Scorpio und thanepower stimme ich zum großen Teil zu.
Allerdings ist zu bedenken, dass sowohl Ethnologie als auch Völkerkunde und Soziologie herausgearbeitet haben, dass es, abgesehen von einer kleinen Bildungselite, so nicht funktioniert. Meiner Ansicht nach schon deshalb nicht, weil diese abstrakten Gedanken so nicht jeder nachvollziehen kann, und die Orientierung eher an Vorbildern und Beispielen, also mit einer Erinnerungskultur vorgenommen wird.
Der Großteil braucht verständliche Erklärungen, die ihm bisher oft durch staatliche Propaganda -im Positiven, wie im Negativen - vorgegeben werden. Ich habe bei zahlreichen Diskussionen gemerkt, dass Zweifel an der Geschichte des 3. Reichs am besten durch Beispiele ausgeräumt werden. Hier haben wir die Wewelsburg in der Nähe. Das dortige KZ als Beispiel kennt hier jeder. Nach Kriegsende durften diejenigen, deren Höfe zerstört waren, dort Baumaterial "holen". Wenn hier ein Zugezogener sagt, dass das mit den KZs (insbesondere in Bezug auf Wewelsburg kommt das recht häufig vor) nicht stimmt, dann ist das ein konkretes Beispiel, was niemand bezweifelt, und noch jeder verstanden hat. (Es gibt Beispiele, die unbedingt rechts außen bleiben wollen, "aber nicht so, nur eben deutsch bleiben", was ja schon deutlich die intellektuellen Fähigkeiten zeigt.)
Genauso ist doch aber eine politische Haltung im Positiven zu begründen. Früher gehörte zur 'Erinnerungskultur', dass Heinrich I., als er genug gerüstet hatte, statt des Tributs tote Hunde ins Ungarische Feldlager werfen lies. So etwas bewirkt wenig Gutes. Als 1999 bei der Ausstellung zum Treffen Kerl des Großen und Papst Leos 799 in Paderborn schon karikaturenhaft häufig, die Bezeichnung als 'pater europae' betont wurde, bekam man auf der Straße und in den Kneipen mit Bezug auf Europa das Wort vom Sachsenschlächter zu hören: Wir gehören dann ja wohl nicht dazu, sind ausgeschlossen. Damit hat diese Betonung im Paderborner Land zum Teil das Gegenteil bewirkt. Das wurde so auch gesagt. Das Ganze wirkte zudem unfreiwillig komisch, und der Normalbürger machte sich über die Reste des Bildungsbürgertums lustig, zumal es ganz offensichtlich darum ging EU-Fördergelder abzugreifen.
Dies zeigt, dass man eine 'Erinnerungskultur' nicht einfach steuern kann. Ein funktionierendes Beispiel zu finden, welches gleichzeitig historisch und unpolitisch genug ist, um hier gebracht werden zu können, ist naturgemäß schwierig zu finden. Man kann vielleicht an die Nachkriegszeit denken. Politischer Konsens war, dass es keine wirtschaftlich im Abseits stehende Minderheit geben dürfe, die sich leicht radikalisieren ließe, wenn man es modern ausdrückt. Über den Weg stritten sich dann CDU, SPD und FDP, was hier aber nicht weiter von Belang ist. Dem Vorwurf, dass "die da oben" (egal von welcher Partei) heute gegen 'den Kleinen Mann' agieren, und 'den' Parteien nicht zu trauen ist, kann kaum mit vernünftigen Argumenten begegnet werden. Eine Erinnerung an die vorgenannten Grundlagen deutscher Wirtschaftspolitik funktioniert aber in gewisser Weise. Es wird immer noch anerkannt, dass 'die' Parteien in dieser Tradition stehen.
Und damit sind wir auch bei einem, meiner Ansicht nach, besseren Begriff. Jeder sieht sich in einer Tradition. Und dabei können die Menschheit, Europa, Deutschland, die Herkunftsregion und der Heimatort durchaus alle ohne Konkurrenz integriert werden. Eine Tradition lebt auch von der Erinnerung an Vergangenes. Gleichzeitig gibt es keinen Zwang und keine Ausgrenzung: Jeder kann sich in die Tradition stellen, die er will.
Warum ist mir dieser Punkt so wichtig? Wir können nicht ohne Ideologie* leben. Daher können wir Ideologie nicht verteufeln, ohne uns selbst zu verteufeln. Aber wir können darstellen, dass ethische Forderungen an eine Ideologie existieren.
Aus der Formulierungsmöglichkeit** ergibt sich auch, das nationale Erinnerungskultur so möglich ist, dass es nicht in Nationalismus umschlägt. Dies meine ich nicht anders als thanepower es in Post #23 formuliert. (Nur sehe ich vielleicht etwas anders, dass es automatisch und logisch notwendig nationale Ansichten sind, wenn ein Bürger eines Staates über diesen Staat, ob nun negativ oder positiv reflektiert.)
Was ist dies nun mehr als das Jammern über die ach so fehlerhafte menschliche Vorstellungswelt? Geht es nicht ohne Sternenmoral? Ich sehe eher, dass es die Forderung ist, immer wieder dieselben Ereignisse möglichst entkleidet von ideologischer Interpretation zu erklären. Wenn man will, dass etwas im öffentlichen Bewusstsein ist, ohne missbraucht werden zu können, gibt es keine andere Wahl. Und das gehört zu den Aufgaben des Historikers.
Aus dem Gesagten ergibt sich auch, dass es nicht Ereignisse sind, sondern Errungenschaften wie das Grundgesetz und auch das Negative wie die Steuergesetzgebung, um nicht gleich wieder das Extremste zu nennen, die mir bei der Frage nach Deutschland in den Sinn kommen. Denn Erinnerungskultur ist nur ein Umweg dahin. (Und für die deprimierende Gewohnheit, das Schlechte in den Vordergrund zu stellen, habe ich eine zu positive Lebenseinstellung. Daher sehe ich die deutsche Kultur längst nicht so negativ wie Scorpio, stufe auch einiges, wie den Karneval als positiv ein, kritisiere dafür anderes, wie die PC***. Aber wer bei dieser Frage zuerst an positives denkt, kann mir nicht weis machen, in Deutschland sozialisiert worden zu sein.)
* Eine Erinnerungskultur ist notwendigerweise Ideologie, da sie eine geforderte abstrakte Aussage aus konkreter Erinnerung schöpfen will, und dies vor dem Hintergrund eines, vielleicht unbewussten, aber ohne Zweifel vorhandenen, Überbaus tut. Ich will mich hier nicht über den Begriff streiten, nur klar stellen, warum ich ihn hier so verwende.
**Das ist nicht im Sinne von Nominalismen oder Universalien zu verstehen, sondern in Bezug auf die formale Logik.
***Ja, ich halte das für den Anfang einer neuen Diktatur. Ob sich die Befürworter oder Gegner, die es beide von ganz links bis nach ganz rechts gibt, durchsetzen, bleibt abzuwarten.