Zur Situation Germaniens in der Zeit von 9 - 16 n. Chr.

3.
Lahnau- Waldgirmis:
Für diese Thematik äusserst spannend.
Es gibt hier wohl Hinweise, dass dieser Platz bis in die Germanicuszeit existiert hat. Armin Becker hält es für möglich, dass dieser Ort und dessen Zerstörungshorizont nicht mit Varus, sondern mit der Meuterei 14 n.Chr. in Zusammenhang steht. Becker folgert sogar, das die Wetterau und das Rhein-Main Gebiet von der Varuskatastrophe garnicht betroffen waren (vergl. Becker: Die römische Okkupation des Rhein-MainGebietes und der Wetterau, in Lehmann/Wiegels, Über die Alpen 225-224)

Nur zu diesem Punkt. Eine Auswertung der Grabungsbefunde ist 2015 erschienen, weiß nicht, ob die schon mal hier behandelt wurde und was zur Spätdatierung da zu lesen ist. Ich stimme El Quijote insofern zu, als dass die Germanicus-zeitlichen Aktivitäten aus den Arbeiten, die ich bisher dazu kenne, nur auf wenigen (im wesentlichen 2) Befunden beruhen.

Die Süd-Nord-Richtung der römischen Expansion von Mainz aus fand stets weniger Beachtung, aus folgenden Gründen:
- kaum Quellennennungen bei Tacitus, Cassius Dio usw.
- Größere Standlager wurden bisher nicht gefunden, auch große Marschlager wie Dorlar sind selten. Vielversprechende Lagerplätze wie Höchst, Friedberg und Bad Nauheim sind vermutlich für immer verloren, da sie bereits bei ihrer Erstentdeckung rund um 1900 weitgehend überbaut waren.
- Es gibt noch eine große Forschungslücke, denn zwischen Dorlar und Hedemünden, also einer Strecke von etwa 150 Kilometern, sind bisher keinerlei weitere römischen Anlagen bekannt. Diese müssen zwar nicht zwingend bestanden haben, aber es ist schwer vorstellbar, dass die Mainzer Legionen bei den weiträumigen frühen Operationen nur 100 Kilometer weit nach Norden vorstießen.

Im Großen und Ganzen bewerte ich es aber auch so, dass das Vorfeld von Mainz durch die Varus-Niederlage wenig beeinflusst wurde. Besonders der Untermain war wohl weitgehend auch in vorflavischer Zeit unter römischer Kontrolle.
 
Es sind Römerstraßen an der Lippe nachweisbar. Schneisen im Wald sind natürlich nicht nachweisbar, wie sollte man das tun?


Nenne mal ein paar (am liebsten mit Bildern bzw. Maps)

Im Übrigen ist der Überflutungsbereich nicht mit durch Flussbettverlagerung abgegangenen Bereichen zu verwechseln. Das sind zwei verschiedene paar Schuh.
Mir geht es hauptsächlich um Dämme und Wälle. Als Beispiele kann ich nur das Mittelelbe-Gebiet nach der Einmündung der Mulde nennen, wo die stärksten Hochwässer Mitteldeutschlands im 14.Jhd. sämtliche Dörfer im Flusstal zerstörten. Hier finden sich immer noch Reste der Wälle und Hügel der mittelalterlichen Anlagen Schlossberg, Schadehalle und als bekanntester vom Königswaal (Pflug). Die Wälle existieren heute noch in Höhen von Dezimetern (Schlossberg) bis zu mehreren Metern (Königswaal). Nur die Burghügel selbst wurden nie überflutet. Wenn es also an der Lippe außer Straßen und Schneisen auch Aufschüttungen gab, so müssen diese, soweit sie nicht mechanisch abgetragen wurden, noch stellenweise nachweisbar sein, denn die Überschwemmungen sind mit denen an Elbe und Mulde in keiner Weise vergleichbar. Dort, wo die Elbe ihren Lauf verändert hat, liegen die Überreste heute entweder unter Wasser oder sind mit meterdickem Sand bedeckt.
 
Mir geht es hauptsächlich um Dämme und Wälle.

Was für Dämme und Wälle?

Ich dachte, es geht um die Tacitus-Stelle 2,7 (cuncta inter castellum Alisonem ac Rhenum novis limitibus aggeribusque permunita)?

Bei "limites aggeresque" würde ich in erster Linie an Straßenbauarbeiten denken. Was sollte es - außer dem Straßendamm - noch sonst für Dämme gegeben haben?
 
Was für Dämme und Wälle?

Ich dachte, es geht um die Tacitus-Stelle 2,7 (cuncta inter castellum Alisonem ac Rhenum novis limitibus aggeribusque permunita)?

Bei "limites aggeresque" würde ich in erster Linie an Straßenbauarbeiten denken. Was sollte es - außer dem Straßendamm - noch sonst für Dämme gegeben haben?
Die gängige Übersetzung "Das ganze Gebiet zwischen dem Kastell Aliso und dem Rhein wurde mit neuen Grenzwegen und Dämmen befestigt" scheint von zwei verschiedenen Dingen auszugehen. Aber auch Straßendämme können eine erhebliche Höhe erreichen.
 
Die gängige Übersetzung "Das ganze Gebiet zwischen dem Kastell Aliso und dem Rhein wurde mit neuen Grenzwegen und Dämmen befestigt" scheint von zwei verschiedenen Dingen auszugehen.

Eine andere, ebenso gängige Übersetzung* hat "Heerstraßen und Dammwege" - hier geht es tatsächlich nur um den Straßenbau und sonst nichts.
Der Sinn ist klar: limites (Schneisen) braucht man, wenn der Weg durch Wälder führt, aggeres (Aufschüttungen) braucht man, wenn der Weg durch Moore führt.
Die aggeres erwähnt Tacitus auch beim Marsch zum Ort der Varusschlacht:
praemisso Caecina, ut occulta saltuum scrutaretur pontesque et aggeres umido paludum et fallacibus campis inponeret, incedunt maestos locos visuque ac memoria deformis ("Vorausgeschickt wurde Caecina, um das unübersichtliche Waldgebiet zu erkunden und Brücken und Dämme über die feuchten Sümpfe und trügerischen Moorwiesen anzulegen").
Und auch die pontes longi werden in ganz ähnlicher Weise beschrieben: "Ein schmaler Dammweg war dies zwischen weit ausgedehnten Sümpfen; einst von L. Domitius angelegt" (angustus is trames vastas inter paludes et quondam a L. Domitio aggeratus)


Aber auch Straßendämme können eine erhebliche Höhe erreichen.
Ja. Können.
Nur lässt sich aus dem Tacitus-Text nirgends eine "erhebliche Höhe" herauslesen.
Vergleiche mit Festungswällen sind fehl am Platz.


* https://books.google.de/books?id=UgzoBQAAQBAJ&pg=PA119&lpg=PA119&dq=heerstra%C3%9Fen+und+dammwege&source=bl&ots=mJRr2YIfME&sig=qMtCD_x9V9C-YnleYnM3BdSU3FM&hl=de&sa=X&ved=0ahUKEwjMztXT3bLSAhVCnRoKHTDvCxQQ6AEIJDAB#v=onepage&q=heerstra%C3%9Fen%20und%20dammwege&f=false
siehe auch:
https://de.wikipedia.org/wiki/Aliso
 
Eine Befestigungsanlage hätte man darüber hinaus besetzen müssen, wenn man sie nicht immer wieder neu erobern wollte. Das ergäbe aber kaum einen Sinn, da Germanicus sich ja auch so recht frei bewegen konnte, und die notwendige Besatzung auch ihn zu sehr geschwächt hätte.

Eingeschränkt wurde er dort, wo ihm keine genügenden Wege zur Verfügung standen und das Gelände Überfälle begünstigte. Also ließ er Schneisen schlagen und dort, wo es nötig war, einen befestigten Weg anlegen. Befestigt im Sinne des Straßenbaus.
 
Eine andere, ebenso gängige Übersetzung* hat "Heerstraßen und Dammwege" - hier geht es tatsächlich nur um den Straßenbau und sonst nichts.
Der Sinn ist klar: limites (Schneisen) braucht man, wenn der Weg durch Wälder führt, aggeres (Aufschüttungen) braucht man, wenn der Weg durch Moore führt.
Die aggeres erwähnt Tacitus auch beim Marsch zum Ort der Varusschlacht:
praemisso Caecina, ut occulta saltuum scrutaretur pontesque et aggeres umido paludum et fallacibus campis inponeret, incedunt maestos locos visuque ac memoria deformis ("Vorausgeschickt wurde Caecina, um das unübersichtliche Waldgebiet zu erkunden und Brücken und Dämme über die feuchten Sümpfe und trügerischen Moorwiesen anzulegen").
Und auch die pontes longi werden in ganz ähnlicher Weise beschrieben: "Ein schmaler Dammweg war dies zwischen weit ausgedehnten Sümpfen; einst von L. Domitius angelegt" (angustus is trames vastas inter paludes et quondam a L. Domitio aggeratus)


Ja. Können.
Nur lässt sich aus dem Tacitus-Text nirgends eine "erhebliche Höhe" herauslesen.
Vergleiche mit Festungswällen sind fehl am Platz.


* https://books.google.de/books?id=UgzoBQAAQBAJ&pg=PA119&lpg=PA119&dq=heerstra%C3%9Fen+und+dammwege&source=bl&ots=mJRr2YIfME&sig=qMtCD_x9V9C-YnleYnM3BdSU3FM&hl=de&sa=X&ved=0ahUKEwjMztXT3bLSAhVCnRoKHTDvCxQQ6AEIJDAB#v=onepage&q=heerstra%C3%9Fen%20und%20dammwege&f=false
siehe auch:
https://de.wikipedia.org/wiki/Aliso
Aus deiner Quelle: "Schließlich wurde das ganze Gebiet zwischen dem Kastell Aliso und dem Rhein durch neue Heerstraßen und Dammwege erschlossen und gesichert.“
Hier finden wir die Begriffe "ganzes Gebiet" sowie die Mehrzahl "Heerstraßen und Dammwege".
im Gegensatz zum bekannten Limes, der ein "ganzes Gebiet" parallel zum Rhein sicherte, stellte ich mir bisher die Situation an der Lippe etwas anders vor. Hier ging es doch in erster Linie darum, zwei Punkte, nämlich linksrheinisch Vetera und rechtsrheinisch diverse Lager, unmittelbar in (Lippe-)Flussnähe miteinander durch Schneisen und eine einzige Heerstraße, die auch über Dammwege führte, zu verbinden. Im Gegensatz zu dem römisch besetzten Gebiet lag an der Lippe also nur ein nadelförmiger, aus Fluss und Straße bestehender Weg vor, der über zig Kilometer ins germanische Fleisch schnitt. Nachdem Aliso als einziges Lager noch intakt war, ging es ja nur noch um eine neue Verbindung zu diesem.
Aber wie konnte man, im Gegensatz zum Limes, diese ohne breites Hinterland sichern? Zig Kilometer linear Wachttürme oder Postenkette? Flotte auf der Lippe? Ohne diese hätten die Germanen sicher nichts unversucht gelassen, nach der Varusniederlage die neuen "Heerstraßen und Dammwege" zu zerstören und unpassierbar zu machen.
Irgend etwas stört mich an dieser Nadelstich-Variante, zu der man nur eine einzige Heerstraße brauchte. Meiner Meinung nach klingt der antike Bericht eher nach breiterem Korridor als nach einer reinen Verbindung. Dann träfen "Gebiet" und "Straßen und Wege" zu. Und damit kommen wir wieder zu der Frage der Entfernung zum Rhein.
 
Hier finden wir die Begriffe "ganzes Gebiet" sowie die Mehrzahl "Heerstraßen und Dammwege".

Dass ich hier eine andere Übersetzung ins Spiel gebracht hat, hatte nicht den Zweck, diese zur allein gültigen zu erklären.
Ich wollte vielmehr, wie problematisch es ist, Argumentationen am Wortlaut einer Übersetzung aufzuhängen.

Maßgeblich ist das, was der lateinische Text hergibt:

cuncta inter castellum Alisonem ac Rhenum novis limitibus aggeribusque permunita

Genaugenommen steht da nur: "alles zwischen dem Kastell Aliso und dem Rhein".
Ob mit "alles" nur die direkte Linie bis zum Rheinübergang oder ein "ganzes Gebiet" mit mehreren möglichen Wegen gemeint ist, lässt der Text völlig offen.

Und limites aggeresque sind zunächst mal nur Schneisen und Aufschüttungen. Wenn eine einzige Straße mehrmals durch Waldstücke verläuft, braucht man eben mehrere Schneisen, und wenn sie mehrmals Feuchtgebiete passiert, braucht man eben mehrere Dämme. Das würde bereits die Mehrzahl ausreichend erklären.

Auch aus dieser Stelle sind keine Informationen zu gewinnen, ob es sich um eine einzige Straße handelt oder über ein Wegenetz.

Germanicus hatte garantiert vor, ein ziemlich breites "Hinterland zu sichern". Anschließend fuhr er, Tacitus zufolge, mit der Flotte in die Ems und marschierte von dort aus bis zur Weser. Da war mehr geplant als nur ein "Nadelstich".

Letztlich wurden die großangelegten Ambitionen begraben. Das war aber nicht von Germanicus vorgesehen.
 
1.
Zunächst sind hier die Übertretungen des Rheins durch Tiberius zwischen 10 und 14 n. Chr. zu erwähnen. Diese sind durch die römischen Quellen belegt. Streitfrage bleibt, wie weit diese Vorstösse gingen. Im Allgemeinen werden diese Vorstösse als Vorfeldsicherungen zum linksrheinischen Gebiet angesehen. Die Frage bleibt ob dies so war oder ob diese Vorstösse doch weiter gingen.

Velleius 2,120:

[Tiberius] wurde nach Germanien entsandt; er festigte die gallischen (Provinzen), verteilte die Truppen, verstärkte die Besatzungen, und - sich an seiner eigenen Größe messend, nicht am Selbstvertrauen der Feinde, die Italien mit einem Kimbern- und Teutonenfeldzug drohten - überschritt obendrein mit dem Heer den Rhein. Er ging offensiv vor, wo sein Vater und das Vaterland sich mit der Defensive begnügt hatten. Er drang ins Landesinnere ein, öffnete Schneisen, verwüstete Äcker, verbrannte Häuser, zerstreute diejenigen, die ihm im Wege waren und kehrte mit größtem Ruhm, vollzählig mit allen, die er hinübergeführt hatte, ins Winterlager zurück."

Sueton, Tiberius:

18. Im folgenden Jahre ging er von neuem nach Germanien, und da er die Überzeugung gewann, daß die Varianische Niederlage durch die Unbedachtsamkeit und Nachlässigkeit des Heerführers herbeigeführt worden sei, so unternahm er nichts ohne Zuziehung eines Kriegsrates. Er, der sonst stets nach alleinigem, eigenem Gutdünken handelte und sich selbst vollkommen genügte, beriet damals mit mehreren den Plan des Feldzuges. Auch übte er in allen Stücken verschärfte Aufsicht und Vorsorge. Bei seinem Rheinübergange ließ er den gesamten Wagentroß, den er auf ein bestimmtes Maß eingeschränkt hatte, nicht eher über die Brücke gehen, als bis er selbst, am Ufer stehend, die Ladungen der Wagen genau untersucht hatte, damit nichts, als das Erlaubte und Notwendige, mitgenommen würde. Nach dem Übergange über den Rhein richtete er seine Lebensweise so ein, daß er auf dem bloßen Rasen sitzend seine Speise zu sich nahm, oft ohne Zelt übernachtete und die Ordern für den folgenden Tag und wenn irgend ein plötzlicher Auftrag zu erteilen war schriftlich gab, wobei er die Mahnung hinzufügte, daß jeder, der über irgend etwas im Zweifel sei, sich an ihn und keinen andern, und zwar selbst zu jeder beliebigen Stunde der Nacht, um Auskunft wenden sollte. 19. Die Kriegszucht verschärfte er auf das äußerste, wobei er alte Züchtigungsarten und Ehrenstrafen wieder einführte, wie er denn sogar einen Legionslegaten, weil derselbe einige Soldaten mit einem Freigelassenen zur Jagd auf das andere Ufer geschickt hatte, schimpflich bestrafte. Zum Angriff pflegte er sich, obschon er sonst dem Glück und Zufall möglichst wenig überließ, mit der meisten Zuversicht zu entschließen, so oft, wenn er nachts arbeitete, plötzlich und ohne äußern Anstoß das Licht herabfiel und erlosch. Denn dies war ein Vorzeichen, dem er, wie er sagte, sicher vertraute, weil sowohl er selbst, als seine Vorfahren, es bei jedem Kommando bewährt gefunden hatten. Doch wäre er nach glücklicher Beendigung des Feldzuges beinahe von einem Brukterer ermordet worden, der sich unter seine nächste Umgebung gemischt, aber durch sein scheues Benehmen verraten hatte, worauf ihm dann das Geständnis der beabsichtigten Frevelthat durch die Folter erpreßt wurde.
(Kaiserbiographien von Sueton - Text im Projekt Gutenberg)

Dio 56,25:

Unter dem Konsulat des Marcus Aemilius und Statilius Taurus [11 n. Chr.] fielen Tiberius und Germanicus, letzterer in der Stellung eines Prokonsuls, in Germanien ein und verheerten einige Landesteile, konnten jedoch, da sich niemand mit ihnen in eine Schlacht einließ, keinen Sieg erringen und auch keinen Stamm unterwerfen. Denn aus Furcht, eine neue Katastrophe zu erleiden, rückten sie nicht eben weit über den Rhein vor, sondern blieben bis in den Herbst hinein an Ort und Stelle und kehrten erst, nachdem sie den Geburtstag des Augustus gefeiert und dabei unter Leitung der Centurionen ein Pferderennen abgehalten hatten, nach Hause zurück.


Nehmen wir die Quellen zusammen, ergibt sich folgender Eindruck:

- Tiberius agierte sehr vorsichtig.
- Er rückte offensichtlich nicht sehr weit vor (das schreibt Dio ausdrücklich).
- Es gab kein nennenswertes Gefecht.
- Es wurden lediglich Dörfer und Felder verwüstet und Schneisen in Wälder geschlagen.
 
"limitbus aggeribusque" sind tatsächlich Plural: "[durch] Wegschneisen und Dämme".

Das ist auch so zu erwarten. Entlang eines längeren Weges sind es mehrere Schneisen und mehrere Dämme.

Beispiel Lippe: Dort wo Heide vorkommt -über dem berühmten Lippesand gibt es an mehreren Stellen Ortsteinschichten, auf denen keine größeren Bäume und Pflanzen wachsen konnten- brauchte man keine Schneisen, und wo es trocken genug war, brauchte man keinen Damm. Es gab also mehrere Schneisen und Dämme entlang des Lippeweges. (Und auch entlang anderer Strecken.)

Das "Gebiet" steht nicht im Text. Ich übersetze mal Wort für Wort wie es im lateinischen Text steht:

"et cuncta inter castellum Alisonem ac Rhenum novis limitibus aggeribusque permunita"

"und alles zwischen dem Kastell Aliso und/sowie dem Rhein durch neue Wegschneisen Dämme(und) vernünftig ausgebaut/befestigt [wurde]"

Erläuterungen:
1- Das entsprechende Hilfsverb hinter befestigt ist zu ergänzen. Im Lateinischen wird es oft weggelassen.
2- Das '-que' in "aggeribusque" ist ein angehängtes 'und'. "Wegschneisen Dämme(und)" bedeutet also "Wegschneisen und Dämme".
3- 'cuncta' meint 'Alles' im Sinne einer Einheit. Das, auf was es sich bezieht zusammengenommen. 'Alles' trifft das schon recht gut. Im Singular ist der Bezug zur Ganzheit primär. Hier ist es aber Nominativ Plural (1.Fall Mehrzahl). Damit ist die Übersetzung "Das ganze Gebiet" falsch, zumal im Text gar kein Substantiv (Hauptwort) wie 'Gebiet' vorkommt.
4- 'permunire' kann bedeuten eine Befestigung zu vollenden, aber auch etwas gehörig, heute würden wir sagen, etwas vernünftig auszubauen. Das 'befestigen' kann im Sinne der Baukunst, als auch im Sinne einer militärischen Befestigung gemeint sein, was aber sekundär ist und sich nur auf den festen Ausbau der militärischen Bauwerke bezieht. (Natürlich ist eine Verwendung im übertragenen Sinne nicht auszuschließen. Georges, Ausführliches Handwörterbuch Lateinisch-Deutsch gibt dazu eine Stelle bei Tacitus an.) Da es hier ausdrücklich um neue (novis) Bauwerke geht, ist ein vernünftiger Ausbau gemeint. Im Deutschen ist das mit befestigen bereits gemeint, wie in: 'eine Straße fest ausbauen'. In Berücksichtigung der des Lateinischen Unkundigen ist die Übersetzung mit 'befestigen' besser, wenn auch unser heutiger Sprachgebrauch eher das Ausbauen ist.

Es kommen noch mehr Erläuterungen. Ich hoffe sie binnen einer Stunde zu ergänzen, muss aber gerade unterbrechen.

Weiter geht es:

limes: Hier steht der freie Raum im Vordergrund. Gemeint soll zunächst der Ackerrain als Grenze zwischen zwei Feldern gemeint gewesen sein. Dann auch die dort verlaufenden Wege. Schließlich stand der Begriff zur Verfügung, als um die Bezeichnung von Grenzstreifen ging. Hier ist zu berücksichtigen, wie schon gesagt, dass befestigte limites in spätere Zeiten gehören.

agger: Das Wort kann alle Erdaufschüttungen bezeichnen. Und das dafür verwendbare Material. Es kann sogar Straße bedeuten, da diese zumeist leicht erhöht waren und mit entsprechendem Material gebaut wurden. Also nicht nur Dammweg, sondern Straße.

Mit beiden Begriffen kann also eine recht große Bandbreite gemeint sein. Aufgrund der von Sepiola angegebenen Verwendungen in Zusammenhang mit den Germanenkriegen ergibt sich die wahrscheinliche Bedeutung als Wegschneisen und Dämme.
 
Zuletzt bearbeitet:
Im Großen und Ganzen bewerte ich es aber auch so, dass das Vorfeld von Mainz durch die Varus-Niederlage wenig beeinflusst wurde. Besonders der Untermain war wohl weitgehend auch in vorflavischer Zeit unter römischer Kontrolle.

Dafür spricht auch, dass Asprenas sofort die zwei Legionen in Richtung der Standorte am Niederrhein in Marsch setzte um diese zu sichern. Ein möglicher Angriff weiter südlich (Mainz) stand offensichtlich selbst in dieser Situation nicht zu befürchten.
 
@ Sepiola:

Wobei Cassius Dio oder seine Quelle auch das Operieren von einer Basis aus falsch als verharren 'an Ort und Stelle', also in einem Lager, interpretiert haben kann. So kann es durchaus in Einklang mit Velleius Paterculus gebracht werden. In dem Zusammenhang muss man sich auch fragen, was 'weit' meint. Die Elbe wohl nicht. Die Weser, wo man noch kaum bei den Cheruskern war? Ems-und Lippequellen, wohin man leicht maschieren konnte? Da gibt es noch mehr Möglichkeiten.

Insbesondere, wenn man die Tradition der dem Tiberius feindlichen Geschichtsschreibung bedenkt, ist zu fragen, woher das 'nicht weit' stammt. Die Frage, wie weit genau Tiberius vordrang ist wohl nicht zu beantworten. Sie ist auch recht uninteressant, da man von Strafexpedition, evt. in Tateinheit mit Verhandlungen (s.u.) reden kann.

Interessant ist es mangels Ortsangaben zur Zeit wohl nur bei der Frage, ob auch Tiberius bei Kalkriese vorbeimarschiert sein könnte. Mangels Quellen erscheint mir das aber nur als vage Möglichkeit.

Aber große Schlachten und wichtige Weichenstellungen fanden also wohl kaum statt. Da Tiberius dem Germanicus gegenüber Verhandlungen erwähnt, wird auch das ein Hinweis auf seine Tätigkeit in der Zeit sein. Oder zumindest darauf, dass Tacitus es so sah.

Nun, nach meinem Sprachgefühl liegt die Weser nicht weit vom Rhein. Aber ich bin auch vollkommen anders geprägt wie ein Römischer Geschichtsschreiber. Wir haben hier eben einen sehr subjektiven Begriff. Und schon daher kann die Angabe keine großen Gebäude tragen.
 
Zuletzt bearbeitet:
Nun, nach meinem Sprachgefühl liegt die Weser nicht weit vom Rhein. Aber ich bin auch vollkommen anders geprägt wie ein Römischer Geschichtsschreiber. Wir haben hier eben einen sehr subjektiven Begriff. Und schon daher kann die Angabe keine großen Gebäude tragen.

Die Angabe "nicht weit" ist ja auch das einzige, was wir zur Lokalisierung des Varusschlachtfelds haben...
:devil:


Insbesondere, wenn man die Tradition der dem Tiberius feindlichen Geschichtsschreibung bedenkt,
... war mir auch wichtig, den äußerst Tiberius-freundlichen Zeitgenossen als ersten zu zitieren. Der einzige Fluss, dessen Überschreitung er ausdrücklich erwähnt, ist der Rhein. Und was er zu den Aktionen des Tiberius schreibt, steht doch sehr im Einklang mit Dio.

Um die wenig eindrucksvolle Leistung seines Helden aufzubauschen, fällt Velleius nicht viel ein. Ha doch! Tiberius hat Italien vor einem drohenden Kimbern- und Teutonenfeldzug bewahrt!
 
Velleius steht ganz und gar nicht im Einklang mit Dio. Dio sagt ausdrücklich, dass Tiberius an Ort und Stelle blieb. Velleius erwähnt verschiedene Aktionen, die ein Verlassen des Lagers bedingen. Man muss annehmen, dass ein Lager als Basis diente, und dass das zwischen den beiden uminterpretiert wurde, um das zu vereinen. Jedenfalls, wenn wir eng an den Berichten bleiben wollen.

Und ja, dank 'haud procul' können wir den Kalkriese-Thread ewig fortführen! :D
 
Interessant.

Es könnte also eine Art "Basislager" existiert haben.
Ein Marschlager, bzw. temporäres Lager?
Oder ein schon fester Ort, also Standlager? evt. Aliso?
Das führt zurück zur eigentlichen Fragestellung.
 
Da ja hier in diesem Thread auch wieder über Aliso diskutiert wurde, möchte ich hier - eigentlich gehört es ja in den Aliso-Thread - den Beweis versuchen, daß Aliso in Rheinnähe lag.

Wir haben im Aliso-Thread dankenswerterweise eine - wie ich annehme - genaue Übersetzung der fraglichen Stelle bei Cassius Dio

Im Original lautet der Satz: καὶ τὰ ἐρύματα πάντα κατέσχον οἱ βάρβαροι ἄτερ ἑνός, περὶ ὃ ἀσχοληθέντες οὔτε τὸν Ῥῆνον διέβησαν οὔτ' ἐς τὴν Γαλατίαν εἰσέβαλον.
Auf Deutsch: Und die Barbaren nahmen alle Kastelle ein außer einem, und die herum Beschäftigten überschritten weder den Rhein noch fielen sie in Gallien ein.
Das Wort ἀσχοληθέντες besagt also, dass die Barbaren mit diesem einen Kastell beschäftigt waren.
Dass es in Rheinnähe lag, lese ich aus der Stelle auch nicht heraus. Denkbar wäre auch, dass die Germanen erst einmal sämtliche rechtsrheinischen Stützpunkte der Römer in ihre Gewalt bekommen wollten, wo auch immer sie lagen, ehe sie allenfalls einen Einfall in linksrheinisches Gebiet wagen wollten. Oder es besteht überhaupt kein Kausalzusammenhang zwischen Belagerung und Nicht-Rheinüberquerung, sondern Cassius sagt nur, dass die Germanen das Kastell belagerten und nicht den Rhein überschritten. Der in den deutschen Übersetzungen mehr oder weniger deutlich angedeutete Kausalzusammenhang aufgehalten -> daher keine Rheinüberquerung ergibt sich aus dem Original jedenfalls so nicht.


http://www.geschichtsforum.de/780444-post534.html

Allerdings stimme ich mit der Interpretation von Ravenik nicht ganz überein.

Grund-Annahme: Die Germanen drangen aus dem Inneren Germaniens in Richtung Rhein vor. Sie nehmen die auf dem Weg gelegenen Kastelle ein. Dann erreichen sie Aliso, dort sind sie "beschäftigt".

Annahme: Aliso war nicht das letzte (große) Kastell vor dem Rhein. Dann wären die zwischen Aliso und dem Rhein gelegenen Kastelle wegen der "Beschäftigung" auch nicht erobert worden. Aber sie nahmen alle Kastelle ein bis auf Aliso. Also war Aliso doch das letzte (große) Kastell vor dem Rhein.

Beweis durch Widerspruch!

Natürlich ist da noch ein kleines Problem. Denn an der vermuteten Rheinbrücke bei Vetera (Erwähnung in Zshg. mit Agrippina) wird es auch ein (kleines) Kastell direkt am Rhein gegeben haben. Dieses kann nicht Aliso gewesen sein. Auch dieses dürfte dann nicht erobert worden sein. So konnte Asprenas auf den Brückenkopf auf der rechten Rheinseite übergehen und von dort aus die Evakuierung Alisos unterstützen.

Und noch etwas, was mir gerade auffällt. Ich habe nicht bewiesen, daß Aliso in Rheinnähe lag, sondern nur, daß es das dem Rhein nächstgelegene (große) Kastell war. Aber es ist doch anzunehmen, daß es nicht allzu weit vom Rhein entfernt lag.
 
Zuletzt bearbeitet:
Velleius steht ganz und gar nicht im Einklang mit Dio. Dio sagt ausdrücklich, dass Tiberius an Ort und Stelle blieb. Velleius erwähnt verschiedene Aktionen, die ein Verlassen des Lagers bedingen.

Dio ja auch: Sie "verheerten einige Landesteile" - das geht nur, wenn man entweder das Lager verlässt - oder wenn das Lager einige Landesteile umfasst.

Du versuchst hier, Dio misszuverstehen.
 
Annahme: Aliso war nicht das letzte (große) Kastell vor dem Rhein. Dann wären die zwischen Aliso und dem Rhein gelegenen Kastelle wegen der "Beschäftigung" auch nicht erobert worden. Aber sie nahmen alle Kastelle ein bis auf Aliso. Also war Aliso doch das letzte (große) Kastell vor dem Rhein.

Das ist keine zwingende Annahme.

Die Germanen benötigten nicht ihre ganze Streitmacht, um das eine Kastell zu belagern. Nach der Einschließung des Kastells konnte ein großer Teil der Streitmacht weiterziehen, um weitere Kastelle zu erstürmen.
 
Da sind wir auch wieder beim Tacitus.

Im Jahr 16 n.Chr. bricht Germanicus mit 6 Legionen auf um ein belagertes Kastell zu befreien. Fraglich ist, ob dieses Kastell Aliso war. Aber dieses Kastell muß in Rheinnähe gewesen sein. Ansonsten hätte der Germanicus sich die Verschiffung seiner Legionen sparen können. Da hätte man gleich zu Fuß Richtung Elbe weitermarschieren können.
 
Dio ja auch: Sie "verheerten einige Landesteile" - das geht nur, wenn man entweder das Lager verlässt - oder wenn das Lager einige Landesteile umfasst.

Du versuchst hier, Dio misszuverstehen.

Nein, Nein, da widerspricht sich Dio selbst.

Übrigens: :D Das freut mich, weil es mal wieder zeigt, dass ein Geschichtsschreiber nicht immer so genau über seine Worte nachgedacht hat, wie wir es tun.
 
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