiedergabe Deiner Sekundärliteratur in dieser Thematik gibt, macht es wahrscheinlich Sinn, wenn Du bei Gelegenheit die Primärquellen angeben kannst, auf die sich z.B. Stephenson oder Scott stützen. Vielleicht konnten sie weitere, unveröffentlichte Primärquellen einsehen/verwenden, das liegt zumindest nahe und wäre interessant.

Wenn wir schon dabei sind, Du schreibst oben:

Die Idee Sazonows stammt übrigens ausweislich der Memoiren Giolittis aus Äußerungen ggü. dem ital. Botschafter in Petersburg vom Nov./Dez. 1911, wobei Sazonow darauf abzielte, dass dies den Krieg schnell beenden würde (Bobroff, Stephenson).

Hast Du selbst dazu Giolittis Memoiren heran gezogen? Oder meinte dieser Satz, dass Bobroff & Stephenson Giolittis Memoiren dazu benutzt haben? Gibt es Seitenangaben?
Ich selber konnte in Giolittis Memoiren, allerdings in der deutschen, nur einbändigen Ausgabe, bisher keine Ausführungen finden, welche belegen würden, die "Idee" Sasonows stammten aus Ausführungen Sasonows gegenüber dem italienischen Botschafter in St. Petersburg aus dem Nov./Dez. 1911.

Viele Grüße,

Andreas
 
Hallo Silesia, nochmals zurück zu dieser Bemerkung:

Die Idee Sazonows stammt übrigens ausweislich der Memoiren Giolittis aus Äußerungen ggü. dem ital. Botschafter in Petersburg vom Nov./Dez. 1911, wobei Sazonow darauf abzielte, dass dies den Krieg schnell beenden würde (Bobroff, Stephenson).


Die große Politik der europäischen Kabinette 1871-1914 / Band 30,1, S. 203: editorische Anmerkung der Herausgeber zu e. Ausfertigung des dt. Botschafters in St. Petersburg für den Reichskanzler Bethmann Hollweg vom 16.11.1911, in welcher der Botschafter vermerkt, die russ. Presse würde sich gegenwärtig wieder viel und eingehend mit der Meerengen-Frage beschäftigen, was nicht ohne Anstoß von maßgebender Seite geschehe.

In einer Fußnote erklären die Herausgeber entlang der Publikationen "Der diplomatische Schriftwechsel Iswolskis 1911 - 1914", Band 1, 150ff., den vormaligen russ. AA-Chef und damaligen russ. Botschafter in Paris, Iswolski, zum "treibenden Element" der Wiederaufrollung der Meerengen-Frage russischerseits. Iswolski hätte den damaligen stellv. russ. Außenminister Neratow seit Beginn des italienisch-türkischen Krieges Ende September 1911 immer wieder dazu gedrängt hätte, das Entgegenkommen der russ. Regierung gegenüber Frankreich und Italien bei der Marokko- und Libyen-Angelegenheit bei passender Gelegenheit auszunutzen, um mit beider Wohlwollen und Unterstützung die Meerengen-Frage im russ. Sinne neu aufzurollen.
Den Anlass dafür bot, so die Herausgeber, die Anwesenheit der ital. Flotte in der Ägäis und das Gerücht einer bevorstehenden Kriegsaktion derselbigen, worauf die türk. Reg. Mitte November 1911 u.a. die Schließung der Meerenge erwägt hatte (Dokument dazu GP, 30, 1, S. 183f. unten.)

Meiner Ansicht nach ist das eine plausiblere Erklärung in Relation zur Behauptung des gewesenen italien. Ministerpräsidenten Giolitti, der womöglich der italien. Politik nachträglich ein wenig mehr Bedeutung verleihen wollte, wenn nicht sowieso seine Erinnerungen, wie üblich, natürlich mehr oder weniger persönlich gefärbt gewesen waren.

Viele Grüße,

Andreas
 
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