Die Geschichte des Sitzens

Um auf die alte Eingangsfrage zurückzukommen: das Sitzen, d.h. das Ausruhen auf dem Hintern, ist sicherlich eine natürliche Ruhehaltung. Aber die Haltung auf einem Stuhl, insbesondere vor einem Tisch, wurde in der Natur sicherlich nur sehr selten eingenommen.
Ob sie jedoch ›natürlich‹ ist, wäre eigentlich eine philosophische Frage. Künstlich ist sie insofern, weil die Benutzung eines selber hergestellten Gegenstandes das regelmäßige Bewegungsverhalten stark beeinflusst.

Mich würde aber der Grund für die Entstehung des Stuhls interessieren, und inwiefern der selber hergestellte Sitz mit der Sesshaftigkeit des Menschen zusammenhängt: warum und wann hat sich der Mensch den ersten Stuhl gebastelt. Dass dies nicht erst für Tutanchamun geschah, ist klar. Recht komplexe Stühle mit Beinen und Lehnen, also alles andere als ausgehöhlte Baumstämme, sind ja aus der Zeit paar tausend Jahre zuvor bekannt. Äußerst seltsam dabei, dass auf den Stühlen durchwegs Figürchen mit vollschlanken Frauen dargestellt sind.

Nimmt man an, dass ein Stuhl zunächst dem Häuptling gebastelt wurde, während die Anderen weiterhin auf Steinen, Baumteilen, oder auf dem Boden saßen, und das erhöhte Sitzen auf einem Stuhl ein Statussymbol in der Gruppe war, so müsste es sich bei den Frauen entweder um Anführerinnen, oder um Göttinnen handeln. Die Annahme entspringt der Priorisierung der Hierarchie, während der körperliche Nutzen ignoriert wird.


Neue These zum Grund für die Entstehung des Stuhls

So werfe hier meine eigenwillige These in die Runde, dass der Stuhl zunächst für die schwangere Frau gebastelt wurde. Hierfür sprechen, nebst den weiblichen Figuren, auch die Beine solcher dargestellten Stühle. Hätte man einen stationären Thron gebaut, hätten simple Steinblöcke als Erhöhung gereicht. Warum nur hätte man vier Steinsäulen unter eine Steinplatte gelegt, wenn die Konstruktion dadurch nur labiler geworden wäre. Die vier Beine entsprechen offensichtlich dem Wunsch, das Ding transportfähig zu machen, die Beine an die Sitzfläche geheftet und das Ganze aus leichtem Holz. Allerdings könnte man meinen, der Stuhl stamme aus der Zeit des wandernden Menschen, der Thron dem Anführer jeweils nachgeschleppt. Doch warum diese Mühe, wenn paar Steine für die Erhöhung der Sitzfläche an der geplanten Versammlung, bzw. am Ritual, überall schnell zusammengestellt werden können?

So vermute ich eher, dass den mobilen Stuhl, den Stuhl mit Beinen, erst der sesshaft gewordene Mensch herstellte, damit sich die werdende Mutter schnell hinsetzen konnte, wenn dies nötig war. Die erhöhte Sitzfläche erleichterte ihr das Aufstehen, womit die erhöhte Sitzfläche mit einer natürlichen Notwendigkeit erklärt wäre. Dass sich bei Versammlungen irgendwann die Anführer genötigt sahen, ebenfalls auf einem Stuhl zu sitzen, um nicht auf die schwangeren Frauen hinaufblicken zu müssen, ist anzunehmen.

Das Herumwandern mit Stühlen würde ich dabei eher ausschließen. Und dass später auch die Anführer von wandernden Völker einen Stuhl beanspruchten, könnte schlicht das Kopieren von Sitten darstellen, die man irgendwo sah.
 
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Hm, warum gerade das schwierige Kapitel »Bauhaus«? ... Die Firma mit dem Ren(n)tier?
Weil mir zunächst nichts Besseres einfiel. :rotwerd: (Und das Rentier habe ich mit dem Elch verwechselt, m.a.W.: ich wollte auf IKEA hinaus. :rotwerd:)

Das »Herumlümmeln« würde ich so ungefähr, sagen wir, mit der Industrialisierung ansetzen, als man begann das Individuum zu unterdrücken...
Welches Individuum, das hiernach bis zur Industriealisierung nicht unterdückt war, ist gemeint?

Allgemeiner gefragt: Ich kann bei der Jahrhunderte-Übersicht nicht immer erkennen, auf welche Menschen vor welchem sozialen Hintergrund Du Dich beziehst. Fürs 15. Jh. wird ansatzweise zwischen "Herren" und "Pöbel" differenziert, fürs 16. werden die "weniger Betuchten" erwähnt, fürs 17. die "Oberschicht", und ab dann scheinen sich alle Unterschiede (auch zwischen Unterdrückten und Unterdrückern?) zu verwischen.

Und "natürlich" (für ein Geschichtsforum) interessiert mich die Frage, welche Quellen Deiner Darstellung zugrundeliegen. Es gibt ja zum Thema einige interessante Literatur [1], auch Ausstellungskataloge usw.

So werfe hier meine eigenwillige These in die Runde, dass der Stuhl zunächst für die schwangere Frau gebastelt wurde.
Finde ich plausibel. Wie könnte man das belegen?


[1] Siehe etwa: Hans Eckstein: Der Stuhl (1977); Hajo Eickhoff: Himmelsthron und Schaukelstuhl: die Geschichte des Sitzens. (5.A. 1997); Günter Vogel: Nehmen Sie Platz : humanbiologische und kulturgeschichtliche Betrachtungen zu menschlichen Körperhaltungen (2003).
 
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@ jschmidt: Mit Deiner Kritik, dass ich bei meiner groben Zusammenfassung über Sitze seit dem Spätmittelalter den Bezug auf die einzelnen Schichten nachläßig behandelt habe, bin ich absolut einverstanden. Dies war aber bei der Kürze gar nicht anders möglich. Die Behauptungen stützen sich dennoch auf eine ausführliche Beschäftigung mit dem Thema Mobiliar und Kunsthandwerk, inkl. Lektüre zum Thema.
Ich danke Dir aber insbesondere für die Empfehlung von Vogels Buch Nehmen Sie Platz…, das ich nicht kenne und mir gerne anschauen werde.

(Zur Möbelfirma will ich mich nicht äußern.)



Finde ich plausibel. Wie könnte man das belegen?
Das frage ich mich auch… :grübel:
Der erste Verdacht kam mir bei der Betrachtung der Komplexität der Stuhlkonstruktionen bei den figürlichen Darstellungen aus dem Neolithikum; insbesondere die Stuhlbeine fand ich verblüffend, würde man doch als erste Sitze viel eher Blöcke (Stein oder Holz) erwarten, auch wenn mit Rückenlehnen erweitert. Die Beine aber weisen klar und deutlich auf die Transportfähigkeit der Stühle hin, die an den Skulpturen stilisiert dargestellt worden sind. Transportfähige Stühle unter lauter Frauen, mit größtenteils voluminösen Formen, die vor allem die weibliche Attribute betonen, reps. überbetonen. Die Funde stammen alle – soweit ich es bisher überblicken kann – aus einer Zeit, in der zumindest eine temporäre Sesshaftigkeit vermutet werden kann.

Die Transportfähigkeit des Mobiliars muss sich nicht unbedingt auf die Zügelbarkeit beziehen. Gerade beim Stuhl mit angebauten Beinen spielt die ›Mikromobilität‹ die wichtigere Rolle, d.h. die Verrückbarkeit. Und hier stellt sich die große Frage, warum ein Thron verrückbar sein muss. Muss er gar nicht.
Hätte der Mensch einen Thron bauen wollen, den er beim Weiterziehen mitnehmen kann, wäre die modulare Bauweise besser gewesen; der Anbau der Stuhlbeine ist also beim Thron unnötig und gar hinderlich.

Der fixe Zusammenbau von Sitzfläche und Stuhlbeinen ist nur für die ›Mikromobilität‹ wichtig. Man will den Stuhl dort aufstellen, wo man ihn gerade benötigt. Zusammen mit der ausschließlichen Darstellung von fülligen Frauen scheint der Stuhl mit Beinen, für sie reserviert gewesen zu sein. Die erhöhte Sitzhöhe erleichterte das Aufstehen, wobei sie so bemessen war, dass die Füße flach auf dem Boden blieben.
Wie ich bereits oben ausgeführt habe (#21), kann später der von den Menschen gebaute Sitz auch von Anführern beansprucht worden sein, worauf dies zum Usus wurde.


Die These halte ich soweit für ziemlich überzeugend, auch wenn ich sie nicht zweifelsfrei begründen kann. Der eigentliche Schwachpunkt (und zugleich das Hauptargument für die Annahme von Göttinnen, Urmüttern, etc., bei den dargestellten Frauen) ist die Frage, warum solche Figuren überhaupt hergestellt wurden. Warum hätte man werdende Mütter immer wieder abgebildet?

Hier könnte man zunächst auf die Schutzbedürftigkeit der werdenden Mutter hinweisen: es besteht eine natürliche Hemmschwelle, eine schwangere Frau anzugreifen; sie ist quasi ›heilig‹. Das Bild der heiligen (unantastbaren) Schwangeren ist nicht mehr weit enfernt von einem göttlichen Status. Hinzukommt das ›Wunder‹ vom neuen Leben, das auch trotz Kenntnis der Fortpflanzung als göttlich empfunden werden kann. Möglich also, dass Schwangere bewundert, verehrt und dementsprechend häufig abgebildet wurden. Eine andere Erklärung habe ich nicht…
 
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...Empfehlung von Vogels Buch..
Niegelnagelneu ist das folgende:
The 5,000-Year History of the Chair - The Atlantic

Die Transportfähigkeit des Mobiliars muss sich nicht unbedingt auf die Zügelbarkeit beziehen. Gerade beim Stuhl mit angebauten Beinen spielt die ›Mikromobilität‹ die wichtigere Rolle, d.h. die Verrückbarkeit.
Guter Hinweis!

... dass der Stuhl zunächst für die schwangere Frau gebastelt wurde...
In den einschlägigen Abhandlungen findet man häufig die Aussage, dass die ersten Stühle in Ägypten hergestellt und benutzt wurden.

Deine These könnte freilich in eine viel ältere Zeit zurückweisen wie bei http://www.geschichtsforum.de/f22/wie-entstand-der-aufrechte-gang-48638/index5.html#post772412.

Um eine eigene Fährte auszulegen: Tisch und Stuhl scheinen, jedenfalls im Alltagsgebrauch, aufeinander bezogen, etwa was das Essen oder das Werkeln/Arbeiten betrifft. Entstanden beide Möbel zur gleichen Zeit?
 
Danke jschmidt für Dein Feedback!

In den einschlägigen Abhandlungen findet man häufig die Aussage, dass die ersten Stühle in Ägypten hergestellt und benutzt wurden.
Wirklich gute Literatur über Mobiliar ist eher selten. Während die griechische und römische Antike recht gut dokumentiert ist, ist z.B. das Mobiliar des Mittelalters immer noch ein Stiefkind. Dies wird sich aber in den nächsten Jahrzehnten bestimmt ändern, da sich immer mehr Leute damit befassen.

Rybczynski's Now I Sit Me Down: From Klismos to Plastic Chair wird vmtl. die älteren Stühle höchstens marginal behandeln. Sehr hübsch aber das auf der Website gezeigte Bühnenbild von La Bohème in Bregenz! :) Und der kleine Harfenspieler von den Kykladen, auf einer Frühform des Klismos (um 2'800/2'700 v.Chr.!) ist äußerst bemerkenswert.

Deine These könnte freilich in eine viel ältere Zeit zurückweisen…
Tut sie auch ganz bestimmt. Paar wenige Beispiele:
Hocker aus Thessalien, 4'800/4'500 v.Chr.
Lehnstuhl mit Beinen und Griffen, gefunden in Moldawien, 4'750/4'700 v.Chr.
Dito aus der Cucuteni-Kultur
Stuhl mit Beinen und Rückenlehne der Karanowo-Kultur, 4'500/4'000 v.Chr.

Ob der allerste Stuhl bereits mit Beinen entstand, würde ich dennoch aus rein logischen Gründen eher bezweifeln. Die allerersten Stühle waren sicherlich irgendwelche Blöcke, die halt schnell zur Stelle gehievt werden mussten. So einen Holzblock hätte dann der findige Mensch, des Schleppens überdrüssig, zunächst von unten aushöhlen können, bis er sich dann mit der eigentlichen Konstruktion von Stühlen mit Beinen auseinandersetzte.


Der aufrechte Gang ist aber sicherlich einiges älter. Da hätte ich auch eine Theorie, allerdings derart eigen, dass ich mich vom Thread bisher fernhielt… :D


Um eine eigene Fährte auszulegen: Tisch und Stuhl scheinen, jedenfalls im Alltagsgebrauch, aufeinander bezogen, etwa was das Essen oder das Werkeln/Arbeiten betrifft. Entstanden beide Möbel zur gleichen Zeit?
Nach meiner These über Stühle mit Beinen für werdende Mütter müsste der Tisch eigentlich erst später hinzugekommen sein. Die Abstellfläche würde ich generell für weniger wichtig halten. Zuvorderst stand die erhöhte Sitzmöglichkeit für die Frau und dann die erhöhte Liegefläche aus Schutz vor Viechern, d.h. die Bedürfnisse des eigenen Körpers. Esswaren wurden vmtl. erst später hochgelagert.(?)
 
Schon die Römer kannten das Sitzen und hatten dafür verschiedene Möbel, das Sitzen ist die Haltung auf dem Pferd.
Der Mensch ist ein flexibles Wesen, mit einem sehr beweglichen Skelett, darin sind einige Posen möglich.
Das Skelett des modernen Menschen ist für den aufrechten-gang optimal geformt, das funktioniert in verschiedenen Laufarten sehr gut.
Schaut man sich in Namibia die Busch-people an so sieht man wofür der Körperbau gut ist, auf der Jagt und um lange Strecken zugehen, aber auch zu Joggen oder gar Rennen.
Das Sitzen und das Liegen sind die Ruhepositionen, die Art des Sitzens hat mit den Gewohnheiten zutun, oder der Erziehung.
Da sich der Moderne Mensch nicht mehr soviel bewegt, ist mit einer Degeneration der Gliedmassen zurechnen, das kann zu Gelenkzersetzung (Knorpelschäden) führen.
Erst dadurch braucht der Mensch im Alter, künstliche Gelenke, wobei zu oft die Selbstheilung, des Knorpels unterschätzt wird. Und viel zu früh operiert wir? Hier entscheidet der Einzelfall.

Die Ergonomie des Sitzens ist etwas immer noch erforscht wird und optimiert wird.

Was sich auch entwickelt ist die digitale Welt, der PC entfällt bald und es gibt nur noch Mobile Geräte.
Somit ist das Sitzen und liegen möglich, laufen und bewegen, diese Technik entwickelt sich hin zu unseren Bedürfnissen.
"Sitzen ist das neue Rauchen!" drückt aus das zuviel sitzen nicht gesund ist, unterstützt durch Forschungen oder Thesen wir dafür eine Lösung gesucht.
Die "Arthrose" und die "Thrombose" sind Krankheitsbilder aus dem Bewegungsmangel.....
 

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