Merkwürdige Zeichnung in Handschrift der Fredegar-Chronik?

CaptainJack

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Hallo,
aus ganz unhistorischen Gründen (Suche meiner Frau nach Geburtstagsgeschenk für mich) bin ich heute nochmal über den wikipedia-Eintrag zu "Fredegar" gestolpert. Mir ist bisher nie aufgefallen, was für eine Abbildung aus den Handschriften da gezeigt wird. Ich poste das Bild hier mal, es ist als "gemeinfrei" angegeben, sollte also okay sein.
Chronique_de_Frédégaire-deux_personnages.jpg

Bei der Beschreibung der Datei ist angegeben (englisch): "The drawing comes from manuscript BNF MS Latin 10910 on Folio 23 verso. Monod (1885, Fn 1 p. 25) in his publication of the Latin text, suggested that it probably represents Eusebius and Jerome. The text in quasi Greek lettering has been transliterated on the drawing as "Cronicorum multiplicem ediderunt istoriam". This phrase is taken from the preface of the Chronicle of Isidore of Seville.(Goffart 1963, p. 211)."

Ja gut - aber was ist das in der Mitte? Was kann das in der damaligen Vorstellunsgwelt sein? Oben eine Taube (Heiliger Geist kommt mir natürlich sofort in den Sinn) - ein Flügel auch zu erkennen. Aber mit Beinen? Und im Stechschritt? Der Flügel scheint noch in einen Arm überzugehen, der wiederum ein Herz hält. Dann hat die Gestalt scheinbar auch noch einen Penis. Oder ist das ein Finger der Hand?
Wisst Ihr, was das ist?
Viele Grüße
 
Das scheint man nicht zu wissen. Hier wird die Figur lediglich als "Hybrid-Wesen" bezeichnet:
Consultation

Dass man die Figur als Vorläufer der in der gotischen Buchmalerei üblichen Drolerien interpretieren kann, halte ich für unwahrscheinlich (der zeitliche Abstand scheint mir zu gross).

Mir fehlt zwar jegliches Wissen bet. Kunstgeschichte, ich meine aber eine gewisse Ähnlichkeit mit den Darstellungen in der Apokalypse von Beatus von Liéana festzustellen - und dort existieren auch solche "Hypbid-Wesen" (was bei der Apokalypse allerdings auch naheliegend ist).

Vielleicht findest Du ja irgendwo in der franz. Nationalbibliothek eine Interpretation des Bildes, dort wurde jedenfalls die ganze Pseudo-Fredegar digitalisiert (Bei der Abbildung handelt es sich um das Foglio 23).
Frédégaire , Chronique .
 
Ja gut - aber was ist das in der Mitte?
Es lassen sich folgende Punkte über die Figur in der Mitte sagen:
• Sie ist deutlich kleiner als die beiden anderen Figuren. Sie ist zwar weniger wichtig/verehrenswert, aber zentral, wie auch die Schriftrollen [Interpretation: als sei sie aus ihnen herausgefallen.]
• Sie ist im Profil abgebildet; kommuniziert nicht direkt mit dem Zeichner/Betrachter, sondern agiert, und zwar mit großem Schritt, d.h. sie geht. [Int.: wie die Zeit]
• Sie weist zwar paar menschliche Merkmale auf (aufrechte Haltung, {linker} Fuß, Nase und Mund, dargestellt sehr wahrscheinlich durch die drei Zacken am Kopf), aber auch Flügel, d.h. sie ist weder Mensch noch Tier. [Int.: sie könnte die Psyche, Seele, oder generell die Natur symbolisieren…]
• Ihre Flügel sind irgendwie am Geschlechtsteil verwurzelt, das sittlich vom rechten, gehobenen Schenkel verdeckt wird. [Int.: die Seele ist laut Anakreon verantwortlich für den Geschlechtstrieb, was wiederum auf die Identität der Figur als Seele/Psyche deutet, resp. stellvertretend für Alles Animalische, für Alles Irdische.]
• Sie trägt ein Halsband.(!) [Int.: eindeutiges Symbol des Irdischen/Animalischen, das im Zaum gehalten werden muss, wie bspw. an Affen auf mittelalterl. Darstellungen, welche die irdischen Eigenschaften im Menschen, wie den Trieb, die Begierde/Maßlosigkeit verkörpern.]

Die Figur steht also (vmtl. generell) für das Irdische (im Gegensatz zu den beiden Heiligen). Ich würde sogar weitergehen, und meinte, für den Inhalt der Schriftrollen, da sie sich bewegt, d.h. sie ist der Akteur.
 
Hallo,
das sind ja sofort klasse Analysen, die hier kommen. Vielen Dank dafür.
@Mashenka
Scheint mir sehr schlüssig, bis auf Eines: Bei dem "Halsband" habe ich sofort an eine Ringeltaube gedacht:
Ringeltaube – Wikipedia
Die habe ich glücklicherweise jeden Tag im Garten vor Augen. Ob der Heilige Geist öfter als Ringeltaube oder als graue oder weiße dargestellt wird, weiß ich nicht, da es mir wie Armer Konrad geht und ich kunstgeschichtlich ziemlich unbeleckt bin.
 
Bei dem "Halsband" habe ich sofort an eine Ringeltaube gedacht:
Dass speziell die Ringeltaube als Allegorie für den heiligen Geist gedient haben soll, ist mir nicht bekannt, wäre aber je nach Bildautor nicht unmöglich (obschon der Heilige Geist auch im MA häufig als weiße Taube dargestellt wurde). Fürchte aber, dass die Figur auf der Darstellung recht ungünstig positioniert ist, um als Heiliger Geist durchzugehen.
 
Fürchte aber, dass die Figur auf der Darstellung recht ungünstig positioniert ist, um als Heiliger Geist durchzugehen.
...ich fürchte da, dass nicht nur die Positionierung das verhindert...

Illustrationen, Zeichnungen aus der Zeitspanne Spätantike, Frühmittelalter, Barbarenepoche sind rarer gesät als aus dem Hochmittelalter (Manesse etc) - und zugleich sind sie uneinheitlich bzw stilistisch kaum einzuordnen. Es findet sich verstreut heterogenes Material: mal quasi Kopien byzantinischer und sogar spätrömischen Gestaltung, mal eigenartig "frühexpressionistische" Skizzierungen,mal unbeholfen erscheinende Ornamentalisierungen (für uns heute so erscheinend, man denke an franks cascet etc)) im Tagungsband Frauen im frühen Mittelalter findet sich faszinierendes Bildmaterial aus dem 7.-10. Jh.

...hier aber bin ich ratlos. Die beiden menschlichen Gestalten in ihrer darstellungsmässigen zeittypischen upper class Tracht (un poco byzantinisierend) sind nicht ungewöhnlich für die Zeit. Aber der völlig missratene Piepmatz (? was könnte das sonst sein? Die Bundeslade??) zwischen beiden wirkt absurder und bescheuerter, als selbst die ulkigen Darstellungen von Fantasiegeschöpfen in diversen Notger Illustrationen! Sorry... ich habe bislang noch nichts in Zeichnungen gesehen, was noch dämlicher und misslungener wäre... der Piepmatz hier ist für mich phänomenal daneben!
Mein Blick, meine Perspektive mag voreingenommen oder falsch sein (ich halte das für schlichtweg misslungen) - gibt es vergleichbare Darstellungen aus dem frühen Mittelalter?
Das merkwürdige ist ja: die beiden Portraits, die beiden Trachten sind zeittypisch in Gestaltung, Darstellung und Ausarbeitung - aber der Stechschritt-Piepmatz fällt völlig aus dem Rahmen...
 
Glaube ich nicht - denn dann müsste auf der Seite 184v ebenfalls eingefügt worden sein - dort ist eine ähnliche Hybridfigur zu erkennen.
Ob nachträglich eingefügt oder nicht, sei dahingestellt, jedenfalls aber vom gleichen Bildautor. Vgl. dazu Folio 77v, und zwar das ›Flügelchen‹, das links im Bild, sagen wir mal unverbindlich, die ›Kanzel‹ ziert. Die Strichführung entspricht ziemlich genau dem Flügel der Personifizierung des ›[erzählten] irdischen Lebens‹ (um meine obige Deutung zu wiederholen…).

Bemerkenswert ist der offensichtliche Glaube des Hoch- und Spätmittelalters, dass ein Bild – hier sogar eine Figur(!) – sich quasi selbst durch übergeordnete Aussagen zusammenkomponiert; eine Art von Nacheifern der (göttlichen) Schöpfung der Welt, wobei alles seinen Grund hatte.

PS @ dekumatland: in der Unvollkommenheit der Figur könnte man auch die Demut des Bildautors sehen, der sich mit seiner ›Schöpfung‹ ganz offensichtlich eben nicht mit Gott messen will. ;)
 
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