Frage zum Holocaust

I

Interessierter

Gast
Werte Forengemeinde,

in der aktuellen ZDF Dokureihe-Die Wahrheit über den Holocaust- wird behauptet, daß die Nazis ursprünglich nicht die Vernichtung der Juden im Blick hatten, sondern die Vertreibung aus Deutschland.
Viele jüdische Bürger haben die Zeichen in Deutschland erkannt und konnten fliehen, doch viele Länder in Europa und der Welt haben sich verweigert, Flüchtlinge aufzunehmen.

Hat diese Fremdenfeindlichkeit einen Zusammenhang, dass aus der Vertreibung der jüdischen Bürger aus Deutschland nun der Plan der Nazis entstand, die Juden gänzlich zu vernichten?

Würde mich über offene Worte dazu freuen.
 
Man muss den Holocaust als Genese verstehen. Man hat seit 1933 die Juden ganz allmählich entrechtet. Eine der ersten offiziell staatlichen Maßnahmen gegen die Juden war ein Gesetz mit dem harmlosen Namen Gesetz zur Wiederherstellung des Berufsbeamtentums. Damit wurden Juden (aber auch Leute, die in Gegnerschaft zu den Nazis standen) aus dem Staatsdienst entfernt. Gerade mal drei Monate nach der Machtergreifung. In den folgenden Jahren bis zur Reichspogromnacht wurden Juden Schritt für Schritt entrechtet. Ihnen wurde das Recht entzogen, Auto zu fahren, ins Kino zu gehen, ein Haustier zu besitzen, sich eine Parkbank zu setzen, den Park überhaupt zu betreten etc. So wurden die Juden peu a peu aus dem öffentlichen Leben verdrängt. 1938 nutzten die Nazis dann die Gunst der Stunde, als in Paris das Attentat von Hermann Grynszpan am Botschaftsattaché Ernst vom Rath verübt wurde, an den Juden Rache zu nehmen. Die Polizeien und Feuerwehren wurden angewiesen, nicht gegen Plünderer vorzugehen und das Feuer brennender Synagogen nur in soweit in Schach zu halten, dass es nicht "arischen Besitz" zerstörte. In den folgenden Tagen kamen zehntausende jüdischer Männer (eigentlich fast alle jüdischen Männer, die in Dtld. lebten) in die KZs Sachsenhausen, Buchenwald und Dachau, die auf diesen Ansturm bereits vorbereitet waren. So hatte es einige Wochen vor den Novemberpogromen den Befehl gegeben, Häftlingskleidung mit Judensternen vorzubereiten. Man nannte das dann "Schutzhaft". Hier kam es zu den ersten Morden an Juden allein weil sie Juden und nicht etwa einer sonstigen Gruppe angehörten im KZ. Die Juden sollten solange im KZ verbleiben, bis sie durch die offiziell "Judenvermögensabgabe", gerne auch als "Sühneleistung" tituliert, eine Milliarde Reichsmark an den Staat gezahlt hätten. Da solche Geldwerte überhaupt nicht zur Verfügung standen, war das natürlich eine Farce, die mit dem Vorurteil, Juden seien besonders reich, spielte. Im Sommer 1939, also nach mehr als einem halben Jahr KZ kamen die meisten Juden wieder frei.
Ein weiteres Moment der Verrohung hatte es aber bereits vor dem Mord Grynszpans an vom Rath gegeben, was gewissermaßen der Auslöser der Tat Grynszpans war: Man hatte in Polen geborenen Juden die deutsche Staatsbürgerschaft aberkannt bzw. Juden polnischer Staatsbürgerschaft und solche ohne Staatsbürgerschaft nach Polen ausgewiesen. Polen wiederum ließ diese nicht einreisen, Nazideutschland nahm seine ausgebürgerten Bürger nicht wieder zurück. Und so saßen diese Menschen ohne Nahrung auf einem Bahnhof fest, bis aus Warschau die Anweisung kam, sie doch einreisen zu lassen.
Während des Krieges wurde dann ganz massiv Propaganda gemacht. Man führte ja einen Weltanschauungskrieg und erzählte den Soldaten, Polizisten etc. immer wieder, dass der Widerstand, der gegen die deutschen geleistet würde, von den Juden käme. Also hat man irgendwann angefangen, jüdische Männer zu erschießen, so zwischen Beginn der Pubertät bis zum Tattergreis. Dann hat man irgendwann angefangen, die Frauen zu erschießen, denn auch Frauen können ja theoretisch eine Waffe benutzen. Und plötzlich fühlt sich eine Wehrmachtseinheit vom Geschrei unversorgter Kinder in der Nähe ihrer Kaserne gestört, das Ganze nimmt seinen behördlichen Gang und jetzt beginnt man, Juden beiderlei Geschlechts und aller Altersgruppen zu ermorden. Da man aber feststellt, dass es sowohl technische (Gewehrläufe laufen heiß) als auch psychologische Probleme (die liegen wohl auf der Hand) gibt - mittlerweile hat auch die planmäßige Deportation von Juden aus dem Reichsgebiet nach Osten begonnen und man weiß gar nicht, wohin mit den ganzen Menschen - versucht man die technischen und psychologischen Probleme in den Griff zu bekommen und fängt an mit verschiedenen Methoden zu experimentieren. Zunächst hat man versucht, die Menschen via Verbrennungsmotoren mit Kohlenstoffmonoxid/Abgasen auf den Ladeflächen präparierter LKW zu ersticken, später hat man dieses Prinzip dann im KZ Treblinka weiter umgesetzt. Weniger problematisch aus Sicht des Reiches war dann die Ermordung der Menschen via Zyklon B, was in Auschwitz gemacht wurde.
Die Idee, die Juden nach Madagaskar umzusiedeln war - mal abgesehen davon, dass Rassimus das schon per se ist - wahnwitzig. Noch 1939 hätten wohl die meisten, die in den Folgejahren in irgendeiner Form an der Ermordung der Juden und anderer verfolgter Gruppen beteiligt waren, wenn man ihnen das vorausgesagt hätte, zurückgewiesen, wahrscheinlich selbst viele der späteren Überzeugungstäter. Was aus meiner Sicht aber heute ganz besonders wichtig zu wissen ist, ist, dass viele der Täter gar keine unbedingten Überzeugungstäter und Antisemiten waren. Das entlastet sie nicht von ihrer Schuld, sondern legt im Gegenteil uns Nachgeborenen die Pflicht auf, ganz genau zu schauen, wohin sich unsere Gesellschaft entwickelt. Man wird schneller zum Täter, als man denkt.
 
Nur als kleine Ergänzung:

Es gibt NS-quellenseitig nicht den geringsten Hinweis, dass die "Fremdenfeindlichkeit" der Länder, die von jüdischer Vertreibung aus Deutschland betroffen waren (etwa durch verweigerte Aufnahme von Emigranten), irgendeine Bedeutung für die Genese des Massenmordes im Nationalsozialismus hatte.

Der erste Massenmord geschah in Polen 1939/40, durch die frühen Einsatzgruppen.

Eine halbe Million Menschen wurde sodann durch Einsatzgruppen in der SU 1941/42 während der Frühphase des Russlandfeldzuges im Rückraum der Front ermordert.

Diese hunderttausendfachen Morde -bereits während des Krieges - haben nichts mit einer Weigerung anderer Länder zu tun, jüdische Flüchtlinge aufzunehmen. Der Millionenmord schloss sich dann an.
 
Ein Drama an der Vertreibung der Juden aus Deutschland war, dass viele ins Exil getriebene wenige Jahre später durch dem Vormarsch der Wehrmacht wieder unter die Herrschaft der Deutschen gerieten. Bekanntes Beispiel ist Anne Frank. Deren Familie ging in die Niederlande, während ein anderer Familienzweig in der Schweiz lebte. Die einen wurden weitgehend umgebracht, die in der Schweiz lebenden Verwandten überlebten.

Hat diese Fremdenfeindlichkeit einen Zusammenhang, dass aus der Vertreibung der jüdischen Bürger aus Deutschland nun der Plan der Nazis entstand, die Juden gänzlich zu vernichten?
Der historischen Korrektheit weise ich darauf hin, dass es nicht um Fremdenfeindlichkeit ging. Der Antisemitismus ist nicht fremdenfeindlich, sondern rassistisch. Die Nazis hassten Juden, deren Vorfahren mehrere Hundert Jahre in Deutschland gelebt hatten. Das waren keine Fremden.

https://de.wikipedia.org/wiki/Mendelssohn_(Familie)

https://de.wikipedia.org/wiki/Sal._Oppenheim
 
Der historischen Korrektheit weise ich darauf hin, dass es nicht um Fremdenfeindlichkeit ging. Der Antisemitismus ist nicht fremdenfeindlich, sondern rassistisch. Die Nazis hassten Juden, deren Vorfahren mehrere Hundert Jahre in Deutschland gelebt hatten. Das waren keine Fremden.

Völlig richtig. Es ist aber vermutlich nicht Deutschland gemeint.

Der Fragestelller spricht den Fall von Fremdenfeindlichkeit an, der sich auf die potenziellen Aufnahmeländer von den aus Deutschland vertriebenen Juden bezieht.
Konferenz von Évian – Wikipedia
Niemand wollte sie
 
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