Noch ein paar Gedanken und Beobachtungen:
Seit dem späten 18. Jahrhundert war das traditionelle Weltbild, wonach die Erde und die Menschheit vor ungefähr 6000 Jahren in sechs Tagen von Gott erschaffen wurde, immer mehr ins Wanken gekommen. Georges-Louis Leclerc de Buffon schätzte in seinen "Epoques de la nature" (1778) das Alter der Erde auf immerhin 75.000 Jahre. Die Zahl wurde bald überboten. Und es häuften sich die Indizien, dass in vergangenen Zeiten die Erde von ganz anderen Lebewesen bewohnt war. Die Geschichte der Erde und der Menschheit war ja noch viel phantastischer, als man sich das im bisherigen, schön übersichtlichen Weltbild so vorgestellt hatte! Die Gelehrten stritten sich geraume Zeit darüber, ob sich die heutige Gestalt der Erde und ihrer Lebewesen ganz langsam in unvorstellbar langen Zeiträumen entwickelt hatte, oder ob es durch unvorstellbare Katastrophen immer wieder zu Neuanfängen gekommen war. Eine Weile hatte die Katastrophentheorie die Nase vorn:
Pariser Akademiestreit – Wikipedia
Darwin ("On the Origin of Species", 1859) ging von einer langsamen Evolution aus, diese Ansicht setzte sich in den kommenden Jahrzehnten mehrheitlich durch. Das war so ungeführ um 1880.
Nun schließen sich lange Zeiträume und große Katastrophen nicht aus. Und was der Wissenschaft verwehrt ist, nämlich Zeitreisen in die Vergangenheit, um nachzusehen, wie das denn damals wirklich war, ist für die kreative Fantasie kein Hindernis. Madame Blavatsky setzt sich in ihrer "Geheimlehre" (1888) mit einigen damals kursierenden wissenschaftlichen Hypothesen auseinander. Wo diese in ihr Weltbild passen, werden sie eingebaut. Wo nicht, wird über die armselige Wissenschaft gespöttelt. Zumal diese bei vielen Fragen, z. B. "Seit wann gibt es Menschen?" passen musste oder zumindest keine einhellige Antwort geben konnte.
Madame Blavatsky konnte selbstverständlich ihrem neugierigen Publikum die richtigen Antworten liefern: Den physischen Menschen gibt es schon seit 18 Millionen Jahren, die heutigen Menschen hatten bereits vier "Wurzelrassen" als Vorgänger, darunter die "lemurische" und die "atlantische". Die fünfte Wurzelrasse ist die "arische". Und deren älteste Völker - die indischen Arier und die Ägypter - gibt es schon seit fast einer Million Jahre. Blavatsky stellt ihre Geheimlehre in bewussten Gegensatz "zur modernen Wissenschaft ..., ebenso wie zu landläufigen religiösen Dogmen". Dabei werden sowohl wissenschaftliche Hypothesen wie auch alte Mythen verschiedener Völker in beliebigster Weise uminterpretiert und zu einem monströsen neuen Weltbild zusammengefügt (Details später).
Nicholas Goodrick-Clarke* bringt es folgendermaßen auf den Punkt:
"Wie läßt sich die enthusiastische Aufnahme von Madame Blavatskys Ideen durch eine bedeutende Anzahl von Europäern und Amerikanern ab 1880 erklären? Die Theosophie bot eine anziehende Mischung aus alten religiösen Vorstellungen und neuen Konzepten, die den darwinistischen Theorien über Entwicklung und der modernen Wissenschaft entlehnt waren. Dieser Glaube besaß die Kraft, diejenigen zu trösten, die durch das Unglaubwürdigwerden der 'orthodoxen' Religionen, durch den rationalisierenden und entmystifizierenden Prozeß der Wissenschaft und durch die Bürde des rapiden sozialen und wirtschaftlichen Wandels im späten 19. Jahrhundert verunsichert worden waren."
Den Erfolg in Deutschland und Österreich begreift Goodrick-Clarke als "neuromantische Protestbewegung, wie sie im wilhelminischen Deutschland als Teil einer Lebensreform gekannt war. Diese Bewegung repräsentierte einen Versuch der Mittelschicht, den Schmerz der Wunden, die das moderne Leben mit seinen Großstädten und Industrien geschlagen hatte, zu lindern. Eine Vielzahl alternativer Lebensstile, wie z. B. Kräuterheilkunde und natürliche Medizin, Vegetarismus, Nudismus und sich selbstversorgende ländliche Kommunen, wurde von kleinen Gruppen getragen, die hofften, einen natürlicheren Lebensraum für sich zurückzuerobern."
Zu den Menschen, die an der Moderne litten, gehörte auch Guido List. Linderung versprach er sich von Ausflügen in die idyllische Natur und dem Schwelgen in längst vergangenen Zeiten. Ein Erfolg wurde sein Roman "Carnuntum" (1888), in dem heldenhafte Germanen die verhassten Römer in die Pfanne hauen, in der "Sonnwendnacht 375" - in bewusstem Gegensatz zu den historischen Quellen, die List selbstverständlich als Geschichtsfälschung "durchschaut" hatte.**
Die Methode, kraft der eigenen Fantasie die Vergangenheit zu "rekonstruieren", verfolgte List konsequent weiter. Sein Hass auf "Rom" beschränkte sich nicht auf das antike Rom, er zielte insbesondere auf das christliche Rom. Die Päpste waren schuld daran, dass die hochgeistige Literatur der alten Germanen, die in Runenbüchern niedergeschrieben war, vernichtet wurde. Sie waren schuld daran, dass die wissenschaftlichen Einrichtungen der Germanen geschlossen wurden und das germanische Schulwesen zum Erliegen kam:
"Die Halgadomschule wurde natürlich sofort geschlossen, aber durch keine neue christliche ersetzt, und so ward Deutschland mählich entschult, und eine Periode unglaublicher Verrohung und Verdummung unter dem segensspendenden Krummstab trat ein. Nach und nach erwuchsen - aber sehr spärlich - die Klosterschulen, welche nur in lateinischer Sprache unterrichteten, um neue Geistliche zu erziehen und das Entnationalisierungswerk zu fördern und - wenn möglich - zu vollenden."***
Doch die germanischen Priester waren natürlich nicht dumm, sie trafen die nötigen Vorkehrungen, um ihr Wissen im Geheimen weiterzugeben. Sie gründeten Geheimgesellschaften (deren Erben in den Minnesänger- und Ritterorden, Femegerichten, Freimaurern und Rosenkreuzern zu finden seien) und entwickelten Codes. So wurde ihre Weisheit in codierter Form festgehalten, z. B. von den mittelalterlichen Heraldikern in Wappen und von den mittelalterlichen Maurern in Bauwerken. Und nun musste das Ganze nur noch von Guido List "entschlüsselt" zu werden, der sich Wappen oder spätgotisches Maßwerk anschaute und dann verkündete, was das alles zu bedeuten hatte. Ebenso "entschlüsselte" List die magische Bedeutung der Runen. Sein Antisemitismus hinderte List nicht, auch die Kabbala in sein Weltbild einzubauen. "Er behauptete, daß die alten Priesterkönige ihr Wissen während des 8. Jahrhunderts mündlich an die Rabbiner Kölns weitergegeben hatten, um ihr Überleben während der Zeit christlicher Unterdrückung zu sichern. Die Rabbis hätten dann diese Geheimnisse in den kabbalistischen Büchern niedergeschrieben, welche fälschlicherweise als jüdisch-mystische Tradition betrachtet würden." (Goodrick-Clarke, S. 60)
Noch eine kleine Kostprobe aus Lists politischen Utopien:
"In Hinkunft hat daher nicht mehr das papierene Befähigungszeugnis einer Mittel- oder Hochschule zur Erreichung von Stiftungsplätzen, Unterstützungen, maßgebender und gutbezahlter Stellen im Staatsdienste, an Gerichten, an Hochschulen usw. den Ausschlag zu geben, sondern das rassenkundliche Ergebnis über die Zugehörigkeit zur arischen Rasse deutschen Stammes des Bewerbers. Es müssen und werden Preise auf ario-germanische Reinzucht, Eheerleichterungen reinrassiger Brauptaare, und entsprechend andere, die Reinzucht erleichternde und fördernde Maßnahmen ausgeworfen und gewährt werden und Mischehen zwischen der Edelrasse und minderwertigen Rassen unter allen Umständen verhindert werden."****
* Die okkulten Wurzeln des Nationalsozialismus, Graz/Stuttgart 1997, S. 27
**
Guido List, Adolf Hitler und Carnuntum - Festschrift Friedrich Brein
*** Von der Deutschen Wuotanspriesterschaft, Berlin/Zürich/Leipzig 1893
**** Die Armanenschaft der Ario-Germanen, Zweiter Teil, Leipzig/Berlin 1911