Transformation der Dame-Schachfigur im 15. Jahrhundert

Die Königin im Mittelalter hatte durchaus wichtige Aufgaben und Handlungsmöglichkeiten. Sehen wir die Figuren als Abbildung des Hofs mit König, Königin, Bischöfen, Rittern und bezahlten Garden, kann man das Schachspiel auch als Abbild von Intrigen sehen.
Das möchte ich mal als abwegig disqualifizieren. Dann müsste der Spieler ja gegen sich selbst intrigieren. Und selbst wenn wir den unwahrscheinlichen Fall annähmen, dass eine Schachpartei nicht nur aus 16 Figuren sondern auch aus 16 Spielern bestünde, bietet sich hier spielerisch kein Raum zur Intrige. Das hieße nämlich verlieren. Der Wandel vom indischen Schach zum europäischen Schach ist der, dass die logische Abbildung des Heeres (Šaṭranǧ = vier Flügel/Waffengattungen) zur nur noch mäßig logischen Abbildung der Sozialstruktur wurde. Begünstigt wurde das sicher dadurch, dass der zum Sattel abstrahierte Elephant (al-Fil) in Europa mit dem Bischof identifiziert wurde (Elefantensattel als Mitra). König und Königin standen also Bischöfe, Herzöge und Grafen zur Seite, dagegen im indischen Schach den beiden Königen (man spielte ja idealerweise nicht zu zweit sondern zu viert), bzw. König und Wezir standen Elefanten, Reiter und Streitwagen (im Persischen Roḫ, daher unsere Rochade, die im Persischen ironischerweise, da ja eine in Europa entwickelte moderne Schachregel nach Persien kam, nach einem arabischen Wort (قلعة, qalaʿat, 'Burg') قلعه qalaʿah heißt.
 
....Das jemand einfach experimentiert hat, bleibt natürlich möglich. Dem ist nur mangels Quellen kein Wahrheitswert zuzuordnen...

Da bin ich 100% bei dir, es gab sicher einen Hintergrund zB in der Verlagerung vom Nahkampf zu Fernwaffen oder ähnliches, aber wenn man die leider abhanden gekommene Welt der Schachcafes mit den Blitzern miterlebt hat kann man sich vorstellen wie sich das entwickelt hat. "Da traust dich aber mit deinem Häuptling jetzt nur hinziehen weil meine Regina nicht weit genug fahren kann" "Probiers ruhig, wennst dich traust fahr mit deiner Regina so weit du willst", dazwischen habens die Sanduhr umgeschmissen.^^
 
Ich bin überzeugt davon, dass für die Entstehung der Spielfigur der Dame ausschliesslich Hypothese 4 verantwortlich ist - die höfische Kultur und damit verbunden vor allem die Überhöhung der "Dame" im Minnekult. Auch gehörte das Schaschspiel zu den sieben ritterlichen Tugenden, womit eine weitere Verbindung zum Minnekult gegeben wäre. Als "Vorspiel" hielt das Spiel als "Liebesschach" auch Einzug in die Minnedichtung.
Die Wandlung des Wesirs zur Königin bzw. Dame erscheint plausibel: Man konnte mit dem (muslemischen) Wesir in (christlichen) Europa nichts anfangen. Gleichzeitig zu dieser Änderung gibt es auch eine Wandlung in der Wahrnehmung der Frauen. Im Minnekult, den es im frühen Mittelalter so nicht gab, wird das deutlich. Und Schachspiel ist eindeutig eine Nachahmung des Kriegsspiels, ist also eine Sache der Ritter.

Zwar gibt es Thesen, welche den Ursprung des mittelalterlichen Marienkults in der Minnekultur erkennen, aber ganz unabhängig davon, ob diese beiden kulturellen Entwicklungen in usrsächlichem Zusammenhang stehen oder nicht, am Anfang des Minnekults stand eindeutig die zwar idealisierte, aber nichtsdestotrotz weltliche Dame.
Eben. Der Marienkult entstand zwar auch zu dieser Zeit, aber da die Kirche das Schachspiel ablehnte, ist Himmelskönigin als Namensgeberin der Figur wenig wahrscheinlich. Außerdem: Eine solche Figur zu schlagen käme einem Sakrileg gleich.

Könnte es gerade für die veränderte Damenbewegung nicht mehrere Ursachen geben? Könnte es nicht einfach in die Zeit passen? Nicht als irgendeine Kopie der Realität oder als Allegorie, sondern einfach so, wie wir sagen, dass eine Neuerung ganz einfach dem Zeitgeist entspricht?
Ja, auch das ist plausibel: Die Wandlung des Wesirs zur Dame war ja auch dem Zeitgeist geschuldet. Für die mächtig werdende Dame/Königin-Figur käme gerade in dieser Zeit die mächtige Isabella von Spanien als Vorbild in Frage. Auch die nun stärkere Stellung der Bauern ist vielleicht der gewachsenen Bedeutung der einfachen Fußsoldaten in jener Zeit zuzuschreiben.

Begünstigt wurde das sicher dadurch, dass der zum Sattel abstrahierte Elephant (al-Fil) in Europa mit dem Bischof identifiziert wurde (Elefantensattel als Mitra).
Der Läufer wird nur in England und Island als Bischof genannt, im Rest Europas ist das nicht der Fall.
 
Der Läufer wird nur in England und Island als Bischof genannt, im Rest Europas ist das nicht der Fall.
Zunächst einmal wird die Figur
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so dargestellt. Auch bereits bei den Lewis Chessmen (11. Jhdt.):
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Bei den Lewis Chessmen ist umstritten, ob die von norwegischen oder isländischen Handwerkern hergestellt wurden. (Die Doppelinsel Harris and Lewis, äußere Hebriden (also Westschottland) gehörte damals - zumindest formal - zu Norwegen, wobei die Orkeneyinga Saga ein etwas anderes Bild darstellt: Nämlich das zwar formal alle Norweger in Schottland die Herrschaft des norwegischen Königs anerkannten, aber dessen tatsächliche Macht über "seine" schottischen Besitzungen eher darin lag, dass er mal diesen, mal jenen Jarl mit Schiffen unterstützen musste.)

Dann schauen wir uns die Figur mal in den Bezeichnungen an:
Afrikaans: Loper/biskop
Niederländisch: loper/raadsheer/bisschop
Kymrisch: Esgob
Portugiesisch: Bispo
Isländisch: Biskup
Faörisch: Bispur
Lateinisch: Alfinus/Episcopus cornutus
Sind also mehr als nur die Engländer. Die Identifikation mit dem Bischof ist seit dem 11. Jhdt. aus dem westskandinavischen Raum nachweisbar. Wie die Engländer auf den Bischof kamen, ob das eigenständig war oder nicht, ist dem nicht zu entnehmen, woher haben die Niederländer das?
Gemeinsam ist allen (vom Lateinischen gehörnten Bischof abgesehen), dass es sich um atlantische Seefahrervölker handelt, wo der Läufer mit dem Begriff des Bischofs versehen ist. Gegenseitige Beeinflussung wäre also naheliegend, wobei gerade bei den Portugiesen wiederum der skandinavische Einfluss eher gering, der britische Einfluss eher spät (18. Jhdt.) anzusetzen ist. D.h. man müsste mal überprüfen, wie alt der Läufer-Begriff im Portugiesischen ist.

Jacobo Cessolis definiert die alphyns als Richter.
 
Der Läufer wird nur in England und Island als Bischof genannt, im Rest Europas ist das nicht der Fall.

Das Lewis-Schach wurde zwar auf den Hebriden gefunden aber vermutlich in Norwegen hergestellt. Und dort sind die Läufer ebenfalls Bischöfe während die Türme entweder Wächter/Kriegsknechte oder in den Schild beissende Berserker sind.
 
Zunächst einmal wird die Figur
Chess_bishop_icon.png
so dargestellt.
Das wurde erst im Laufe des 19. Jahrhunderts festgelegt. In Frankreich wurde der Läufer von Anfang an als le fou, der Narr, bezeichnet und auch so dargestellt. Hier eine Darstellung aus dem 16. Jahrhundert:

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und hier die französische Notation aus dem Jahr 1849:

1849-schach-notation.jpg


Das alles ist wohl historisch bedingt, d.h. es spielte eine Rolle, woher das Schachspiel ins Land kam und wie die Übersetzung aus dem Arabischen bzw. Umbenennungen ausfielen.
 
Ich denke, dass in dem frz. fou das persisch-arabische al-Fil steckt und pseudoetymologisch umgedeutet wurde, weil das frz. dazu neigt, -l im Silbenauslaut umzuwandeln. (altum > haute, castellum > château, alberenjena > aubergine, delphin > dauphin). Nun könnte man einwenden, dass der Wandel eigentlich immer in Richtung eines akzentuierten ['o] geht ([ʃaˈtoː]), bei Fou aber der Auslaut ein anderer ist: [fu]. Aber auch beim fou lautet das Etymon tatsächlich auf -l aus (fol), in der weiblichen Form ist es noch erhalten (folle).
 
Hier ein Läufer aus Cluny, aus Elfenbein (Walroß oder Narrwal):
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Allerdings wird als Herstellungsort England oder Deutschland angesetzt. Per C14-Methode datiert auf das späte 8. - späte 10. Jhdt.
Typologisch dem Bischof aus dem Lewis recht ähnlich ist dieses Exemplar aus Trondheim:
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Dieser von Armbrustschützen umgebene Bischof aus Elfenbei ist auf das 14. Jhdt. datiert und stammt aus Bayern:
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Ein typologisch sehr ähnliches Stück, aber weniger schön, findet sich in Berlin.
 
Interessant sind auch andere Bezeichungen des Läufers, die häufig als senes, also 'alte Männer' bezeichnet werden. In einem englischen Gedicht (also ein lateinisches Gedicht aus England stammend) werden sie als calvus (Glatzkopf) bezeichnet. Spielt hier die Tonsur eine Rolle? Im guldin Spil heißt es:

Die zwen alten auf dem spil bedütend gaystlichen in der sel vernunft und willen.​
 
Der Marienkult ist möglicherweise älter als das Schachspiel.
Die Verehrung Marias als "Königin" beginnt schon im 5. Jahrhundert:
Maria Königin – Wikipedia
Ja - ich formulierte ungenau. Ich meinte - Zitat aus Wikipedia (Fettschreibung von mir):
Die Verehrung Mariens als Königin wurde im zweiten Jahrtausend mit gesteigerter Intensität vor allem im Westen weiter gepflegt. Das Bild der gekrönten Himmelskönigin wurde im hohen Mittelalter im Westen zum vorherrschenden Typus des Marienbildes.
 
Eines ist nicht uninteressant, auch wenn Hofnarren weit verbreitet waren, die Hofnarren, die internationale Bekanntheit haben, gehörten fast alle dem französischen Hof an.
 
Yalom beschreibt in ihrem Buch, wie sie darauf gekommen ist, über die Entwicklung der Schachkönigin zu schreiben. In einem Bostoner Museum, wo sie zu einer Lesung aus ihrem Buch Die Geschichte der Brust eingeladen war, wurde ihr eine stillende Madonna gezeigt:

While preparing for a lecture at the Isabella Stewart Garner Museum in Bpston on my book A history of the Breast, I was shown a small ivry figure of a Madonna and Child by one of the curators, who referred it as a "chess queen". This figure of Mary suckling the baby Jesus captured my imagination. How could a 14th-century nursing Madonna be a chess queen? (S. XVII)​

Sie hat (oder hatte? Sie vertröstet den Leser auf Kapitel 7 und ich habe bisher nur die Einführung gelesen) also eher Zweifel an der Behauptung, dass es sich um eine Schachfigur handelte. Das Bild habe ich mir aus dem Netz gefischt:
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In ihrer Einführung vertritt sie jedenfalls die These, dass die Königin nur im europäischen Schach überhaupt zur Figur werden konnte:

In contrast to the Near East, where the vizier was the shah's secon-in-commad, the European queen was the king's others haf, his trusted companion, his deputy weh he was absent or incapacitted. The Christian monogamous ideal, which paired one husband and one wife, stood in contrast to the polygamous possibilities allowed Muslim men, and the pairing of king and queen on the chessboard symbolized a partnership more significant and mor enduring than that of a king and his chief minister. [...]
In India, where chess had originated in the fifth century, it would have made no sense to have a queen on the board.
[...]
When the Arabs carried the game [...] into Spain and Sicily, chess began to reflect Western feudal structures and took a social dimension. The queen replaced the vizier, the horse was transformed into a knight, the chariot into a tower [...], the Elephant ito a bishop (though in France, it became a jester, and in Italy, a standard bearer). (S. XVIII f.)​

Über die Aufwertung der Königin schreibt sie in ihrer Einleitung:

The chess queen did not start out as the mightiest piece on board. In fact [...] she was initially the weakest member of her community*... Yet by the end of the fifteenth century, she ha acquired an unparalleled range of movements. In 1497, when Isabelle of Castile reigned over Spain, a Spanish book recognized that the chess queen had become the most potent piece on the board. This book, written by a certain Lucena and titled The Art of Chess (Arte de axedres), was a watersehd dividing "old" chess from "new" chess - the game we still play today.
It is fitting that the chess queen reached the summmit of her power under the rule of Isabella of Castile [...] This convergence of queen and icon begs anthother set of questions: Was the evolution of the chess queen related to the increased prominence of queens during the late Middle Ages. [...] (S. XX f.)

A second cultural current that coincided withe the chess queen's birth and reinforced the institution of queenship was the cultu of Virgin Mary. From the 11th century onword, the miracolous birth of Jesus became the subject of countless poems [...] Hundreds og churches were deidcated to Our Lady [...]
A third influence was the cult of romantic love. The adoration of a beautiful lady, often the wife of a king or powerful noble, was first celebrated by troubadors in the South of France [...] Chess soon became associated with good breeding and "courtesy" (S. XXII)
Insofern hat die Einleitung von Yalom erst mal nichts wirklich Neues zu bieten. Mal schau'n, was auf den nächsten 240 Seiten angeboten wird.
*Über diese Wertung kann man sicher streiten.
 
Diese lieben Damentheorien übersehen halt leider völlig den Umstand dass auch die Läufer in gleicher Weise dynamisiert worden sind.
 
Yalom sieht jedenfalls entweder Adelheid (Adelaide), die Frau von Otto I. oder Theophanu, ihre Schwiegertochter als Rollenmodell für die mächtige Königin, welche das Schachspiel revolutioniert.

Was it Adelaide or Theophanu who served as a modell for the chess queen in the Einsiedeln Poem? A ciricumstancial case can be made in the favour of both. S.24
Zuvor geht sie aber auch auf Königin Toda ein, die zum einen noch in Dokumenten ihres Sohnes regelmäßig genannt wurde, selbst, als dieser noch verheiratet war, zum anderen trat sie für ihren Enkel Sancho den Fetten ein, einen Sohn einer ihrer Töchter von ihrem Schwiegersohn, dem Mann einer ihrer anderen Töchter, entmachtet worden war und setzte ihren Enkel mit Hilfe von Truppen Abd ar-Rahmans III. wieder auf den leonesischen Thron, sie wird von Yalom einerseits als Schachspielerin, andererseits aber auch als ein Rollenmodell, zeitgenössisch zu Adelheid und Tehophanu präsentiert. S. 12, 13
Ähnlich wie Toda, übernahm auch Adelheid, selbst als Otto II. bereits mit Theophanu verheiratet war, immer noch Einfluss auf die Politik und auf die Erziehung ihres Enkels Otto III. (den Yalom als quixotic personality charakterisiert (25)) Die Beziehung von Adelheid und Theophanu blieb immer problematisch, auch wenn sie sich zeitweise zusammenrauften. Letztendlich übernahm die von der Macht verstoßene Adelheid nach Theophanus Tod wieder die Regentschaft für ihren Enkel. Theophanu selbst hatte als imperator augustus eine Urkunde in Italien fimiert, nicht als imperatrix augusta, wie Yalom betont (22).

The appearance of the chess queen and the count/elder/future bishop aorund the year 1000 corresponded to a new in European history, marked by the rising power of kingship, queenship and the church. [...] The game of chess [...] provided the perfect representation of a social order in which erveryone was expected to know his or her exact place. S. 26 f.
Im Prinzip sieht Yalom den Prozess der Königin-Werdung des Wazirs als fließend an, ein Nebeneinander von beiden Figuren:

Inn each country the chess queen eventually showed her face, although rivalry with the vizier sometimes retarded her appearance for decadesand even centuries. S. 29 f.​
 
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