Sprachcodes von den Grimms bis Tarantino

Wenn man es aber für wünschenswert hält, dass Jugendliche Klassiker der Jugendbuchliteratur weiterhin selbstständig lesen und das nicht bloß im Schulunterricht tun und wichtiger noch, das Gelesene auch verstehen, dann ist eine behutsame Bearbeitung nicht nur legitim, sondern auch notwendig.
Man muss der Jugend unbekannte Wörter sowieso erklären – warum sollte das bei „Nigger“ oder „Negerkönig“ nicht möglich sein?

Um dieses Seitenthema von meiner Seite zu schließen, noch ein letztes Mal: Das Wort Nigger gehört in das Buch von Mark Twain, weil man damals so sprach. Genauso verhält es sich mit dem Wort Negerkönig in Pippi Langstrumpf. Das sind Jugendbücher, aber weil sie zugleich auch Zeitdokumente sind, sollte man sie nicht verändern – es sei denn, man ist sowieso der Meinung, dass man Dokumente aus anderen Zeiten „nachbessern“ darf, wenn sie nicht oder nicht mehr in die neue Zeit passen.
 
Das ist jetzt Klugs... meinerseits, aber als Mark Twain Huckleberry Finn verfasste, gab es die Sklaverei längst nicht mehr, und auch in der Zeit, in der die Geschichte spielt, kann überhaupt keine Rede davon sein, dass "man" so sprach. Sklavenhalter und "Rednecks" sprachen so. Das Wort "Nigger" war zu allen Zeiten beleidigend und dehumanisierend, auch wenn Sklaven sich gegenseitig manchmal so ansprachen.
 
Das ist jetzt Klugs... meinerseits, aber als Mark Twain Huckleberry Finn verfasste, gab es die Sklaverei längst nicht mehr, und auch in der Zeit, in der die Geschichte spielt, kann überhaupt keine Rede davon sein, dass "man" so sprach. Sklavenhalter und "Rednecks" sprachen so. Das Wort "Nigger" war zu allen Zeiten beleidigend und dehumanisierend, auch wenn Sklaven sich gegenseitig manchmal so ansprachen.
Stimmt, das Wort "Nigger" war zu allen Zeiten beleidigend und dehumanisierend. Du vergisst aber, dass Mark Twain gegen Rassismus war und lässt in seinem Buch dementsprechend nur Rassisten dieses Wort sprechen, um zu zeigen, wessen Geisteskind sie sind.

Sie ihre Sprache sprechen zu lassen ist wirkungsvoller als zu sagen, xy ist ein Rassist.
 
Nochmal OT und mir sind die Unterschiede von z.B. Scorpio oder Dion immer weniger klar noch plausibel.

Ich bin lediglich dagegen, in alten Büchern herum zu pfuschen, d.h. sie dem heutigen Zeitgeist anzupassen. Literatur, und dazu gehören auch Märchen, beschreibt in der Regel das Leben oder die Sicht aufs Leben einer bestimmten Zeit, und würde man sie immer wieder dem jeweiligen Zeitgeist anpassen – zum Beispiel den Negerkönig bei Pippi Langstrumpf durch Südseekönig ersetzen, wie bereits geschehen –, verlöre man das Authentische der Entstehungszeit.

Das ist doch der Punkt. Es sind Quellen der Sichtweise ihrer Zeit. Und man würde auch nicht andere Quellen umschreiben, weil sie unseren Vorstellungen einer nicht-rassistischen Sprache entsprechen sollen.

@Scorpio: Es macht aus meinem Sprachverständnis heraus und für meine politische Sozialisation einen Unterschied, ob ich von "Schwarzen" oder "Negern" oder "Niggern" spreche. Und dieser Unterschied galt m.E. für lange Zeit in der politischen Kultur der BRD. Und er war auch ein Generationsthema, da die ältere in der NS-Phase sozialisierte Generation viel selbstverständlicher von "Neger" (Neger, Neger, Schornsteinfeger") sprach und die folgende Generation sich gegen das NS-Erbe schon sprachlich abgrenzte.

1. "Schwarze" ist der sprachliche Gegenpol zu "Weiße" und entspricht somit einem "normalen" Sprachverständnis. Die Verwendung des Begriff "Weiß" wird erstaunlicherweise ja auch nicht als "Stigmatisierung" verwendet oder als solches diskutiert (außer im positiven Sinne im rechtsextremen Spektrum). Schwarz oder weiss zu sein "klassifiziert" und beschreibt einen Aspekt der äußeren Erscheinung. Einen relativ unwichtigen wie ich finde.

2. Der Begriff "Schwarze" ist in seiner zeitlichen Einordnung - post NS-Periode in der BRD - als "emanzipierender" Begriff gewählt worden, um sich gegen den als Diskriminierung benutzten Begriff "Nigger" abzugrenzen. Das ist ein wichtiger Unterschied in der Abgrenzung der Verwendung der Begriffe.

Und noch heute dürfte der Begriff "Schwarzer" für einen Rassisten eine viel zu schwache Begriffsbildung sein, um seine Ablehnung und Verachtung zu transportieren.

Und vielleicht kann man diesen Nebenstrang verschieben, da die Frage zu Napoleon eigentlich noch nicht - entsprechend neuerer Studien - beantwortet worden ist.
 
Zuletzt bearbeitet:
Dass weiß ich doch, Thane! Ich würde auch nicht von "Negern" sprechen, aber in den 1960ern und 1970ern war das Wort noch neutral, und einige Vertreter der afroamerikanischen Bürgerrechtsbewegung in den 1960er Jahren verwendeten den Begriff als Selbstbeschreibung und das galt auch für bekannte Abolitionisten aus dem 19. Jahrhundert. In den 1950er, 1960er und 1970er Jahren war "Neger" noch eine neutrale Bezeichnung, die keineswegs rassistisch belastet war, und Historiker und Soziologen, die in dieser Zeit sozialisiert wurden, verwende(t)en das Wort wertneutral. Ich muss dabei an die Historikerin Inge Auerbach denken, weil ich heute erst in einem anderen Thread (Spielfilme angesiedelt im 18. Jahrhundert) ihre Publikation "Die Hessen in Amerika, Marburg 1990 " gelesen habe wo sie wertneutral von "Negern" spricht.

Damit sollten wir dann aber wirklich wieder zu Napoleon zurückfinden, denn wie du bereits sagtest, ist da noch längst nicht alles ausgeschöpft
 
Nochmal OT und mir sind die Unterschiede von z.B. Scorpio oder Dion immer weniger klar noch plausibel.



Das ist doch der Punkt. Es sind Quellen der Sichtweise ihrer Zeit. Und man würde auch nicht andere Quellen umschreiben, weil sie unseren Vorstellungen einer nicht-rassistischen Sprache entsprechen sollen.

@Scorpio: Es macht aus meinem Sprachverständnis heraus und für meine politische Sozialisation einen Unterschied, ob ich von "Schwarzen" oder "Negern" oder "Niggern" spreche. Und dieser Unterschied galt m.E. für lange Zeit in der politischen Kultur der BRD. Und er war auch ein Generationsthema, da die ältere in der NS-Phase sozialisierte Generation viel selbstverständlicher von "Neger" (Neger, Neger, Schornsteinfeger") sprach und die folgende Generation sich gegen das NS-Erbe schon sprachlich abgrenzte.

1. "Schwarze" ist der sprachliche Gegenpol zu "Weiße" und entspricht somit einem "normalen" Sprachverständnis. Die Verwendung des Begriff "Weiß" wird erstaunlicherweise ja auch nicht als "Stigmatisierung" verwendet oder als solches diskutiert (außer im positiven Sinne im rechtsextremen Spektrum). Schwarz oder weiss zu sein "klassifiziert" und beschreibt einen Aspekt der äußeren Erscheinung. Einen relativ unwichtigen wie ich finde.

2. Der Begriff "Schwarze" ist in seiner zeitlichen Einordnung - post NS-Periode in der BRD - als "emanzipierender" Begriff gewählt worden, um sich gegen den als Diskriminierung benutzten Begriff "Nigger" abzugrenzen. Das ist ein wichtiger Unterschied in der Abgrenzung der Verwendung der Begriffe.

Und noch heute dürfte der Begriff "Schwarzer" für einen Rassisten eine viel zu schwache Begriffsbildung sein, um seine Ablehnung und Verachtung zu transportieren.

Und vielleicht kann man diesen Nebenstrang verschieben, da die Frage zu Napoleon eigentlich noch nicht - entsprechend neuerer Studien - beantwortet worden ist.

So erstaunlich ist das ja nun auch nicht, dass "Weißer" nicht als Stigmatisierung empfunden wurde/wird, da die Zugehörigkeit zur Gruppe der Weißen nicht mit sozialer Degradierung verbunden war und sich selbst ein Angehöriger der besitzlosen Klasse "White Trash" einem freien Schwarzen überlegen fühlen konnte. Es ist aber die Frage, ob dieser Sprachcode noch in 30 Jahren als emanzipierend empfunden wird. Auch "Negro" war einmal ein emanzipierender Terminus im 19. Jahrhundert. Mein Mitgliederbild Fred Douglass war ein Vorkämpfer der "Negro-Emancipation", 100 Jahre später empfand Malcolm X "Negro" aber als diskriminierend und setzte Apologeten von "White Supremacy" den der "Black Power" entgegen. Der Begriff Schwarzer/Weißer legt eine kulturelle und soziale Identifikation über die Hautfarbe nahe. Es ist sehr gut möglich, dass dieses Labeling in Jahren als unzulänglich empfunden wird.
 
Ich finde es absolut richtig, dass in Büchern für Kinder von heute eine zeitgemäße Sprache verwendet wird und gerade z.B. aus dem Negerkönig ein Südseekönig geworden ist. Kinder übernehmen viel von der Sprache, die sie lesen. "Papa, der Neger(könig) im Fernsehen kann total toll rappen" in der Öffentlichkeit wäre mir peinlich und würde einem Kind und seinen Eltern schnell Probleme einbringen.
Jenseits von Kinderbüchern, sondern Bücher für Erwachsene, die wissen, dass man es mit der Sprache einer anderen Zeit zu tun hat, ist es natürlich absolut erstrebenswert unverändert Originaltexte zu erhalten.
 
Kinder übernehmen viel von der Sprache, die sie lesen. "Papa, der Neger(könig) im Fernsehen kann total toll rappen" in der Öffentlichkeit wäre mir peinlich und würde einem Kind und seinen Eltern schnell Probleme einbringen.
Um das zu verhindern, reicht es dem Kind zu sagen: „Neger sagt man nicht. Eine alte Frau ist auch keine Hexe und man darf Menschen nicht (lebendig) verbrennen, selbst wenn sie Böses getan haben.“ Etc.

Es gibt in Kinder- und Jugendbüchern Vieles, was einer Erklärung bedarf. Dies leisten Eltern zuverlässig seit Generationen – wo also ist das Problem?
 
Wo ist das Problem, wenn ein Kinderbuch behutsam dem heutigen Sprachgebrauch angepasst und der "Negerkönig" durch "Südseekönig" ersetzt wird. Es ist ja nun nicht so, dass damit der Inhalt von Pippi Langstrumpf grob verfälscht oder zensiert wird.
 
Da habe ich mal wieder etwas angestoßen. Der 'Negerkönig' ist zwar durch Erwähnung in den Medien ein prominentes Beispiel geworden, aber definitiv kein Beispiel, dass Probleme bereitet. Sowohl im Original als auch zensiert nicht. (Mal abgesehen davon, dass ich erlebte, wie eine Großmutter ihrem Enkel auf Nachfrage erklärte: "Ein Südseekönig, dass ist ein Negerkönig." Und auch davon abgesehen, dass wir von Dingen reden, die die Mehrheit wohl nicht versteht und nur nachplappert.)

Eine Öffentlichkeit, die hier keine Erklärung akzeptiert, wäre eine in höchstem Maße intolerante Öffentlichkeit, die keinerlei Rücksichtnahme verdient. Aber so weit sehe ich es noch nicht.

Es gibt fraglos andere Beispiele, bei denen es zu weit geht*, aber:

Das ist alles nur Tagespolitik und Ideologie. Ihr geht von heutigem Streit aus. Historisch interessieren andere Dinge.

- Sprachregelungen in der Vergangenheit
- ihre Form und ihr Inhalt
- ihre Schöpfung, bzw. ihr Entstehen
- ihre Verbreitung und ihr Einfluss
- und, wir hatten es schon: Was ist der Überzeugung, was dem Gefühl geschuldet, sich entsprechend einer Sprachregelung äußern zu müssen.

Darüber hinaus ist zum Verständnis wichtig über die Erscheinung selbst zu reden. (Hier bin ich dann auch wieder bei thanepower, dass der ideologische Hintergrund berücksichtigt werden muss. Nur sind wir eben im Bereich zwischen gebildeter Anwendung, bloßer Parteinahme ohne viel Reflektion und dem, was ich Nachplappern nannte und mich interessiert der -sagen wir mal- bildungsferne Teil ebenso.)

Was Sinn- und Unsinn des Ganzen angeht verweise ich gerne auf Augustinus, womit ich es mir zugegeben auch einfach mache. Aber die Benutzung eines bestimmten Vokabulars bestimmt nicht allein die Aussage (und Augustinus bleibt für die Frage natürlich relevant). Es kommt darauf an, was ausgesagt wird. Wenn jemand darauf hinweist, dass die Unterdrückung ethnischer Besonderheiten zu Unfrieden und Gewalt führt, dann wird ihm schnell unterstellt, auf die identitäre Bewegung hereinzufallen. Mir ist dies hier im Forum vorgeworfen worden. Gleichzeitig wurde in einem anderen Thread erläutert, dass die Unterdrückung ethnischer Besonderheiten unter bestimmten Umständen als Völkermord zählt. Auch das habe ich nicht gemeint. Ich bezog mich ganz einfach auf die Bedingungen friedlichen Zusammenlebens, wozu z.B. eben auch gehört die wunderbare (und von anderen verachtete) Karnevalstradition ausleben zu können, ohne dabei andere Traditionen zu unterdrücken. Hier wurden die traditionellen Karnevalsumzüge 1855 verboten, wobei Staat und Kirche Hand in Hand arbeiteten. Also führte man an anderen Orten neue Karnevalsumzüge durch, die Feiern wurden sowieso auf mehreren Privathöfen in überschaubarer Größe abgehalten und die Obrigkeit war weise genug nicht einzugreifen. Also konnten alle irgendwie zufrieden sein und damit leben.

Es kommt dabei nicht auf Wörter an, sondern auf den Inhalt. Die Wörter darüber zu setzen ist nicht nur oberflächlich, sondern verhindert das Verstehen.

Das mag unbequem für die Verfechter einer Sprachregelung sein, ist aber durchaus von Wichtigkeit. Wie sonst will man Einfluss in der Bevölkerung in Zeiten feststellen, wenn Schlagwörter von Bedeutung sind?

*Wenn ich heute ein Lustiges Taschenbuch aufschlage, ist alles entfernt, was im Sinne der Political Correctness genannten Sprachregelung unpassend wirkt, die Lösung aber in aller Regel auf Gewalt beschränkt, was, wenn man vergleicht -ich kenne da jemanden mit einer in den 80ern begonnenen und vollständigen Sammlung-, nicht immer so war.
 
Der 'Negerkönig' ist zwar durch Erwähnung in den Medien ein prominentes Beispiel geworden, aber definitiv kein Beispiel, dass Probleme bereitet.
Stimmt, es gibt bessere Beispiele.


Das ist alles nur Tagespolitik und Ideologie.
Die heutige Tagespolitik ist morgen Geschichte, genau deswegen habe ich auf ähnliche Fälle in Vergangenheit in meinem Beitrag vom Sonntag um 20:37 Uhr hingewiesen.

Aber wie es aussieht, haben wir nichts daraus gelernt, denn heute wiederholt sich die Geschichte nicht nur in Bezug auf Bücher, sondern in allen heutigen Medien. Es scheint wieder eine neue Prüderie um sich zu greifen, die von Jahr zu Jahr stärker wird.


Es kommt darauf an, was ausgesagt wird.
Eben. Es geht nicht nur um Worte, es geht um Inhalte, denn auch die sollen verschwinden, wenn sie nicht mehr in unsere Zeit passen. Hänsel und Gretel, die ja zur Freude der Kinder zu Selbstjustiz greifen und damit propagieren, habe ich schon erwähnt. Aber neuerdings wird z.B. verlangt, dass auch das Märchen Allereirauh aus dem Grimms Märchenbuch verschwinden soll, weil da Inzest thematisiert wird.

Wo wird das enden? Wird man angesichts der MeToo-Debatte bald auch Dornröschen zensieren, weil der Prinz es küsste, ohne vorher um Erlaubnis zu fragen?
 
Wo ist das Problem, wenn ein Kinderbuch behutsam dem heutigen Sprachgebrauch angepasst und der "Negerkönig" durch "Südseekönig" ersetzt wird. Es ist ja nun nicht so, dass damit der Inhalt von Pippi Langstrumpf grob verfälscht oder zensiert wird.

Nun waren auch einige mittelalterliche Fälscher der Meinung, ihre Interpolationen seien lediglich Anpassungen an gegenwärtige Gegebenheiten. Ich bin da Purist - d.h. strikt dagegen, dass Bücher - und wenn es nur Kinderbücher sind - geändert werden. Es sind Zeitdokumente und im damaligen Sprachgebrauch war "Neger" eben weder ein Schimpfwort noch diskriminierend. - Im spanischen ist "negro" bekanntlich nichts weiteres als "schwarz" (weshalb ich den Verdacht hege, dass sich in Resteuropa der Begriff "Neger" statt "Schwarzer" nur deshalb durchgesetzt hatte, weil im ausgehenden Spätmittelalter Spanier und Portugiesen die ersten waren, welche im grösseren Stil mit schwarzen Sklaven handelten).

Im Emmental (einer ländlichen Voralpenregion der Schweiz) existiert seit dem 18. Jahrhundert ein traditonsreiches Gasthaus "zum Mohren" (gemeint ist damit einer der Drei Könige) welches aus Gründen des korrekten Sprachgebrauchs vor einigen Jahren seinen Namen (glücklicherweise nur vorübergehend) ändern musste.
Und wenn einige Kinderbücher tatsächlich diskriminierende Passagen enthalten (etwa die Schatzinsel ?), so sollte diese ebenfalls nicht geändert werden. Man muss dann eben, wie es Dion dargelegt hat, den Kindern eben erklären, dass es Zeiten gab, in denen Rassismus gesellschaftlich mehr oder weniger akzeptiert wurde.

Im Übrigen bin ich der Meinung, dass sich Rassimsus und Diskrimierung nicht über den Sprachgebrauch bekämpfen lässt (dass ist lediglich Heuchelei). Oder wie ein eritreischer Kollege von mir mal gemeint hat: "Sie dürfen mich jetzt nicht mehr als 'Neger' bezeichnen, eine Wohnung geben sie mir aber auch als 'Schwarzen' nicht".
 
Viele Bücher, die heute als klassische Jugendbücher gelten, waren, als sie erschienen keineswegs für Kinder oder Jugendliche als Adressaten gedacht. Gullivers Reisen von Jonathan Swift, das viele nur als Kinderbuch kennen, war eine knallharte Sozialutopie, die ihrem Verfasser den Vorwurf der Menschenfeindlichkeit einbrachte. Nach Irrfahrten ins Land der Riesen (Brobdignag) und Zwerge (Lilliput) besucht Swifts Antiheld der ehemalige Wundarzt Lemuel Gulliver die schwebende Insel Laputa, wo sich verschrobene Wissenschaftler u. a. mit einem Projekt beschäftigen, aus Exkrementen Lebensmittel herzustellen (offensichtlich eine Parodie der Royal Academy) und schließlich Houhym Island, eine Republik wo vernunftbegabte Pferde über das Zerrbild des Menschen herrschen. Gulliver wird schließlich von dort vertrieben, weil die Pferde ihn, weil er vernunftbegabt ist für noch gefährlicher, als die Yahoos halten. Gulliver endet schließlich als Exzentriker und Misanthrop, der seine eigene Familie verstößt und sich nur in der Gegenwart von Pferden wohlfühlt.

Swifts Reiseroman enthält zahlreiche Anspielungen auf Zeitereignisse und Persönlichkeiten aus Politik und Literatur. Obwohl reizvoll zu lesen, setzt das Verständnis von Swifts Roman eine gute Kenntnis der Geschichte, Politik und Literatur der britischen Inseln voraus. Ohne Erläuterungen und Kommentare ist das Buch selbst für Erwachsene schwer verständlich. Ähnlich ist es mit Herman Melvilles "Moby Dick", von dem auf dem Büchermarkt und in den meisten Bibliotheken gekürzte Varianten kursieren. Die eigentliche Handlung, die geradezu manische Jagd von Kapitän Ahab auf den weißen Wal, macht vielleicht gerade mal ein Drittel des Inhalts aus. Immer wieder fügt der Ich-Erzähler traktatähnliche Überlegungen, buchstäblich über Gott und die Welt ein. Zu Melvilles Lebzeiten galt der Roman geradezu als unverkaufbare Antil-Literatur, auch wenn die Rezensionen in der britischen Literaturszene wohlwollender waren, als in den USA, wo vielen Rezensenten Melvilles Lebensauffassung als zu antireligiös galt. Viele Passagen von Melvilles Roman beschäftigen sich mit zoologischen Details oder sind im Soziolekt der Seeleute geschrieben, die für Menschen, die nicht mehr mit Segelschiffen und den technischen Voraussetzungen vertraut sind, wie sie funktionieren oft ausgesprochen schwer verständlich sind. "Moby Dick" dessen Inhalt vielen Menschen zumindest was die eigentliche Handlung betrifft heute bekannt ist, war ein totaler Ladenhüter. Eine Bibliothek kaufte zwei Ausgaben an und sortierte sie als Kuriosum unter zoologische Literatur ein. Ähnlich ist es mit Büchern wie Dickens "Oliver Twist" und "David Copperfield", deren volles Verständnis gute Kenntnisse der Sozialgeschichte des 18. und 19. Jahrhunderts voraussetzt.

Irgendwie finde ich ja die Achtung vor Klassikern der Weltliteratur höchst ehrenwert, und ich habe ungekürzte Ausgaben vieler Bücher, die ich als Junge gerne gelesen habe, erst als erwachsener Mensch kennengelernt, bei vielen war mir gar nicht bekannt, dass ich bis dahin nur gekürzte Varianten gelesen habe. Die Neugier aber auf Literatur, der Wunsch zu lesen, der wurde in meiner Jugend gelegt, wir hatten immer viele Bücher, darunter- ich muss es gestehen auch viel trivialer Quark- aber die Lust zu lesen, habe ich mir bewahrt. Irgendwann hat es mir nicht mehr gereicht, Übersetzungen zu lesen oder mir meist sehr frei bearbeitete Literaturverfilmungen anzusehen. Viele gekürzte Jugendausgaben hatten Schwächen, hatten fragwürdige Übersetzer, aber eines ist jedenfalls sicher, hätte ich als 8Jähriger oder 10Jähriger nur Originale von Klassikern gehabt, ich hätte sie wohl nie zu Ende gelesen. Obwohl gebildet, wären meine Eltern nicht in der Lage gewesen, mir manches zu erklären, mich für die ungekürzten Klassiker zu begeistern. Ein Reiz, den Literatur bis heute für mich hat, war, dass ich mir das Verständnis selbstständig gesucht und angeeignet habe, auch wenn ich manches erst als Erwachsener ausgegraben habe. Ich hätte unkommentierte, ungekürzte Klassiker nicht verstanden, und die Bücher wären verstaubt, ohne dass ich sie gelesen hätte. Ich wäre bis in meine reiferen Jahre ausschließlich auf Literaturverfilmungen und Sekundärliteratur angewiesen geblieben, um mir einen Zugang zum Schatz der Weltliteratur zu verschaffen. Das wäre doch sehr schade gewesen!

Der Vergleich zwischen mittelalterlichen Urkunden, bei denen es um Besitz- und Rechtsverhältnisse geht, zwischen Dokumenten und Urkunden und Kinder/Jugendliteratur erscheint mir problematisch. Das sind doch ganz verschiedene Genregattungen, und bei allem Respekt vor belletristischen Klassikern, wird man denen wenn man sie zum Fetisch, zu Ikone erhebt , bei denen nur ja nichts gekürzt, bearbeitet und aufbereitet werden darf eben so wenig gerecht, als wenn man sie, in bester Absicht,verhunzt und zu Tode kürzt.
Eine schlechte Übersetzung, eine pädagogisch motivierte gekürzte Fassung, die aber den Zugang zum Original erschließen kann, erscheint mir ehrlich gesagt wertvoller, als ein in Leder gebundenes Original, das aber ungelesen, weil unverstanden nur zur Verzierung in der Glasvitrine steht, aber das ist natürlich meine private Ansicht.
 
Es ist aber ein Unterschied, ob man den Inhalt vereinfacht und gefälliger macht, oder ob man die Aussage an unsere Wertvorstellungen angleicht. Letzteres stellt immer eine Verurteilung des Autors dar und will Gedanken ausmerzen. Damit werden nolens volens Quellen verfälscht.

Und im Gegensatz zu den Vereinfachungen ziehen Leute los und schwärzen mit Edding in Bibliotheken Originalversionen. Primitiver geht es kaum, allenfalls durch Bücherverbrennungen, von denen man auch schon wieder - als Kuriosität zumindest - hört, und die Zielrichtung der Zerstörung der Erinnerung ist nicht zu leugnen. Was machen wir, wenn sie beginnen, alles was an den Holocaust erinnert zu vernichten? Im Forum wurde schon gefordert, weil die Erinnerung nicht genehm war, nur die wichtigsten Dokumente der Zeit zu bewahren. Und für die Stasi-Akten wurde die Vernichtung mehrfach gefordert. Das ist also keine theoretische Gefahr mehr.

In diesem Sinne muss ich zugeben, dass die Geschichtswissenschaft hier ein Interesse hat.

Doch ist dort kaum mehr festzustellen, als eine Gewichtung und die Diskussion artete in Kasuistik aus, wie schon am ersten Absatz diesen Posts zu sehen.

Hilfreicher wäre die Diskussion des Phänomens in der Vergangenheit.

Wenn in der Hinsicht das 19. Jahrhundert nicht interessiert und Kommunismus und Nationalsozialismus dabei zu abgegriffen wirken, mag die Geschichte der Karl-May-Ausgaben interessant sein, die ja immer wieder dem Zeitgeist angepasst wurden und die schon der Autor selbst später am liebsten anders geschrieben hätte.

Ich erinnere mich da an eine Diskussion mit unserem Geschichtslehrer. Er kannte eine Ausgabe, die noch vom Dritten Reich beeinflusst war und wir -zum Teil- neuere Versionen. Bis zur nächsten Stunde waren ein Mitschüler und ich darüber im Bilde, wieso dem so war, da unsere Väter als begeisterte Karl May-Leser uns auf die Editionsgeschichte hinwiesen.

Karl May hatte eben irgendwann das Problem, dass seine älteren Geschichten nicht mehr so gut in den Zeitgeist passten. Und da er seine Arbeit nicht abschließen konnte, konnten die Veränderungen eben perpetuiert werden, was bekanntlich die deutschen Gerichte noch ausgiebig beschäftigte.

PS: Der Mensch braucht auch leichte Unterhaltung. Sich nur mit voller Kapazität zu beschäftigen ist ungesund. Was als leichte Unterhaltung durchgeht, ist natürlich unterschiedlich.
 
Es ist aber ein Unterschied, ob man den Inhalt vereinfacht und gefälliger macht, oder ob man die Aussage an unsere Wertvorstellungen angleicht.
Genau das ist der Punkt, weshalb ich eine Gedankenpolizei ablehne, die Medien durchforstet, um sie dem Zeitgeist anzupassen. Dies ist der Versuch, das Geschehene und Gedachte ungeschehen bzw. ungedacht zu machen. Als ob man sich schämte für das, was andere Menschen in Gedanken und Taten „verbrochen“ hatten.


Und im Gegensatz zu den Vereinfachungen ziehen Leute los und schwärzen mit Edding in Bibliotheken Originalversionen. Primitiver geht es kaum, allenfalls durch Bücherverbrennungen, von denen man auch schon wieder - als Kuriosität zumindest - hört, und die Zielrichtung der Zerstörung der Erinnerung ist nicht zu leugnen.
Apropos Bücherverbrennungen: Wer weiß schon, dass es bei uns Bücherverbrennungen auch noch in den 1950er Jahren (genauer: 1956) gab? Übrigens mit der gleichen Begründung wie zu Nazizeit: Schmutz und Schund sollte verschwinden. Dazu zählten die 25 Akteure – geleitet von 2 Diakonissen – auch Werke von Erich Kästner, Günther Grass und Albert Camus. Unterstützung lieferte Apostelgeschichte 19, 18-19, wo es zwar um heidnische Zauberbücher geht, die verbrannt wurden, aber das machte nichts, denn der damalige Christliche Verein Junger Männer (CVJM) fand hinterher gleichwohl, die Verbrennung wäre ein „Akt christlicher Jugend in Notwehr“.

Schon ein Jahr zuvor gab es Umtauschaktionen „Schmöker und Comics“ gegen „gute“ Bücher oder Hefte, wobei die „schlechten“ Bücher und Hefte anschließend verbrannt oder vergraben wurden.

Ebenfalls wenig bekannt ist, dass es kürzlich in den Parthenon der verbotenen Bücher in Kassel zwar solche Bücher aus der Nazizeit und aus dem Ausland eingebaut wurden, nicht aber aus der Bundesrepublik Deutschland. Die Begründung: Verbotene Bücher sind eben verboten und können nicht einmal als Bestandteil eines Kunstwerkes fungieren.

Mit anderen Worten: Es war erlaubt mit dem Finger auf die Zensur der anderen zu zeigen, nicht aber auf unsere eigene.
 
MOD/ Die permante Nutzung der Diskussion zum Plazieren politischer Statements ist regelwidrig:
„Für Diskussionen über aktuelle politische Themen ist das Geschichtsforum nicht der richtige Platz. Ebensowenig ist das Forum eine Plattform für politische, religiöse und sonstige weltanschauliche Glaubensbekenntnisse.“
http://www.geschichtsforum.de/help/regeln/
Weitere derartige Vermischungen werden gelöscht /MOD
 
Bei der Diskussion um die mehr oder weniger behutsame Änderung von Büchern kommt mir ein Aspekt zu kurz: der Respekt vor der Leistung und dem Werk des Autors. Bücher sind doch nicht irgendeine x-beliebige Handelsware, deren Inhalt man einfach den jeweiligen Erfordernissen des Marktes anpassen kann. Gerade bei Kinderbüchern habe ich aber oft den Eindruck, dass sie überhaupt nicht als literarische Werke mit eigenständigem Wert wahrgenommen werden, sondern als bloßer Gebrauchsartikel, um Kindern ein bestimmtes Weltbild zu vermitteln, und die daher bedenkenlos an den jeweiligen Zeitgeist angepasst werden.
Meiner Meinung nach sollte aber immer die "Ausgabe letzter Hand" des Autors maßgeblich sein. Nur der Autor selbst hat in meinen Augen die Legitimation darüber zu entscheiden, wie er sein Werk verfasst. Natürlich kann man darüber spekulieren, ob er ein Buch heute anders verfasst hätte - aber eben nicht mehr als spekulieren.
Wenn man meint, dass ein Werk heutzutage nicht mehr tragbar ist, halte ich es allemal für besser, es nicht mehr aufzulegen, als den Lesern eine entstellte Fassung unterzujubeln, die der Autor, unter dessen Namen sie erscheint, gar nicht geschrieben hat.

Nebenbei finde ich es absurd, dass einerseits Generationen von Experten viel Zeit und Energie aufwenden, um bei antiken und mittelalterlichen Texten, die in abweichenden Handschriften oder verderbten Fassungen überliefert sind, dem Urtext möglichst nahezukommen, andererseits aber ab dem 19. Jhdt. erschienene Texte heutzutage bewusst verfälscht werden. Die Experten in 1000, 2000 Jahren können sich dann mit der Wiederherstellung des Originals abplagen ...
 
Wenn man meint, dass ein Werk heutzutage nicht mehr tragbar ist, halte ich es allemal für besser, es nicht mehr aufzulegen, als den Lesern eine entstellte Fassung unterzujubeln, die der Autor, unter dessen Namen sie erscheint, gar nicht geschrieben hat.
Ich fände das traurig. Man stelle sich vor, Grimms Sammlung der Kinder- und Hausmärchen würden nicht mehr aufgelegt. Oder ein Teil der Märchen würden immer dann aus der Sammlung getilgt, wenn Moralvorstellungen sich änderten, dann bliebe in ein paar hundert Jahren vermutlich nichts mehr oder nur ein kümmerlicher Rest davon übrig.

Märchen bringen uns eine längst vergangene Zeit näher, die ohnehin niemals oder nur im übertragenen Sinn real existierte. Warum also darin herum pfuschen oder das einst Geschriebene ganz zu unterdrücken? Warum sollte jemand, der in seiner Jugend diese Märchen vorgelesen bekam, als Erwachsener sie seinen Kindern nicht mehr vorlesen dürfen? Mit welchem Recht sollte jemand für mich entscheiden, welche Bücher meine Kinder lesen dürfen und welche nicht?

Alte Märchen sind genauso ein Kulturgut wie die Mauern einer alten Burg. Während wir bei den Mauern penibel darauf achten, dass sie so erhalten bleiben, wie wir sie vorgefunden haben, maßen wir uns bei Märchen an, sie „verbessern“ zu dürfen bzw. sie ganz verschwinden zu lassen, wenn sie uns nicht gefallen.

Ich weiß, so haben Fachleute im 19. Jhdt. über Bücher und Mauern gedacht und leider vielfach auch Hand angelegt, aber wir sind inzwischen weiter – oder ist der Geist des 19. Jhdt. immer noch bzw. wieder unter uns?
 
Zurück
Oben