@Diskursant,

Luthers Antijudaismus war nicht immer derselbe. Luther entfernte sich in der Frage zur Behandlung der Juden von der katholischen Kirche, in der seit Augustinus die Zeugenschaftslehre galt. Der katholischen Kirche zufolge durften die Juden nicht verfolgt werden, weil sie - wenn auch unfreiwillig - Zeugnis ablegten von der Richtigkeit des christlichen Glaubens. Luther aber wollte die Juden missionieren. Weil aber die Juden auf Luthers aus heutiger Sicht wohl als naiv anzusehenden Missionsangebote nicht reagierten, ist sein antijudaistisches Spätwerk von einem aggressiven Ton geprägt.
 
@Diskursant,

Luthers Antijudaismus war nicht immer derselbe. Luther entfernte sich in der Frage zur Behandlung der Juden von der katholischen Kirche, in der seit Augustinus die Zeugenschaftslehre galt. Der katholischen Kirche zufolge durften die Juden nicht verfolgt werden, weil sie - wenn auch unfreiwillig - Zeugnis ablegten von der Richtigkeit des christlichen Glaubens. Luther aber wollte die Juden missionieren. Weil aber die Juden auf Luthers aus heutiger Sicht wohl als naiv anzusehenden Missionsangebote nicht reagierten, ist sein antijudaistisches Spätwerk von einem aggressiven Ton geprägt.

`+´

ein weiterer Dank!
Diese Art der Wissensweitergabe entspricht so ziemlich meinem Bedarf an Horizonterweiterung. Das klügste Forum für Geschichte in deutscher Sprache das ich je besuchen durfte.
Weiter so!

diskurso

D
 
@Diskursant,

Luthers Antijudaismus war nicht immer derselbe. Luther entfernte sich in der Frage zur Behandlung der Juden von der katholischen Kirche, in der seit Augustinus die Zeugenschaftslehre galt. Der katholischen Kirche zufolge durften die Juden nicht verfolgt werden, weil sie - wenn auch unfreiwillig - Zeugnis ablegten von der Richtigkeit des christlichen Glaubens. Luther aber wollte die Juden missionieren. Weil aber die Juden auf Luthers aus heutiger Sicht wohl als naiv anzusehenden Missionsangebote nicht reagierten, ist sein antijudaistisches Spätwerk von einem aggressiven Ton geprägt.

Haben die jüdische Gemeinde nicht das selbe mit Luther versucht!
Un kam es daher nicht zu seiner massiven Abneigung!

en hesse
 
Luther entfernte sich in der Frage zur Behandlung der Juden von der katholischen Kirche, in der seit Augustinus die Zeugenschaftslehre galt.
Oder er hat sich der Spanischen Inquisition angenähert, die ja als katholisch gelten muss. :grübel:
Luther lobt die Ausweisung der Juden aus Spanien in seiner judenfeindlichen Hauptschrift "Von den Juden und ihren Lügen".

Ich habe noch etwas länger über das Thema nachgedacht.
Luther ist in seinen judenfeindlichen Äußerungen äußerst drastisch und ziemlich konkret. Martin Bucer, Melanchton und anderer scheinen ihm in der Sache nicht nachzustehen.
Ich habe lange nach lutherischen Progromen gesucht, aber keinen einzigen gefunden. Die Plünderung der Frankfurter Judengasse 1614 im Fettmilch-Aufstand zu Frankfurt gilt als letzter Pogrom auf deutschem Boden vor dem 20. Jahrhundert. Der Pogrom scheint aber nicht religiös begründet zu sein, sondern der Zorn richtete sich eigentlich gegen die Patrizier und den Kaiser, aber mit denen konnte man so etwas natürlich machen.
Im Bauernkrieg scheint es gelegentlich zu Übergriffen gekommen sein, wobei ja die beteiligten Bauern nicht mehr als Lutheraner gelten dürften, aber das dürfte genauso gut für Luther gelten.

Haben die jüdische Gemeinde nicht das selbe mit Luther versucht!
Josel von Rosheim wandte beeindruckt von Luthers anti-antisemitischen Frühwerken per Brief an den Reformator. Josel von Rosheim wollte Fürsprache für die Juden im Reich erhalten.
Der Fürsprecher der Juden kam aber schon zu spät. Er wurde von Luther ebenfals brieflich abgewiesen.
In der Folge wurde Josel von Rosheim wieder ganz der treue Anhänger des Kaisers.
 
Zuletzt bearbeitet:
@Diskursant,

Luthers Antijudaismus war nicht immer derselbe. Luther entfernte sich in der Frage zur Behandlung der Juden von der katholischen Kirche, in der seit Augustinus die Zeugenschaftslehre galt. Der katholischen Kirche zufolge durften die Juden nicht verfolgt werden, weil sie - wenn auch unfreiwillig - Zeugnis ablegten von der Richtigkeit des christlichen Glaubens. Luther aber wollte die Juden missionieren. Weil aber die Juden auf Luthers aus heutiger Sicht wohl als naiv anzusehenden Missionsangebote nicht reagierten, ist sein antijudaistisches Spätwerk von einem aggressiven Ton geprägt.

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Luther in seiner Eigenschaft als religiöser Revolutionär konnte gar nicht anders als konkurrierende Lehren ablehnen.
Über die Papisten hat er sicherlich noch mehr Polemik verfasst.
Aufschlussreich wäre, ob Luther eine persönliche Antipathie gegen Jüdische Menschen im Einzelnen hegte.

diskurschlussreich

D
 
Oder er hat sich der Spanischen Inquisition angenähert, die ja als katholisch gelten muss. :grübel:

Das hatte andere Gründe - aber du hast Recht, die spanische Inquisition hat sich hier auch der katholischen Zeugenschaftslehre unkonform gezeigt.

Die Plünderung der Frankfurter Judengasse 1614 im Fettmilch-Aufstand zu Frankfurt gilt als letzter Pogrom auf deutschem Boden vor dem 20. Jahrhundert.
Erlebte Goethe nicht auch einen Pogrom in Frankfurt?


Luther in seiner Eigenschaft als religiöser Revolutionär konnte gar nicht anders als konkurrierende Lehren ablehnen.
Über die Papisten hat er sicherlich noch mehr Polemik verfasst.
Aufschlussreich wäre, ob Luther eine persönliche Antipathie gegen Jüdische Menschen im Einzelnen hegte.

Das ist es ja gerade, Luther war gar kein Revolutionär. Wären Kaiser und Papst nicht so erbittert gegen einen Diskurs gewesen, wäre Luther ein braver Mönch mit ein paar interessanten Ideen gewesen, von denen einige sich vielleicht schneller durchgesetzt hätten.
 
Erlebte Goethe nicht auch einen Pogrom in Frankfurt?
Fast richtig. Als Kind konnte Goethe noch die aufgespießten Schädel der Aufständischen begaffen. Goethe thematisierte dies in "Dichtung und Wahrheit" "Unter den altertümlichen Resten war mir, von Kindheit an, der auf dem Brückenturm aufgesteckte Schädel eines Staatsverbrechers merkwürdig gewesen, der von dreien oder vieren, wie die leeren eisernen Spitzen auswiesen, seit 1616 sich durch alle Unbilden der Zeit und Witterung erhalten hatte." Goethe wurde jedoch ca. 150 Jahre zu spät geboren, um den Progrom mitzuerleben. ;-)



Das Thema wurde auch von Micha Brumlik bearbeitet.
Martin Luther und die Juden – eine politologische Betrachtung

Brumlik weist nach, dass Luthers Judenhass nicht nur theologisch begründet ist, sondern auch eine starke politische und wirtschaftliche Dimension hat.

Brumlik S. 3 schrieb:
Sieht man also von seinem theologisch begründeten Judenhass ab, geht es Luther ökonomisch und politisch gegen das, was er als „Wucher“ bezeichnet sowie juristisch darum, bisher geltende Gesetze der Freizügigkeit und Rechtssicherheit wieder aufzuheben. Die geforderte Ausgrenzung der Juden aus der Rechtsgemeinschaft der Territorialstaaten begründet Luther mit ihrer Andersartigkeit:

„Denn die Juden als Fremdlinge sollten wahrlich und gewisslich nichts haben, und was sie haben, dass muß gewisslich unser sein.“

Mindestens an dieser Äusserung läßt sich erkennen, daß Luther nicht nur ein christlicher Antijudaist, sondern doch ein Judenfeind, wenn man so will ein Frühantisemit war, wenngleich ihm dieser Begriff nicht verfügbar sein konnte.

In der Bezeichnung "Frühantisemit" sehe einen guten Kompromiss für den komplexen Streit darüber, ob Luther ein echter Antisemit war oder nur so etwas ähnliches.
Im Verlauf seiner Abhandlung kommt Brumlik zu dem Schluss, dass der theologische Antijudaismus in Luthers Hauptwerk nur eine sehr geringe Bedeutung hat. Intentions von Luthers Hetzschrift sei in erster Linie gewesen, dass die Fürsten die alte von Papst und Kaiser bestimmte Ordnung aufzuheben. Brumlik sieht Luther hierbei ausdrücklich als eine Art Revolutionär. Mit der Auslöschung des Judentums in deutschen Fürstentümern durch Zwangsbekehrung, Umerziehung und Vertreibung sollten sich die protestantischen Fürsten die von Papst und Kaiser vorgegebene Judenordnung negieren.


Leider setzt Brumlik Luthers Judenhetze nicht in den Kontext der gleichzeitigen Spanischen Inquisition. All das, was Luther für Deutschland fordert, war in Spanien wenige Jahre zuvor durchgesetzt worden. Der gleiche Kaiser Karl V., der in Deutschland die Juden schützte, setzte in Spanien die judenfeindlichen Politik seiner Vorgänger fort.
Wikipedia schrieb:
Die Zeit zwischen 1480 und 1530 wird als die Phase angesehen, in der die Spanische Inquisition ihre aktivste Tätigkeit insbesondere im Bezug auf die von der jüdischen Religion zum Christentum konvertierten „Conversos“ entwickelte. Wahrscheinlich fielen insgesamt zwischen 50 und 75 Prozent aller Verfahren der dreihundertjährigen Inquisitionsgeschichte in die ersten fünfzig Jahre. Wikipedia
Merkwürdig ist, dass zur Zeit der besonderen Blüte der Spanischen Inquisition Luther gerade seine milde Phase hatte.
 
Zuletzt bearbeitet:
Erlebte Goethe nicht auch einen Pogrom in Frankfurt?
Fast richtig. Als Kind konnte Goethe noch die aufgespießten Schädel der Aufständischen begaffen.
Ich hatte eine andere Stelle aus Dichtung und Wahrheit vor Augen, die ich aber falsch erinnerte.
In der sehr eng in einander gebauten Judengasse war ein heftiger Brand entstanden. Mein allgemeines Wohlwollen, die daraus entspringende Lust zu tätiger Hilfe trieb mich, gut angekleidet wie ich ging und stand, dahin. [...] Ich sah gar bald, daß, wenn man eine Gasse bildete, wo man die Eimer heraus und herabreichte, die Hilfe die doppelte sein würde. Ich ergriff zwei volle Eimer und blieb stehen, rief andere an mich heran, den Kommenden wurde die Last abgenommen, und die Rückkehrenden reihten sich auf der andern Seite. Die Anstalt fand Beifall, mein Zureden und persönliche Teilnahme ward begünstigt, und die Gasse, vom Eintritt bis zum brennenden Ziele, war bald vollendet und geschlossen, kaum aber hatte die Heiterkeit, womit dieses geschehen, eine frohe, man kann sagen eine lustige Stimmung in dieser lebendigen zweckmäßig wirkenden Maschine aufgeregt, als der Mutwille sich schon hervortat und der Schadensfreude Raum gab. Armselige Flüchtende, ihre jammervolle Habe auf dem Rücken schleppend, mußten einmal in die bequeme Gasse geraten, unausweichlich hindurch und blieben nicht unangefochten. Mutwillige Knaben-Jünglinge spritzten sie an und fügten Verachtung und Unart noch dem Elend hinzu. Gleich aber, durch mäßiges Zureden und rednerische Strafworte, mit Rücksicht wahrscheinlich auf meine reinlichen Kleider, die ich vernachlässigte, ward der Frevel eingestellt.
Von einem Pogrom war da also nicht die Rede. Wohl aber wohl von antisemitisch oder antijudaistisch motiviertem Spott.
 
Ich frage mich gerade, ob die Bezeichnung "Antisemit" in diesem Zusammenhang wirklich Aufschluss bietet.
Gewiss war Luther nach heutigen Standards Antisemit, denn seine Schriften enthalten, deutlich gesprochen, einiges an schlimmer Hetze gegen jüdische Menschen und das Judentum an sich.

Doch betrachtet man bspw. die Hexenverfolgungen und macht ihren Zeitgenossen ihren Aberglauben zum Vorwurf, übergeht man, dass die Furcht vor Hexen für sie kein Aberglaube, sondern eine zwangsläufige und vernünftige Reaktion auf den Stand der "Wissenschaft" war. (Dass ich diesen beiden Anführungszeichen nicht widerstehen konnte, spricht Bände über die Schwierigkeit, sich verflossenen Epochen als moderner Mensch zu nähern.) Meine Neugierde weckt hier der Umstand, dass manche Menschen auch aus Böswilligkeit, oder gar ohne überhaupt an die Existenz von Hexen zu glauben, ihre Nachbarn der Hexerei beschuldigten (wie manche Verfahrensvorschriften jener Zeit, die genau solche Anschuldigungen unterbinden sollten, nahelegen).

Für mich gilt das gleiche Prinzip im Fall Martin Luther. Ich zweifle, ob die Judenfeindlichkeit seiner Zeitgenossen denselben Mechanismen folgte, wie sie die Psychologie heutzutage im Antisemitismus und in anderen Vorurteilen entdeckt; denn für Letztere ist bezeichnend, ja vielleicht sogar motivierend, dass sie der Auffassung der Mehrheit trotzen, wohingegen Judenfeindlichkeit im Mittelalter und in der Neuzeit der Auffassung vermeintlich "vernünftigen" Mehrheit entsprach. Kurz, heute liegt die Beweislast beim Vorurteilsbehafteten; in jener Zeit hätte sie bei den wenigen gelegen, die Juden nicht verdammten. Interessant ist, wie sich diese aus dem Griff der gesellschaftlichen Auffassung befreien konnten, und warum die anderen nicht.

Mich interessiert daher nicht so sehr die Tatsache, dass Luther nach modernen Standards Antisemit war, als vielmehr, ob dies aus den "klassischen" oder aus seinen eigenen Gründen.

Dazu besagt dieser Themenstrang viel, danke dafür!

(Nebenbei, wenn eine politisch angehauchte Bemerkung gestattet ist: Kommt es mir nur so vor, oder setzt sich die Evangelische Kirche Deutschlands mit den judenfeindlichen Traktaten ihres Vaters überhaupt nicht auseinander?)
 
(Nebenbei, wenn eine politisch angehauchte Bemerkung gestattet ist: Kommt es mir nur so vor, oder setzt sich die Evangelische Kirche Deutschlands mit den judenfeindlichen Traktaten ihres Vaters überhaupt nicht auseinander?)

Der Eindruck täuscht. Aber ich denke, wir sollten Tagesaktuelles über Religionsgemeinschaften damit jetzt besser ruhen lassen.
 
Luther hat natürlich nicht voraussehen können, dass man ihn Hunderte von Jahren nach seinem Tod mal beim Wort nehmen und seine verbalen Vernichtungsphantasien in die Tat umsetzen würde. Seine Äußerungen zum Judentum sind teilweise widersprüchlich.
Einerseits hat er betont, dass Jesus, die heilige Familie und alle Apostel Juden waren und Juden den gleichen Gott verehren wie die Christen und Judentum und Christentum heilige Schriften teilten.

Er hat sich wohl als Idealfall vorgestellt, dass die Juden seine Lehre annehmen und zum Christentum konvertieren sollten. Dass sie es nicht taten und die Zahl der jüdischen Konvertiten verschwindend gering war und blieb, hat er den Juden sehr übel genommen, und seine Äußerungen in seinen Tischgesprächen und dem Pamphlet "Von den Juden und ihren Lügen" waren von äußerster Radikalität und durchdrungen von kaum verhüllten Vernichtungsphantasien.

Was den traditionellen Antijudaismus den viele Vertreter der Kirchen vom Antisemitismus wie er im 19. Jahrhundert Konturen annahm, war dass er nicht biologistisch argumentierte. Nach christlicher Lehre kann sich ein Mensch ändern, und wenn ein Jude zum Christentum konvertierte, war im Grunde alles gut, auch wenn immer wieder von Geistlichen und Laien die Ernsthaftigkeit einer Konversion angezweifelt und jüdischen Konvertiten unterstellt wurde dass sie nur aus Opportunismus konvertierten und im Grunde Juden blieben.

Darin unterschied sich der Antisemitismus vom Antijudaismus des Mittelalters und der Neuzeit. Er argumentierte biologistisch, sah im Judentum keine Religionsgemeinschaft, sondern eine "Rasse". Konversion nützte den Juden nichts mehr, sie gehörten angeblich einer "Rasse" mit festgelegten Eigenschaften an. Es wurde ihnen nicht oder zumindest nicht vordergründig vorgehalten, dass sie Christus ans Kreuz gebracht und die christliche Lehre abgewiesen hätten, sondern dass sie eine parasitäre Rasse seien, die das "Wirtsvolk" aussaugten, dass sie den Kapitalismus, den Sozialismus und die Psychoanalyse erfunden hatten und eine Verschwörung anzettelten, die ihnen die besten Positionen im Kulturbereich, in Medizin und Jurisprudenz sicherten. gesellschaftliche Assimilation, Patriotismus und Integration nützten ihnen nichts mehr, sie waren eine fremde Rasse mit feststehenden Eigenschaften, der Paroli geboten werden musste. Der Historiker Heinrich von Treitschke formulierte Ende des 19. Jahrhunderts den Satz "Die Juden sind unser Unglück", den später Julius Streichers Hetzblatt "Der Stürmer" übernahm.
Wie Luther darauf reagiert hätte ist schwer abzuschätzen, als seine Forderungen in die Tat umgesetzt wurden, als tatsächlich Synagogen niedergebrannt, Thorarollen vernichtet und Juden erst immer mehr entrechtet und enteignet und ausgeplündert, dann durch Zwangsarbeit drangsaliert und schließlich ermordet wurden.
Wie die protestantischen Kirchen, die sich auf Luther beriefen reagierten, ist dagegen bekannt. Einzelne Pastoren und Kirchenmitglieder haben Juden Zuflucht gewährt, haben protestiert, sich versucht, der Gleichschaltung zu entziehen und sind manchmal große persönliche Risiken eingegangen.
Das lässt sich aber leider von den Institutionen nicht sagen. Wenn sich die protestantischen Amtskirchen mal geäußert haben, taten sie das, wie Karl Barth, Mitglied und Kritiker der bekennenden Kirche einmal sagte fast ausschließlich in eigener Sache. wenn sie sich zugunsten von Juden einmal äußerten, sprachen sie fast nur von den konvertierten Judenchristen. Auch in den Reihen der bekennenden Kirche war Antisemitismus weit verbreitet. Gegen die Aktion T4, die Ermordung von behinderten erhoben Kirchenobere ihre Stimme, gegen den Rasse- und Vernichtungskrieg gegen die Sowjetunion war kein kritisches Wort zu hören-im Gegenteil! Der schmutzige Krieg gegen die "gottlosen Bolschewisten" wurde bejaht, es wurden Glocken geläutet und dem Führer gedankt. Der NS wurde von vielen, allzu vielen protestantischen
Pastoren und Laien wohlwollend aufgenommen. Nie haben höhere Geistliche vor Antisemitismus gewarnt, kein kritisches Wort, keine Warnung war zu hören, als die Nürnberger Gesetze verkündet wurden, als Synagogen, Gotteshäuser, brannten. Die Errungenschaften der Französischen Revolution und der Aufklärung wie Juden- und Frauenemanzipation wurden mit Skepsis, vielfach mit Ablehnung betrachtet. Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit, Presse-, Gedanken- und Meinungsfreiheit wurden nirgendwo dank den Kirchen, sondern gegen sie durchgesetzt. Viel zu lange und viel zu intensiv waren die protestantischen Kirchen mit der politischen Macht verbandelt, die Landesfürsten waren in der Regel auch Oberhaupt der Kirchen, als diese unheilige Allianz von Thron und Altar von der Novemberrevolution beendet wurde, trauerte man dieser zeit nach, sehnte sich nach einem starken Führer. In der Sozialdemokratie, in der Juden- und Frauenemanzipation sahen viel zu viele Träger der Amtskirchen eine Bedrohung und Gefahr, und das machte gerade ländliche protestantische Milieus sehr empfänglich für autoritäre faschistoide Systeme. Als die Weitsichtigeren erkannten, wohin die Reise geht, war es bereits zu spät. Antisemiten wie der Hofprediger Stoecker wie Heinrich von Treitschke beriefen sich auch und vor allem auf Luther. Eine wirklich kritische Auseinandersetzung mit der Rolle von Antisemitismus/Antijudaismus im Weltbild von Martin Luther und welche Folgen dieses Gedankengut in der Geschichte des Protestantismus spielte, erfolgte erst nach dem 2. Weltkrieg, und vielfach waren Kirchenobere auch dann noch nicht für eine kritische Aufarbeitung bereit. Gerne stellte man sich selbst Persilscheine aus, behauptete eine prinzipielle Gegnerschaft des Protestantismus zum NS und verwies auf Persönlichkeiten wie Martin Niemöller, Dietrich Bonhoeffer oder Carl Barth. Zu einer kritischen Auseinandersetzung mit Martin Luther sind einige selbst heute nicht bereit, Luther wurde vielerorts zu einer überlebensgroßen Persönlichkeit gemacht, an der Kritik zu üben schon fast einer Majestätsbeleidigung gleichkommt. Eine Kontinuität zwischen Protestantismus und Nationalsozialismus gab es nicht, jedenfalls nicht in dem Sinne, dass die Geschichte des Protestantismus zwingend wie ein Katarakt auf den NS zugeströmt wäre, so als ob die Geschichte des deutschen Protestantismus eine Vorgeschichte des NS gewesen und Luther ein Bruder im Geiste war, wie es die Nazis so gerne behaupteten. Sie hätten aber kaum solche Kontinuitäten einigermaßen plausibel konstruieren können, sich nicht auf Luther als Legitimation berufen können, wenn nicht antisemitische/antijudaistische Vorstellungen im Gedankengut des Reformators vorhanden gewesen wären. Die Nazis waren keine Marsmenschen, die über Nacht Deutschland besetzten. Ohne diese antisemitischen Traditionen wären nicht vor allem ländliche protestantische Milieus so empfänglich für den NS gewesen, und ohne die Koloboration der protestantischen Kirchen, die ganz ohne Not, oft in vorauseilendem Gehorsam Kirchenbücher und Dokumente herausgaben, hätte man in vielen Fällen gar nicht herausfinden können, wer alles Halb- oder Dreivierteljude war.
 
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